Fall Kachelmann: Hat Herr Prof. Dr. Henning Ernst Müller recht?

Fall Kachelmann: Hat Herr Prof. Dr. Henning Ernst Müller recht?

© Rolf Handke / pixelio.de

Prof. Dr. Henning Ernst Müller ist seit April 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Regensburg. Und er schreibt in einem Blog.

Dort kommentierte er nicht nur mehrmals den Fall Kachelmann, sondern auch die inzwischen eingetretene Rechtskraft: Kachelmann: Freispruch rechtskräftig | beck-community.

Zu meinem Versuch, eine Veröffentlichung des schriftlichen Urteils zu erreichen, äusserte er sich durchaus kritisch:

„… zunächst hätte ich der Argumentation Herrn RA Scherers entgegengehalten, dass bei der Abwägung zwischen mögl. Persönlichkeitsrechten und Öffentlichkeitsinteresse an einer Veröffentlichung der Urteilsgründe die (mangelnde) Rechtskraft der Entscheidung eine Rolle spielt. Da das Urteil nun rechtskräftig ist, stellt sich diese Frage ja nicht mehr. Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung ist nicht unmittelbar einschlägig, da dort (vermeintliche) Persönlichkeitsrechte keine entscheidende Rolle spielten.

Es bleibt also bei einer Abwägung zwischen Transparenzgebot und Persönlichkeitsrechten – eine spannende Frage, die soweit ich weiß, hinsichtlich Urteils-Veröffentlichungen noch nicht abschließend entschieden ist. Man müsste auch einmal eruieren, was die evtl. Betroffenen überhaupt darüber denken. Als milderes Mittel ließen sich zudem ja auch explizite Stellen schwärzen.“

Ich habe mir erlaubt, ihm darauf zu antworten:

„… hinsichtlich der Entscheidung des BVerwG, die ich zitiert habe, haben Sie sicherlich Recht: sie bezieht sich nicht dezidiert auf Persönlichkeitsrechte und deren Abwägung gegen die Interessen der Allgemeinheit.

Anders sieht dies allerdings aus bei der ebenfalls zitierten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes Baden-Württemberg. Auch in der an anderer Stelle zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gießen geht es um diese Frage: http://stscherer.wordpress.com/2011/10/06/fall-kachelmann-das-landgericht-mannheim-hat-geschrieben/ (Vielen Dank an den Kommentator „Reinhard“ für die Fundstelle)

Interessant insbesondere folgender Satz: „Allein der Umstand, dass eine Anonymisierung des Urteils vom 13. April 2006 über dessen Rubrum hinaus wegen der umfangreichen Verwendung weiterer, personenbezogener Daten einen nicht unerheblichen Arbeitsaufwand verursachen könnte, steht der Erteilung einer Abschrift nicht entgegen.“

Schauen wir mal, wie sich nach nunmehriger Rechtskraft das Landgericht und/oder die Staatsanwaltschaft Mannheim verhalten…

Übrigens ist es ansonsten völlig unproblematisch, nicht rechtskräftige Entscheidungen bei Gerichten anzufordern – ich bin in einem hinsichtlich der Veröffentlichung so stiefmütterlich behandelten Bereich wie dem des Rechts der Leistungserbringer im Gesundheitswesen regelmässig auf die Unterstützung der Sozialgerichte angewiesen – und kann wirklich nicht warten, bis das BSG nach Jahren abschliessend entschieden hat… und auch dort sind die Persönlichkeitsrechte von Prozessparteien massiv tangiert, wobei regelmässig die dortigen Prozessparteien nicht vorab die Sicht ihrer Dinge an Boulevardblätter verkauft haben.

