Feature: Schätzung der Welt – Wie retten wir einen Planeten ohne Wert?

Von Vireo @VireoTeam

Prof. Dr. Bernd Hansjürgens. (c)ufz.de

Der Hörsaal im Audimax füllt sich. Viele junge Gesichter von Studenten, aber auch gereifte Mienen erwarten die Vorlesung von Prof. Bernd Hansjürgens zum Thema “Der Wert der Natur” im Rahmen der ASQ Nachhaltigkeit.
“Weil sie es uns wert ist”, korrigiert er den Titel kurz darauf. Denn das sollte die Natur – es uns wert sein. Mit seiner kurz geschorenen Mähne wirft der Diplom-Ökonome diese zentrale Frage auf. Ist sie uns überhaupt etwas wert?

Der Mann vom Helmholtz-Zentrum für Umwelt-forschung könnte Arzt sein, denn nach den Symptomen der Krankheit stellt er eine Diagnose. Aber bietet keine Therapie. Denn so einfach ist das nicht: Was ist eigentlich … der Wert der Welt?

Wir sehen in der Welt einen Wert, wenn wir Bodenschätze fördern. Das ist hartes Rechnen mit Zahlen. Aber geht es um die Erhaltung der viel beschriebenen Biodiversität, dann tun wir uns schwer. Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass der Verlust der biologischen Vielfalt bis zum Ende des 21. Jahrhunderts etwas ein Drittel aller Arten umfasst. Das ist eine 100 mal höhere Aussterberate, als es die Natur jemals geschafft hat. Doch geht dabei ein Wert verloren – etwas Wertvolles? Kann man berechnen, wie groß der volkwirtschaftliche Schaden beim Aussterben einer Grashüpfer-Art ist?

Diagnose: Warum hat die Welt keinen Wert?

Man stelle sich eine neue Flut vor. Die Arche muss gebaut werden und nur das Wichtige darf mit. Doch dann steht der Mensch am Bug und ruft den Tieren zu, dass kein Platz mehr sei. Das Geld fülle schon jede Nische im Schiff aus.
Was wie ein makabrer Scherz klingt, ist ökonomische Realität. Die Natur hat keinen Wert, muss also draußen bleiben. Das kommt unter dem Strich der Ökonomen heraus, die damit einen großen Rechenfehler machen!

Wäre das in einem normalen Unternehmen passiert, müsste es eine Betriebsprüfung über sich ergehen lassen. Das Naturkapital wird nämlich gern heruntergerechnet. Die Pflanzen, Tiere – die ganze Biodiversität spielt für viele Betriebswirte nämlich gar keine Rolle. Für sie ist nur das Humankapital wichtig – das, was der Mensch direkt nutzen kann.

Die Stadt Halle hat 2013 erstmals eine Bestandsprüfung durchgeführt, die ergab, dass die Stadt über 2 Milliarden Euro wert ist. Was hereingerechnet wurde: Verkehrsinfrastruktur, bebaute und unbebaute Flächen, Gebäude, Mobiliar und sogar die Amtskette des Oberbürgermeisters – exakt 1 Euro (siehe hier).
Was vergessen wurde: Die Natur- und Grünflächen. Parkflächen, Grünanlagen – selbst der Botanische Garten oder der Stadtpark. All das wurde nicht berücksichtigt. Zwar ihre Grundstücke, aber nicht die Flora, die darauf wächst. Das ist ein Grundproblem der Betriebswirtschaft: das blinde grüne Auge.

Die verfügbaren natürlichen Ressourcen werden als gegeben gerechnet. Man zahlt ja nichts für Öl, Gas, Holz und so weiter. Man zahlt nur etwas für ihre Förderung. Ein Land hat nur begrenzte verfügbare Ressourcen. Ist der ökologische Fußabdruck kleiner als die Ressourcen, kann das Land langfristig überleben. Spanien, Griechenland, Portugal und Italien haben beispielsweise einen ökologischen Fußabdruck, der viel größer ist als die verfügbaren Ressourcen. Liegt hier ein Grund für die Wirtschaftskrise dieser Nationen?
Vielleicht, doch die falsche Berechnung eines Wertes ist das eigentlich Grundproblem. Wie löst man nun diese Gleichung?

