Genau so hätte es sein können: Susanne will mehr erfahren über das Leben ihrer Großmutter, doch alles Fragen nutzt nichts – ihre “Ome” Rosa hüllt sich in Einsilbigkeit. Sicher, es gibt Fragmente die hier und da Spuren legen: Postkarten und alte Fotografien – wie die von Lionel, dem Löwenmensch – außerdem Erzählungen von anderen Verwandten und in ganz wenigen Momenten auch verräterische Ausrufe oder kurze Erinnerungen der Großmutter. Doch ihre Träume und Wünsche, aber auch die Schrecken eines augenscheinlich “einfachen” Lebens bleiben tief im Verborgenen.
Erst recht, als die Demenz immer mehr Besitz von der alten Frau ergreift. So bleibt Susanne im großen Ganzen allein mit ihrer Spurensuche. So allein, wie sich die Großmutter mit ihrem Innenleben vermutlich fast ein Leben lang gefühlt haben muss. Warum sonst taucht eine Krankheit immer mehr von diesem scheinbar emotional kargen Leben ins Vergessen, kapselt die alte Frau regelrecht von ihrer Umwelt ab?
Und während die Enkelin ihre immer befremdlicheren Begegnungen mit der demenzkranken Großmutter beschreibt, nähert sich ein – vermutlich – fiktiver Erzählstrang der Gegenwart, schwappt hier und da ins Zimmer der alten Dame und zeichnet eben: “Fast ein Leben”
Kurze Momente voll Situationskomik und herzlicher Fürsorge weichen immer öfter einem verstörten Erschrecken und der Ohnmacht. Hat die Großmutter sie auch gespürt, diese Ohnmacht, als sie zwei ihrer Kinder verliert? Vermutlich weiß es nicht mal der Pfarrer, zu dem Rosa immer beichten ging.
So hätte es sein können, als die Großmutter noch ein Kind war. Oder später, als sie bei den Kornreichs als Mädchen “in Stellung war”, also gemeinsam mit Margret den Haushalt machte. Als sich die junge Rosa auf dem Wasen zum ersten Mal verliebte und dieses Gefühl – wie die meisten anderen Gerühle auch – so erfolgreich unterdrückte und verdrängte, dass sie selbst nicht daran glaubte. Oder als Rosa ungewollt, unglücklich und unehelich schwanger wird.
So hätte es sein können, als Rosa mit ihrem Ehemann Heinrich später in ihre erste eigene Wohnung zog. Das viel zitierte Leben zwischen Kinder, Kirche und Küche führte. Im Zweiten Weltkrieg das Leben zusammen hält und ihrem Mann die Kriegsgefangenschaft nicht “verzeihen” kann. Und immer wieder Angst hat – vor den Nachbarn, vor dem Herrgott, vor gesellschaftlicher Ächtung. Vernunft ist für Rosa fast ein Leben lang das Einzige, das zählt. Vernunft, um ja nicht aus der Rolle zu fallen. Vernunft aber auch, um bei all den traumatischen Erlebnissen nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Vernunft, um zu Überleben – physisch wie psychisch.
So hätte es sein können – oder auch anders. “Fast ein Leben” entwickelt sich über scheinbar beliebige erste Seiten zu einem packenden Roman, in dem vieles unklar bleibt und doch alles gesagt wird: Petra Mader erzählt so unmittelbar lebendig und liebevoll wie schonungslos von einer Generation, die sich selbst verschwiegen hat. Und wohl bald in Vergessenheit gerät. Nicht nur deshalb ein wichtiges Buch.
Petra Mader “Fast ein Leben”, 176 Seiten, Hardcover, 16 Euro 90, Silberburg-Verlag