Familiensysteme. Ist Blut wirklich dicker als Wasser?

Familiensysteme. Ist Blut wirklich dicker als Wasser?

In letzter Zeit lese ich sehr häufig über das Thema Familie. Sie soll Geborgenheit geben, endlose Nähe und Vertrauen schenken, hier soll man den großen Zusammenhalt spüren können.
Blut ist dicker als Wasser, ist eins der bekanntesten Sprichwörter zum Thema.
Familienfeste, das Treffen im Schutz deiner Nächsten, die Unterstützung bei Problemen - Familie ist das heilige Konstrukt der reinsten Nächstenliebe.
So jedenfalls wird es immer wieder beschrieben, dieses wundersame Familiensystem.

Doch wie so oft sieht die Realität anders aus. Und zwar volle Kanne.

Während sich heutzutage Eltern abmühen, so perfekt wie möglich zu sein und alles in der Entwicklung ihrer Kinder so positiv wie möglich zu gestalten, sei eines gesagt:
Familie wird völlig überbewertet. Das ist mein Ernst.
Egal, was wir auch tun, es wird wahrscheinlich immer das Goldkind und das schwarze Schaf geben.
Es wird Mütter geben, die sind einem Kind mehr hingezogen fühlen als dem anderen.
Vor lauter Scham wird nicht darüber gesprochen.
Im Gegenteil. Meistens wird kompensiert, indem das schwarze Schaf sehr viele materielle Dinge bekommt.
Es kann aber auch anders sein und das unbeliebtere Kind wird als labil, dumm, eigenartig oder hilfsbedürftig dargestellt und behandelt.
Es gibt tausende Geschichten, die ich euch über die hochgepriesene Familie erzählen könnte.
Versteckte subtile Botschaften, feine seidene, kaum sichtbare Fäden, die gesponnen werden. Im Laufe der Zeit ergeben sie ein riesiges Spinnennetz. Aus dem können viele Menschen nicht entkommen und werden sich niemals befreien, ohne ein riesiges Loch in dieses Netz zu reißen.

Da gibt es das Musterkind, oft das Erstgeborene, was zu Höchstleistungen fähig ist.

Alle Erwartungen liegen in diesem Kind und meistens haben diese Kinder ein großes Verantwortungsbewusstsein.
Ich habe sehr oft beobachten können, dass erstgeborene Kinder die absoluten Vorbilder für ihre Geschwister sind und sehr oft werden die, die danach auf die Welt kommen, verglichen.
Meistens schneiden die Zweitgeborenen dabei gar nicht gut ab.
Die Nesthäkchen dagegen sind fast immer einen Aufreger unter Geschwistern wert.
Sie gelten als verwöhnt, sind oft recht egoistisch und haben nicht wirklich viel Lust und Zeit, sich um das Familiengedöns zu kümmern.
Wo die Ältesten noch auf die Uhr genau pünktlich waren, im Haushalt halfen und dennoch einige Wünsche verwehrt worden, schlendert das Nesthäkchen lässig durchs Leben und fordert jede Menge ohne all diese sittsamen Tugenden auch nur ansatzweise auszubilden.
Tatsächlich sind die Nesthäkchen bei den Eltern am beliebtesten und in der Geschwisterkonstellation oft der Auslöser für energisches Kopfschütteln.
Die Kinder mit größeren und kleineren Geschwistern sind meistens ganz gut dran.
Wenigstens ist hier eine relativ gesunde Sozialisation vorhanden, denn sie können sich fallen lassen und gleichzeitig lernen sie Verantwortung zu übernehmen.
Leider laufen sie oft irgendwie im Familiensystem mit, relativ unbemerkt und unscheinbar.
Es hört sich zwar nach Schubladendenken an, doch viele Gespräche mit vielen Menschen ließen zutage treten, dass es tatsächlich Unterschiede in dieser unsichtbaren Hierarchie gibt.

Doch kommen wir noch einmal auf die feinen Fäden zu sprechen.

Familienkonstrukte sind nicht immer einfach zu durchschauen, weder von den Familienmitgliedern selbst noch von Außenstehenden.
Zu viele unbewusste Vorgänge und Spiegelungen spielen da eine Rolle.
In Patchwork-Familien oder bei unerkannten „Kuckuckskindern" ist die Lage sogar noch verzwickter.
Wer sich ernsthaft mit seiner Familie beschäftigt, wird so einige Muster herausfinden, die im Netz gesponnen werden.
Geht der eine nach oben, verschwindet der andere nach links oder rechts.
Will damit sagen: Auf jede Aktion gibt es eine Reaktion und es wird akribisch genau darauf geachtet, dass es immer dieselben Muster sind.

So entstehen Gruppendynamiken, in denen jeder seine Rolle spielt.

Das ist in gewisser Weise auch wichtig für den Zusammenhalt. Übrigens läuft das nicht nur in Familien so ab, sondern in jeder Art von (menschlicher) Gruppe.
Doch die Familie ist deshalb so besonders komplex, weil wir jeden Tag miteinander verbunden sind, auch über die Kindheit hinaus.
Nirgendwo sonst sind wir auf Gedeih und Verderb den Sympathien und Antipathien der anderen Familienmitglieder ausgesetzt.
Natürlich finden wir auch nur hier unsere Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den nächsten Verwandten.
Wer Glück hat - und ich persönlich halte das mittlerweile für eine Laune der Natur - harmoniert in seiner „Zusammensetzung" mit den inneren Anteilen anderer Familienmitglieder.