Therapie: Wie wir die Welt wieder wertvoll machen

Indonesien ist der flächenmäßig größte Inselstaat der Welt. Seine Bevölkerung ist die viertgrößte unseres Planeten. Von seinen 17.000 Inseln sind über 6.000 bewohnt. Und auf unzähligen dieser Inseln wachsen Mangroven. Diese salzbeständigen Bäume bilden die Grundlage für eigene Ökosysteme und dienen dem Erhalt mancher Inseln und der biologischen Vielfalt auf diesen Inseln.

Mangrovenwälder sind in vielen Teilen der Welt anzutreffen, hier in Mexiko. (c)commons.wikimedia.org

Das Problem des Ökosystems Mangrove ist, dass es in Indonesien keinen Wert hat. Die Shrimpszucht jedoch bringt bares und hartes Geld ein und ist ein großer Wirtschaftsfaktor – angeblich.
Farmen zur Shrimpszucht gibt es auf vielen Inseln. Dazu werden die Mangrovenwälder gerodet, die Wasserfarmen aufgebaut und nach ein paar Jahren wieder aufgegeben, weil die Fläche unnütz geworden ist. Man zieht weiter und hinterlässt verödete Erde. Doch das sei nicht schlimm, denn der Wald besitzt ja keinen Wert – angeblich.

Die Wissenschaftler Hanley und Barbier haben 2009 nachgerechnet: Ein Mangrovenwald bietet einen wirtschaftlichen Wert von 584 Dollar bei normaler Nutzung (Fischen, Baumfällen etc.). Die Shrimpsfarm erzeugt einen privaten Gewinn von 9.863 Dollar. Das klingt zunächst viel. Doch der Staat subventioniert die Shrimpszucht in Indonesien gewaltig.
Bereinigen wir die Zahlen, ergeben sich andere Summen: ohne Subventionen beträgt der private Gewinn nur noch 1.200 Dollar zu den 584 Dollar gesellschaftlichem Nutzen. Doch berechnen wir neu und schließen Fischzucht, Holzpreise und so weiter ein – stellen wir also eine Vermögensbilanz des Waldes auf – steigt der Wert für die indonesische Gesellschaft auf über 10.000 Dollar.

 Ökonomischer Gesamtwert

Der Wert eines Gutes und sein Preis sind völlig verschiedene Dinge. Alles geht zurück auf Adam Smith, den britischen Urvater der klassischen Nationalökonomie. Der gelehrte Herr stellte einmal einen schönen Vergleich an: Diamanten haben einen hohen Preis – denn sie werden hoch ge- und verkauft. Aber wie hoch ist ihr Wert, wenn man einen Diamanten in der Wüste herumschleppt? Dort wäre Wasser, das normalerweise einen sehr geringen Preis erzielt, plötzlich wertvoller als ein Diamant.
Der Preis mag zwar fest sein, aber er koppelt sich an den Wert, den wir einem Gut zuschreiben. Das zeigt sich am besten bei so genannten Sammelobjekten wie Briefmarken. Die Blaue Mauritius hatte zu ihrer Zeit einen Preis von 1 Penny. Doch weil Sammler ihr so einen großen Wert beimessen, liegt ihr Preis heute unsagbar viel höher.

Ein Wert ist alles, was dem Menschen nützt. Das kann ein direkter Nutzen sein – Nutzpflanzen wie Kartoffeln und Getreide, Früchte wie Äpfel oder Kirschen, Aquakulturen von Algen oder Fische und so weiter. Das kann auch ein indirekter Nutzen sein – Erholung, Wohlbefinden oder Forschung. Wir zahlen für Urlaubsorte an tropischen Stränden, für Besichtigungen in Museen oder für Theaterkarten, obwohl wir keinen direkten Gegenwert erhalten. Doch wir messen diesen Dingen Wert bei.
Dann gibt es noch das abstrakteste Konzept: den Optionswert. Pharma-Unternehmen kaufen häufig Landstücke in den tropischen Regenwald, weil sie glauben , dass dort noch unentdeckte Pflanzen oder Insekten leben könnten. Pflanzen oder Insekten, aus denen man neue Medikamente oder Heilmittel gewinnen kann. Allein die Mutmaßung, dass dort etwas Wertvolles sein könnte, führt zu hohen Preisen.