Ich finde es erschreckend, wie in Mannheim der Versuch unternommen wird, den Verlauf und das Ergebnis des Prozesses vor der Öffentlichkeit zu verstecken – dies dient sicherlich nicht der Reputation der deutschen Strafjustiz. Sind wir jetzt schon so weit, dass ein Gericht sich nicht mehr traut, die Begründung seiner Urteile vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen?“

Herrn Prof. Müllers Reaktion hierauf war folgende:

„Sie schreiben:

Ich finde es erschreckend, wie in Mannheim der Versuch unternommen wird, den Verlauf und das Ergebnis des Prozesses vor der Öffentlichkeit zu verstecken – dies dient sicherlich nicht der Reputation der deutschen Strafjustiz. Sind wir jetzt schon so weit, dass ein Gericht sich nicht mehr traut, die Begründung seiner Urteile vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen?

Ihre Interpretation, die mangelnde Bereitschaft, das Urteil zu veröffentlichen, liege auf einer Linie mit dem Verhalten des Gerichts während der Verhandlung und diene v. a. dazu, die eigenen gerichtlichen Begründungsmängel zu verdecken, kann ich gut nachvollziehen – und vielleicht ist es ja auch so.

Aber ich halte die Nicht-Veröffentlichung dennoch letztlich rechtlich für zutreffend. Drei Gründe:

1. Es handelt sich nicht um ein Urteil, das von irgendeinem „rechtlichem Interesse“ ist. Hier finden keine neuen Gesetze, keine neuen Interpretationen Anwendung. Die Veröffentlichung würde einzig und allein einem „öffentlichen Interesse“ dienen und damit u.a. Publikationsinteressen nachkommen, die auch Sie sicherlich nicht gutheißen: Sensationsgier, Boulevard, Interesse am Klatsch über eventuell schlüpfrige Details des Privatlebens von Jörg Kachelmann und seinen Intimpartnerinnen einschl. der Nebenklägerin. Es würde möglicherweise dem Freigesprochenen auch wirtschaftlich Schaden zufügen – so weigert sich ja derzeit die ARD ihn wieder zu beschäftigen, offenbar nicht weil er „schuldig“ ist, sondern wegen der im Prozess ans Licht gekommenen Details seines Liebeslebens, die eigentlich niemanden etwas angehen. Durch eine Uteilsveröffentlichung könnten diese erneut zum „Thema“ werden.

2. Das Urteil endete mit Freispruch. Der Grund für diesen Freispruch liegt klar auf der Hand (der Tatvorwurf ließ sich nicht nachweisen).  Freisprüche haben – anders als Verurteilungen – nicht den Anspruch, intersubjektiv nachvollziehbar den Beweis der Tat darzulegen, um den schweren staatlichen Eingriff (Strafe) zu legitimieren. Eine Freispruchbegründung muss nur darlegen, dass es eben keinen  hinreichenden Tatnachweis gab. Dies aber ist bereits allgemeinkundig und bedarf keiner Veröffentlichung mehr.

3. Argumentation aus dem Lebach-Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2009. Dort heißt es:

Wägt man dieses Interesse mit der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, die mit der identifizierenden Berichterstattung über Verfehlungen des Betroffenen verbunden ist, ab, verdient für die tagesaktuelle Berichterstattung über Straftaten das Informationsinteresse im Allgemeinen den Vorrang (vgl. BVerfGE 35, 202 (231); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senatsvom 25. Februar 1993 - 1 BvR 172/93-, NJW 1993, S. 1463 (1464); 13. Juni 2006 - 1 BvR 565/06-, NJW 2006, S. 2835). Wer den Rechtsfrieden bricht, durch diese Tat und ihre Folgen Mitmenschen angreift oder verletzt, muss sich nicht nur den hierfür verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern er muss auch dulden, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird (vgl. BVerfGE 35, 202 (231f.).