Es können Nähe und Vertrauen entstehen, Verständnis und Fürsorge, echtes Miteinander und Wertschätzung.

Es ist nicht immer nur eine Frage des Milieus, der guten Bildung und der Erziehung, wie sich jeder in seinem Familiensystem entwickelt.
Sehr oft sind es die verschiedenen Persönlichkeitstypen, die aufeinanderprallen oder sich ergänzen.

Die Mischung machts sozusagen

Deshalb kann keine Mutter wirklich etwas dafür, wenn ihr ein Kind näher ist als das andere.
Selbstverständlich kann sie beide auf ihre Art lieben.
Jedoch mit Menschen, die uns ähnlich sind, können wir Freundschaften eingehen, die sich einfach wunderbar tief und fest anfühlen.
Auch in Familien gibt es durchaus Freundschaften zwischen Geschwistern, Cousins und Cousinen, mit der Mutter oder dem Vater, dem Onkel, der Tante, den Großeltern.
Das ist aber nicht selbstverständlich und keinesfalls in jeder Familie so. Im Grunde genommen ist es wirklich einfach Glück.

Klar kann jeder versuchen, sich auf den anderen „einzuschwingen".

In einer Familie sollte schon von klein auf darauf geachtet werden, dass es fair bleibt und dass jeder sich einbringt.
Dabei spielen tatsächlich die Mutter und der Vater mit ihrer ureigenen psychischen Verfassung eine große Rolle.
Es darf nicht geschlagen und gedemütigt werden, Familie sollte im Idealfall nicht angstbesetzt sein, sondern so liebevoll und verständig, wie möglich.
Doch manche Dinge lassen sich eben auch nicht beeinflussen, egal wie oft das Wort „Familie" auch für „heile Welt" missbraucht wird.
Wenn ein Kind auf die Welt kommt, welches die meisten Eigenschaften des Vaters hat, so wird es sich nach Trennung der Eltern von niemandem verstanden fühlen.
Die Mutter wird diese Anteile des ungeliebten Ex in ihrem Kind ignorieren oder ablehnen. Das ist durchaus verständlich.
Doch diese Anteile sind trotzdem da und wenn das Kind nicht gerade Kontakt zur „anderen Seite" hat, dann wird es mit sich selbst für lange Zeit nicht in Kontakt kommen können.
Es wird sich irgendwann selbst ablehnen. Dabei sind seine Anteile nicht „schlecht". Sie sind eben nur nicht kompatibel mit der Bezugsperson.

Unbewusste Verstrickungen können eine Menge Unheil anrichten.

Ein Kind, welches geliebt und verständnisvoll behandelt wird, kann sehr darunter leiden, wenn sein Geschwister ständig das schwarze Schaf ist, Strafen bekommt oder im schlimmsten Fall sogar misshandelt wird.
Es kann sein, dass die Geschwister sich ähnlich sind, eines zur Mutter oder dem Vater aber jeweils keine gute Verbindung hat, das andere dafür schon.
Solche Ungleichbehandlungen lösen später große psychische Probleme aus.
Vor allem alles, was mit der allseits bekannten „Schuldfrage" zu tun hat, ist Gift für jede Seele.
Da sind an und für sich die Eltern gefragt, wie gut sie solche Muster erkennen und durchschauen können.
Es sind oft jahrelange Entwicklungsprozesse, die dabei durchlaufen werden müssen. Doch mit so einem Leitfaden in der Hand sollten wir eigentlich überhaupt erst Kinder in die Welt setzen.
Bin ich zu provokant?

Überhaupt ist ein Familiensystem oft viel mehr in Bewegung, als einem traditionelle Vorstellungen und Werbung glauben machen wollen.

Wenn der Erstgeborene beispielsweise stirbt, rutscht das Nächstgeborene an eine Stelle, wo es nicht hingehört. Die Rollen verschieben sich, die Muster verlaufen plötzlich anders.
Tritt das große Schweigen ein oder wird nicht bewusst wahrgenommen, dass sich etwas verändert hat, so kann das eine ganze Familie auseinanderbringen.
War das Erstgeborene ein schwieriges Kind, wird es noch komplizierter.
Auch Neid und Eifersucht unter Geschwistern kommen sehr viel häufiger vor, als jeder wahrhaben will.

Denkt daran, dass ich nicht unbedingt von Kindern rede. Reflektiert mal in Ruhe die Muster eurer Ursprungsfamilien.
Und die Muster eurer Eltern und derer Ursprungsfamilien.
Über viele Dinge habe ich noch nicht geschrieben. Auch die Einzelkinder habe ich noch nicht weiter erwähnt.
Das kommt noch, versprochen.

Bis dahin wünsche ich euch einen schönen Donnerstag und viel Erfolg beim Reflektieren.
Schreibt ruhig in die Kommentare, ich würde mich freuen.

Familiensysteme. Ist Blut wirklich dicker als Wasser?

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