Faul?

“Keine Matur mehr für Faulpelze” lautete vergangene Woche der Titel eines Artikels in der “NZZ am Sonntag”. Im Artikel ging darum, dass Schüler ihre mathematischen Abstürze nicht mehr durch Glanzleistungen in anderen Fächern kompensieren können. Was bedeuten würde, dass man Leuten wie mir kein Maturazeugnis mehr aushändigen würde. Ich konnte es nicht über mich bringen, den Artikel zu lesen, der Titel allein liess die alte Geschichte wieder in mir hochkommen.

Ich sah mich wieder am Pult der Primarlehrerin stehen, vor ihr das Blatt mit meiner ersten Ungenügenden. Was da schief gelaufen sei, wollte sie wissen. Ich konnte es ihr nicht erklären, das mit dem Minus wolle mir halt einfach nicht so recht in den Kopf gehen. Ihre Versuche, mir das Rätsel begreiflich zu machen, scheiterten, doch das spielte bald keine Rolle mehr, denn ich hatte ja trotz mittelmässiger Mathenote den Übertritt an die Bezirksschule geschafft.

Dort quälte man die Schüler zuerst einmal mit dem Zweiersystem, denn damals glaubte man noch, jeder der einen Computer bedienen wolle, müsse das binäre Zeugs beherrschen. Ich beherrschte es nicht, schrieb eine Ungenügende nach der anderen und bald war ich verzweifelt genug, um mit meinen Fragen an den Mathelehrer zu gelangen. Der wollte meine Fragen allerdings nicht beantworten, sondern stellte bloss fest, ich sei gar nicht so schlecht geraten und schielte in meinen Ausschnitt. Dann empfahl er mir einen Besuch beim Schulpsychologen, was mich zutiefst beleidigte. Das mit dem Fragen liess ich nach dieser Episode lieber bleiben.

Von da an hatte ich das Gefühl, Mathematik ginge mich nichts an und da meine Schwestern mathematisch ähnlich unbegabt waren wie ich, schrieb ich meine Unfähigkeit in pubertärer Naivität einzig und allein den Genen zu. Der hochbegabte Pädagoge, von dem im oberen Abschnitt schon die Rede war, bestätigte mich in meiner Haltung, indem er bemerkte, ich sei zu wohl dumm, um Krankenschwester – sorry, so nannte man das damals noch – zu werden. Nun, ich war immerhin dumm genug, ihm zu glauben, ich sei dumm und von dieser neu gewonnenen Überzeugung konnte mich auch ein ganz passables Resultat bei der Abschlussprüfung, die mir den Übertritt ans Gymnasium ermöglichte, nicht mehr abbringen.

Am Gymnasium verschafften mir meine mangelhaften Mathematikkenntnisse zum ersten und bisher einzigen Mal einen Vorteil. “Meiner”, den das Schulsekretariat in die gleiche Klasse eingeteilt hatte, erkannte nämlich auf den ersten Blick, dass man ganz weit hinten anfangen musste, wenn man meine mathematischen Lücken auffüllen wollte. Erstaunlicherweise übernahm er diese Aufgabe ganz gerne und so sassen wir Samstag für Samstag nach dem Unterricht – ja, liebe Kinderlein, damals war samstags noch Schule – in der fast leeren Mensa und kämpften uns durch den Stoff, den mir der Superpädagoge an der Bezirksschule hätte vermitteln müssen.

Glaubt mir, ich benutzte die samstäglichen Nachhilfestunden nicht alleine, um “Meinem” näher zu kommen. Ich gab wirklich alles, um zu verstehen, worum es ging, büffelte stundenlang. Ich gestaltete mein Mathematikheft so bunt, dass mein Gehirn endlich einen Zugang zu den Formeln finden konnte und setzte mich damit dem Spott meines neuen, pädagogisch ansonsten deutlich begabteren Mathelehrer aus. “Kindergarten-Zeichnungsheft” nannte er mein farbenfrohes Theorieheft, aber das war mir egal, denn immerhin gelang es mir so, einen besseren Überblick zu erlangen.

Mit der Zeit erkannte ich, dass die Mathematik durchaus eine faszinierende Sache ist, die ich ganz gerne verstehen möchte. Manchmal verstand ich sie sogar, einmal schrieb ich eine fast genügende Note und hin und wieder erklärte ich einer mathematisch auch nicht sonderlich begabten Mitschülerin, wie es geht. Leider zahlte sich mein Einsatz nicht aus, bei Prüfungen versagte ich weiterhin kläglich. Oft warf ich das wertlose Papier unter Tränen in den Abfalleimer, aus dem es “Meiner” Momente später wieder herausfischte, um mit dem Lehrer um halbe und Viertelpunkte zu feilschen.Trotz aller unserer Bemühungen quälte uns beide vor jedem Zeugnis die bange Frage, ob mich die Mathenote aus dem Gymnasium schmeissen würde. Gott sei Dank war ich nicht nur mit einer grandiosen Unfähigkeit gestraft, sondern auch mit einigen Fähigkeiten gesegnet, weshalb ich nach vier Jahren des Kämpfens mit dem Maturazeugnis den Beweis in den Händen hielt, dass ich vielleicht doch nicht ganz so dumm bin, wie mir mein Lehrer einst gesagt hatte.

Diese Geschichte kam in mir hoch, als ich über den Titel mit den Faulpelzen stolperte und ich muss gestehen, dass es weh tat, diese Worte zu lesen. Ich will mich nicht zu jenen Menschen zählen, die Jahre später noch in der Opferrolle bleiben und mir ist auch klar, dass ich einige Dinge hätte besser machen können, aber lesen zu müssen, dass jemand, der nicht rechnen kann, faul ist und keine Matura machen soll, war ähnlich schmerzhaft, wie mir anhören zu müssen, ich sei dumm.

Schmerzhaft vor allem auch darum, weil einige unserer Kinder zwar sprachlich ganz vorne mitmischen, in der Mathematik aber ähnlich zu kämpfen haben wie ich. Mir war es immerhin noch möglich, trotz meiner Unfähigkeiten die Matura zu machen, was aber ist mit ihnen?

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