Also: Eine Tagesberichterstattung über die Straftatenbegehung (insb. Verurteilung)  unter Nennung des verurteilten Täters ist u. a. deshalb gerechtfertigt, weil der Täter eben das Recht verletzt hat und damit praktisch selbst in die Öffentlichkeit hinieingewirkt hat. Dies gilt  nach h.M. auch schon für den bloßen Tatverdacht (obwohl ich hier auch sehr skeptisch bin, wie sie aus meinen früheren Blogbeiträgen entnehmen können). Aber: In Umkehrung dieser Argumentation würde ich sagen: Ist rechtskräftig ein Freispruch ergangen, dann ist der zuvor Verdächtige wieder ganz Privatmensch, er ist so zu behandeln, als sei er nie angeklagt worden. Sein Interesse, dass sein Privatleben nicht an die Öffentlichkeit gezerrt wird, ist deshalb wieder wesentlich höher einzuschätzen, als das Interesse der Öffentlichkeit an Publikation von Urteilsgründen, die (möglicherweise) auch weitere Intimitäten enthalten, nicht nur längst bekannte Personendaten.

Klar ist doch wohl, dass eine Publikation der Urteilsgründe zugleich breiteste Berichterstattung über neue Details auslösen würde (hier liegt die Sache anders als in den von Ihnen herangezogenen Fällen). Dass das Gericht dafür nicht die Vorlage geben will, halte ich deshalb für rechtlich zutreffend, selbst wenn dies widersprüchlich zu früheren zweifelhaften Publikationen der StA und des Gerichts aus dem Prozess erscheint. Das wäre anders, wenn ein Politiker von Korruptionsvorwürfen freigesprochen wird oder wenn zB das Verfahren gegen Helmut Kohl nach § 153a StPO eingestellt wird – hier ist das öffentliche Interesse an der wahrheitsgemäßen Aufklärung sicher so hoch, dass demgegenüber das Persönlichkeitsrecht des Politikers zurücktreten müsste. Aber dies gilt keineswegs für jeden Prominenten, schon gar nicht für jeden Normalbürger. Das gleiche gilt übrigens auch für die Anzeigeerstatterin und Nebenklägerin.

Aber worin genau sehen Sie denn das Interesse der Allgemeinheit an der Publikation der Freispruchgründe?

Fazit für mich: Nur wenn beide Hauptbetroffenen auf ihr Persönlichkeitsrecht insoweit verzichteten, das Urteil also quasi selbst (unter Schwärzung der Zeugennamen) veröffentlichten, dürfte das Gericht dagegen nichts mehr einzuwenden haben.“

Unterstützt wurde Prof. Müller von einer meiner Kolleginnen, Frau Dr. Nagel:

„Ich habe gewisse Zweifel daran, dass alle, die im Hinblick auf dieses Urteil Geheimjustiz beklagen, tatsächlich so wie Sie, Herr Kollege Scherer, von rechtsstaatlichen Erwägungen getrieben werden.

Es ist wiederholt darüber geklagt worden, dass das Mannheimer Gericht zunächst mehrere – teilweise als „Selbstanbieterinnen“ bezeichnette – Leumundszeugin befragt hat, bevor es die Nebenklägerin vernahm. Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass bei einigen durchaus Interesse besteht, aus den Urteilsgründen vor allem insoweit weitere Informationen zu ziehen – und diese in der bisherigen, nicht unumstrittenen Form zu veröffentlichen.

Das kann nach der Rechtskraft aber nicht ernsthaft erwünscht sein, nachdem die Auseinandersetzungen schon bisher vielerorts nicht gerade sachlich geführt wurden.

Dass im konkreten Fall eine Anonymisierung nicht möglich sein wird, dürfte unstreitig sein. ich gebe auch zu, dass ich das Urteil selbst gerne lesen würde; um den Preis aber, dass es bei einer allgemeinen Veröffentlichung auch in die Hände derer geraten würde, die ihre „Pfanne des Grauens“ neu befüllen möchten (wer die entsprechenden Seiten im social network kennt, weiß, wen ich meine), verzichte ich gerne darauf.“

Starker Gegenwind schlägt mir da entgegen (und wohltuend sachlich ist er trotzdem). Aber ich denke, ich habe ein paar Gegenargumente, und anfangen möchte ich vorne: bei den Rechten und Pflichten, die hier gegeneinander abgewogen werden müssen; unproblematisch stehen auf der einen Seite die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten – doch zu diesen später noch näher.

