So kann es gewesen sein. Aber auch anders. Es wäre selbstverständlich gut möglich, die Abläufe auf Wahrscheinlichkeit und innere Logik abzuklopfen. Deutsche Medien allerdings bevorzugen nach einer Woche mit täglich neuen Räuberpistolen aus der "Luxusvilla" ("Stern"), die selbst in den ostdeutschen Elendsmetropolen Bautzen und Warin wegen Baufälligkeit vor dem Abriss gestanden hätte, die Fortsetzung der frei flottierenden Fantasien von der Terrorfront.
Als Zeugin gerufen wird diesmal Frau Amal Ahmed Abdulfattah Bin Laden, "die den Sturmangriff mit einer Schusswunde im Bein überlebte", wie die Hamburger Morgenpost derzeit gerade sicher weiß. Frau Bin Laden habe der pakistanischen Zeitung "Dawn" zufolge ausgesagt, dass sie sich gerade mit ihrem Mann ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte, als die ersten Schüsse fielen. Das Schlafzimmer, soweit stimmen alle Angaben bisher überein, befand sich im dritten Stock der "Villa". Der Terrorchef "habe noch nach seiner Kalaschnikow greifen wollen", übersetzt die "Morgenpost" den Original-Dawn-Satz "before Osama could reach out for his Kalashnikov" (bevor Osama seine Kalaschnikow erreichen konnte) in einem Anfall von Gedankenrückübertragung. Dann aber seien schon die US-Soldaten in das Zimmer gestürmt.
Natürlich stützt "diese Aussage die Version der US-Regierung, Bin Laden habe verdächtige Bewegungen gemacht und sei daraufhin erschossen worden", wie die "Morgenpost" gestützt auf die mit viel Gestaltungswillen selbstgemachte Übersetzung festlegt. Doch wie stimmig ist die Behauptung? Osama konnte nicht so schnell an seine Kalaschnikow gelangen, wie es die Einsatzkräfte schafften, unter - zumindest kurzzeitigem - Abwehrfeuer im Hof zu landen und - sich dabei gegenseitig Deckung gebend - vom Landplatz hinauf in den dritten Stock zu laufen, während sie unterwegs noch zwei Kuriere/Leibwächter und einen Sohn des Terrorfürsten erschossen, wie der "Focus" in einer Zwischenbilanz festhält.
"Die anderen Kommandosoldaten stürmen das Haupthaus und durchkämmen es systematisch", heißt es da. "Stürmen" steht für schnell, dürfte also vielleiht in den Bereich von etwa 12 Sekunden kommen, die professionelle Treppenläufer für 25 Stufen benötigen könnten. "Durchkämmen" aber macht dieses Tempo zweifelhaft: wer stürmt, durchkämmt nicht, wer durchkämmt, kann nicht stürmen.
Bin Laden, auf neuen Videos mit von tiefem Schweigen unterlegten Jugendbildern Bin Ladens, die das Weiße Haus eben veröffentlicht hat, wirkt der träge vor einer Echtholz-Schrankwand agierende Terrorprophet zwar nicht eben quick und wach. Doch es spricht nichts dagegen, dass es ihm trotz hinderlichem Langkaftan und Schlafzimmerblick gelungen sein müsste, eine selbst am anderen Zimmerende lehnende Kalaschnikow innerhalb von zehn oder zwölf Sekunden zu greifen. Zumal "ein Sohn Bin Ladens" nach dem "Focus"-Protokoll erschossen wird, "als er die Treppe hinunter auf die Soldaten zu rennt" - was diese zumindest für zwei, drei weitere Sekunden gehindert haben sollte, die Treppe hinaufzulaufen.
So stand also Osama Bin Laden, der Weltfeind Nummer 1, gekleidet in einem Schlafsack, in dem 500 Euro und zwei Telefonnummern eingenäht waren, 15 Sekunden wie gelähmt in seinem Schlafzimmer. Fünf Jahre hat er hier verbracht, ohne vor die Tür zu gehen, er ist grau geworden und fleischig im Gesicht, er hat keinen Plasmafernseher und kein Internet, keine Spielkonsole und der beste Anschlag, der ihm noch einfällt, ist ein Attentat auf Reisezüge, wie es die Bahn in Deutschland aller paar Monate selbst begeht. Osama Bin Laden weiß, er ist ein Terrorist von gestern, ein Mann ohne Zukunft, der nicht einmal mehr vor der Videokamera überzeugen kann.
Hat er sich noch von Amal verabschiedet? Gab es einen letzten Kuss? Ein "schau mir in die Augen, Kleines"? Oder gar wirklich ein "Liebling, ich überlege noch, ob ich nach der Kalaschnikow greife"? Taucher des pakistanischen Geheimdienstes suchen momentan nach der Blackbox aus dem Verführerhauptquartier.