Finanzielle Familienförderung als Verschwendung:
Diese Botschaft verkündeten Leitartikler und publizistisch
aktive Ökonomen jüngst wieder anlässlich des offenkundigen
Misserfolgs des Elterngelds. Ihre Argumentation ist einfach:
Trotz öffentlicher Leistungen für Familien setzt sich der
Geburtenrückgang in Deutschland fort, was die
Unwirksamkeit direkter Transfers an Eltern beweise (1).
Tatsächlich sind die Geburtenraten seit den 1960er ausnahmslos in allen Industrieländern deutlich gesunken, dies gilt sogar für das familienpolitische Vorzeigeland Frankreich. Immerhin verlief der Geburtenrückgang hier im Vergleich zu anderen Industrieländern aber deutlich sanfter: Während die Geburtenraten in den meisten Ländern um 40-55% einbrachen, gingen Sie in Frankreich „nur“ um ca. 30% zurück. Relativ moderat verlief der Geburtenrückgang auch in Schweden, Luxemburg und Dänemark. Die familienpolitischen Leitbilder dieser Staaten unterscheiden sich erheblich: Dänemark (wie auch Schweden) fördert das Doppelverdienermodell, Luxemburg eher die „klassische Ernährerfamilie“ und Frankreich die Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Familienmodellen. Trotz differenter Ziele und Maßnahmen der Familienpolitik fällt eine entscheidende Gemeinsamkeit zwischen diesen Ländern auf: Sie gehörten zu den Staaten, die im OECD-Vergleich am meisten für Familien ausgeben. Anteilig gemessen am Bruttoinlandsprodukt investieren sie mehr als doppelt so viel in Familien wie etwa Spanien, Italien oder Kanada. In den letzteren Ländern gibt es nur wenige finanzielle Leistungen für Eltern. Wohl kaum zufällig sind in diesen Ländern die Geburten seit den 1960 Jahren besonders dramatisch (in Kanada um fast 60%!) eingebrochen (2).
Anders als von manchen Ökonomen behauptet, wirken sich finanzielle Leistungen für Familien also sehr wohl auf die Geburtenentwicklung aus: Zwar können sie den Trend zu weniger Kindern nicht umkehren, ihr Fehlen verschärft jedoch den Geburtenschwund.
Darauf wies schon Ende der 1970er Jahre der damalige Leiter des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hin: Auch eine zunächst „scheinbar erfolglose Bevölkerungspolitik“ könne wirken, „indem sie nämlich einen vorhandenen gegenläufigen Trend immerhin abschwächt“. Der SPIEGEL zog daraus den Schluss: „Wie viele Babys auch immer geboren werden, mit ihnen wird sich politisch kein Staat machen lassen.“ Schließlich könne niemand sagen, „ob die Kinder nicht auch ohne Bonner Förderung gekommen wären oder ob sie wegen falscher Bonner Bemühungen weggeblieben sind“ (3).
Die Bundesregierung war sich dieser Schwierigkeit durchaus bewusst: Sie begründete ihre Familienpolitik nie mit dem Ziel Geburten zu fördern, sondern mit besseren Lebensbedingungen für Kinder und Familien, dem Ausgleich materieller Nachteile von Eltern im Vergleich zu Kinderlosen und dem Ziel, die von Familien erbrachten Erziehungs- und Pflegeleistungen materiell anzuerkennen (4).
Diesen Anliegen dienten das 1986 eingeführte Erziehungsgeld, „Erziehungszeiten“ in der Rentenversicherung, Kinderfreibeträge und vor allem das Kindergeld. Ohne diese finanzielle Unterstützung wären die Geburtenraten in Deutschland wahrscheinlich, ähnlich wie in Italien oder Spanien, auf ein noch niedrigeres Niveau gesunken (5).
Noch wichtiger als der Geburtenaspekt ist jedoch: Die existierenden Familien wären ohne diese Leistungen ärmer (gewesen) und die „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ (Franz Xaver Kaufmann) von Staat und Gesellschaft gegenüber der Familie noch eklatanter. Der Fünfte Familienbericht warnte deshalb eindringlich davor, in Zeiten öffentlicher Finanznot bei den Familien zu sparen. Er begründete dies mit den unverzichtbaren Leistungen der Familie für die materielle Wohlfahrt und „die alltägliche Lebensqualität und Lebenskultur der Menschen unseres Landes“ (6).
Diese Leistungen von Familien verkennen jene Ökonomen, Publizisten und Politiker, die finanzielle Familienförderung als vermeintliche „Verschwendung“ bekämpfen. Sie sind gefangen in einem Kurzfrist-Effizienzdenken, das längerfristig die öffentlichen Haushalte und den sozialen Frieden bedroht: Je mehr der Staat die bisher von Familien erbrachten Pflege- und Betreuungsleistungen übernehmen muss, desto teurer wird es – härtere Verteilungskonflikte und weniger Solidarität sind so vorprogrammiert.
(1) Als Beispiele: Stephan Löwenstein: Eine zweifelhafte Erfolgsgeschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.11.2010, S. 1; Bert Rürup: Tief in der Geburtenfalle, in: Handelsblatt vom 16.11.2010, S. 64.
(2) Siehe hierzu Abbildungen unten: „Geburtenniveau und Familienförderung“; Geburtenrückgang in Industriestaaten – relativ; „Übersichtstabelle: Familienförderung in OECD-Staaten“.
(3) Baby-Baisse: Staat im Schlafzimmer, in: DER SPIEGEL vom 31.3.1977 (13/1977),
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40941751.html.
(4) Vgl.: Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission für den Dritten Familienbericht, S. 3-19, in: Die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland (Dritter Familienbericht), Bundestagsdrucksache 8/3120, Bonn 1979, S. 9. Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission für den Vierten Familienbericht, I-XV, in: Der Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.): Die Situation älterer Menschen in der Familie (Vierter Familienbericht), Bundestagsdrucksache 19/6145, Bonn 1986, III-V.
(5) Der Familiensoziologe Franz-Xaver Kaufmann schreibt hierzu:
„Die Wirksamkeit familienpolitischer Maßnahmen im Hinblick
auf eine Erhöhung der Geburtenrate ist umstritten.
Der Hauptgrund, weshalb die Wirksamkeit in Frage gestellt
werden kann, besteht in der methodischen Unmöglichkeit
der Isolierung einzelner Effekte sowie in der Unschärfe
des Begriffes der Wirksamkeit selbst. [...]
Und was vorhandene familienpolitische Maßnahmen betrifft,
so wird man bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgehen
dürfen, dass sie den Familien in der einen oder anderen Weise
zugute gekommen sind. Möglicherweise wäre ohne diese
Maßnahmen das Geburtenniveau noch tiefer; das legt zumindes
die mittlerweile extrem niedrige Fertilität in Griechenland,
Italien und Spanien nahe, wo es bisher an staatlichen Hilfen
für Eltern und Kinder nahezu vollständig fehlt.“
Siehe: Franz- Xaver Kaufmann:
Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt 2005, S. 184-185.
(6) Vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens (Fünfter Familienbericht), Bundestagsdrucksache 12/7560, Bonn 1995, S. 322.
Original auf Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V.
Geburtendefizit – schlimmer als das Budgetdefizit
30 Jahre nach zwölf – der demographische Niedergang Europas
Der Geburtenschwund hat viele Gründe