Doch der monetäre Wert eines Gutes ist nur die Spitze des Eisbergs – neben den genannten Werten gibt es auch nicht nutzungsabhängige Werte: Vermächtniswert, altruistischer Wert, Existenzwert sind Schlagworte, die hier Verwendung finden. Sie sind etwas abstrakter und vielleicht daher ein Grund, warum Ökonomen seltener mit ihnen rechnen.

 Warum wir Gebiete schützen und es nicht vergessen sollten

Naturschutzgebiet Laguna de Rocha Argentinien. (c)commons.wikimedia.org

Schutzgebiete kosten und bringen nichts, so behaupten viele. Zurzeit kostet die Betreuung der weltweiten Schutzgebiete von Parks bis zu Waserflächen rund 6 Milliarden Dollar – für eine effektive Betreuung müssten es eigentlich 45 Milliarden Dollar sein.

Doch würden die Schutzgebiete wegfallen, lägen die Folgekosten wesentlich höher. Fehlen die Wälder würden sich Wüstenflächen stärker als bisher ausbreiten, fehlte es vermehrt an Bau- und Ackerland und könnten Stürme unerahnte Stärken annehmen. Fehlende Wasserschutzgebiete verursachen höhere Einzelkosten, weil Fischerboote größere Routen fahren müssten, Fische seltener würden und am Ende Kriege um Fanggebiete geführt werden.
Ohne Schutzgebiete würden die weltweiten Kosten 4.500 bis 5.200 Milliarden Dollar steigen – mehr als das Hundertfache einer effektiven Betreuung. Damit liegt auch der volkwirtschaftliche Nutzen klar: Ein ausgegebener Dollar zur Betreuung eines Schutzgebietes spart 100 Dollar, die für Folgeschäden ausgegeben werden müssten.
Der Staat müsste hier subventionieren. Zum Vergleich: Jährlich wird die konventionelle Landwirtschaft mit über 360 Milliarden Dollar staatliche subventioniert.

Nachhaltigkeit sei das Erhalten des Kapitals für künftige Generationen

Der Ausbau von vielen Flüssen wird auch in Deutschland gefordert. Häufig sind es politische Projekte, die Geltung verschaffen sollen. Die Flüsse werden begradigt, damit das gesamte Jahr Schiffe auf ihnen fahren können und die Feuchtgebiete um die Flüsse herum werden trockengelegt. Trockengelegte Auen sind im ersten Moment eine gute Sache: Sie bedeuten Flächengewinn, neues Bauland, mehr Möglichkeiten für Verkehrsinfrastruktur. Doch was nicht berücksichtigt wird sind die Folgekosten: der Verlust von Biodiversität lässt Schädlinge sich unkontrolliert vermehren, eine verminderte Nährstoffretention führt zu schlechterer Lebensqualität und starke Regen oder Tauwasser gefährden ganze Regionen durch Überflutungen.

Bei Entscheidungen dominieren nach wie vor betriebswirtschaftliche Sichtweisen und eingeschränkte Blickwinkel von Ökonomen, keine gesamtgesellschaftlichen Perspektiven.

Warum werden Ökosysteme bei Entscheidungen immer ver- nachlässigt?

Honigbienen als Symbol für die Natur. (c)Cyril Blazy, fotopedia.com

Das merkwürdige Bienensterben hat uns in der Öffentlichkeit langsam auf den Wert von Ökosystemen sensibilisiert. Ein einzelner Bienenstock in der Schweiz erzeugt im Jahr Honig im Wert von 255 Schweizer Franken, aber über 1.260 Franken durch Bestäubung von Obstblüten.
Was ist eine Stadt wert? Urban Gardening und Guerilla Gardening zeigen: sie kann ihren Bewohnern sehr viel wert.

Lord Stern hat im Auftrag der britischen Regierung einst eine Studie erstellt, die ergab, dass in 100 Jahren 3 – 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts nur zur Beseitung Klimaschäden ausgegeben werde. Es wird Zeit, dass etwas unternommen wird, nicht nur durch einzelne Aktionen wie der Potsdamer Initiative.

Professor Hansjürgens schließt mit diesen eindringlichen Worten und wir bleiben zurück und fragen uns nicht mehr, ob die Welt einen Wert hat. Vielmehr: Wie kann man diesen Wert sichern?