Auf der anderen Seite benennt Herr Prof. Dr. Müller das Transparenzgebot, Frau Dr. Nagel „zwischen den Zeilen“ den Rechtsstaat. Damit trifft sie den Kern vielleicht genauer als Prof. Müller – besehen wir dazu doch noch einmal die schon zitierte Entscheidung des BVerwG (wesentlich umfangreicher hierzu: Fall Kachelmann: Die geheime Urteilsbegründung des Landgerichts Mannheim « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes):

Das BVerwG weist klar darauf hin, dass allen Gerichten, kraft Bundesverfassungsrechts die Aufgabe obliegt, die Entscheidungen ihrer Spruchkörper der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Insoweit handelt es sich bei der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen um eine öffentliche Aufgabe.

Und das BVerwG benennt sogar die Rechtspflicht und ihre verfassungsrechtliche Grundlage:

Insoweit besteht sogar eine Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen. Diese Pflicht folgt aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und auch aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung: Gerichtliche Entscheidungen konkretisieren die Regelungen der Gesetze; auch bilden sie das Recht fort (vgl. auch § 132 Abs. 4 GVG). Schon von daher kommt der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen eine der Verkündung von Rechtsnormen vergleichbare Bedeutung zu.

Der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen wird eine der Verkündung von Rechtsnormen vergleichbare Bedeutung beigemessen als Ausfluss diverse hochrangiger Verfassungsgrundsätze – da ist die Latte sicherlich wesentlich höher gelegt als nur auf die Höhe eines Transparenzgebotes.

Es streitet also nicht nur ein Gebot gegen eine Verfassungsgarantie, sondern es streiten massgebliche Verfassungsgrundsätze miteinander, und sicherlich eines der gewichtigen auf Seiten derjenigen, die eine Veröffentlichung fordern, ist das Rechtsstaatsgebot, flankiert von der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung- eigentlich müsste da doch jedem Grundgesetzaktivierer das Herz aufgehen, wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, über andere Internetuser herzuziehen.

Aber vielleicht ist dieser Streit der Verfassungsgarantien deswegen unerheblich, weil das Urteil des Landgerichts Mannheim überhaupt keinen eigenständigen Veröffentlichungswert hat, weil es selbst zur Rechtsfortbildung nichts beitragen kann – so jedenfalls die weitere Argumentation von Prof. Dr. Müller; jedoch erscheint mir dies – ohne Kenntnis des Urteils – eine sehr gewagte These zu sein, denn immerhin ist es reine  Spekulation, welchen Inhalt dieses Urteil hat.

Sicherlich wird mir Herr Prof. Dr. Müller recht geben: nicht jedes Urteil ist allein schon deswegen uninteressant, weil das juristisch korrekte Ergebnis von vornherein feststeht, nicht jeder Freispruch enthält keine wissenschaftlich interessanten Thesen – und eine Rechtsfortbildung im Bereich des Grundsatzes „in dubio pro reo“ funktioniert nur, wenn gerade auch Freisprüche auf dieser Grundlage veröffentlicht und damit der wissenschaftlichen Diskussion zugänglich gemacht werden.

Konkret im Fall Kachelmann bleibt darüber hinaus festzuhalten: immerhin hat der gesamte Prozess eine nicht unerhebliche kritische Würdigung nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch unter Juristen hervorgerufen – einschliesslich der Stellungnahmen von diversen Professorinnen und Professoren, von Richtern an Oberlandesgerichten, von anerkannten Strafrechtsexperten, von Strafverteidigern.

Und deshalb in diesem Zusammenhang schon die Frage erlaubt: wer ist derjenige, der darüber entscheidet, was veröffentlichungswürdig ist oder nicht? Herr Prof. Müller und die Kollegin Nagel jedenfalls wollen diese Entscheidung wohl den Gerichten zugestehen, also denjenigen, deren Urteil einer kritischen Betrachtung unterzogen werden soll – mir fällt da doch ein wenig ketzerisch die Volksweisheit ein, man solle „den Bock nicht zum Gärtner machen“, und auch das BVerwG sieht wohl diese Entscheidung nicht bei diesen öffentlichen Stellen:

Maßgeblich sind also das tatsächliche oder mutmaßliche Interesse der Öffentlichkeit und das Interesse derjenigen, die in entsprechenden Angelegenheiten um Rechtsschutz nachsuchen wollen.

Das „Lebach-Urteil“ des BVerfG dürfte dabei nach meiner Einschätzung auch nichts Anderes ergeben: dort geht es darum, dass ein Straftäter keinen Schutz vor zusätzlicher Stimatisierung durch Veröffentlichungen hat – doch daraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass ein Freigesprochener einen Schutz vor einer Veröffentlichung hätte, ist recht gewagt und auch kaum Praxis der Gerichte.

Ansonsten dürfte es doch keine Veröffentlchungen von Freisprüchen geben – und schon gar nicht von solchen, die „in dubio pro reo“ gefallen sind, tragen sie doch immer das Risiko in sich, dass gehässige Zeitgenossen einem so Freigesprochenen weiterhin übel nachreden und ihn bezichtigen, er sei es doch gewesen, nur leider habe man ihm seine Schuld nicht nachweisen können.

Genau dies geschieht übrigens derzeit an einigen Stellen – ein kleines Beispiel, wie hier hinterlistig-perfide der Tatvorwurf aufrecht erhalten bleibt, sei mir erlaubt:

„Nicht so sicher könnte ich mir sein, dass es sich möglicherweise nicht doch um ein Fehlurteil handeln könnte, was durchaus im menschlichen Ermessen liegen könnte, auch wenn ich selbst an seine Schuld glaube.“ Das ist ausdrücklich nicht meine Aussage, sondern  die Aussage meines Internetschattens, die so nur getätigt werden kann, weil das Gericht seine Begründung nicht offenlegt – und damit eher den Persönlichkeitsrechten des Angeklagten schadet als diese schützt.

Gänzlich ad absurdum läuft ein solcher absoluter Schutzgedanke im übrigen, wenn man ihn auf Zeugen anwendet: tut man dies, dürfte praktisch kein Strafurteil mehr veröffentlicht werden, in dem Zeugen befragt worden sind. Und gerade hier im konkreten Fall Kachelmann werde ich Folgenden noch zeigen, dass die Persönlichkeitsrechte der dort vernommenen Zeugen bei einem freisprechenden Urteil gar nicht betroffen sein können – jedenfalls dann nicht, wenn man mit mir davon ausgeht, dass das Landgericht Mannheim eine schriftliche Urteilsbegründung „lege artis“ vorgelegt hat.

Insgesamt denke ich, dass das Bundesverwaltungsgericht den Gerichten bei der Veröffentlichung von Entscheidungen sehr wenig Spielraum einräumt: es heisst vielleicht nicht unbedingt, dass jede Entscheidung veröffentlicht werden muss, nur weil es der Öffentlichkeit gefällt, aber es muss schon veröffentlich werden, wenn die Öffentlichkeit oder Einzelne ein Interesse daran haben können („mutmasslich“).

Und das ist doch im konkreten Fall sicherlich gegeben, denn schliesslich sind diverse Interna aus dem Prozess längst „durchgesickert“, immer wieder sind nichtöffentliche Teile der Verhandlung von allen Seiten einseitig kommentiert worden, der Vorsitzende hat eine  mündliche Urteilsbegründung öffentlich gegeben, die man durchaus als nicht vollständig ausgewogen ansehen könnte, und die Staatsanwaltschaft hat in Presseerklärungen den Inhalt des schriftlichen Urteils kommentiert.

Aber nicht nur die Staatsanwaltschaft: ganz aktuell hat sich nun auch die Nebenklägerin geäussert, und dies nicht gerade in einer juristischen Fachzeitschrift (Jörg Kachelmann: Ex-Freundin akzeptiert Freispruch – BUNTE). Online vermeldet Sie im Boulevard: „

„Es blieb mir nichts anderes übrig, als dieses Urteil juristisch zu akzeptieren.“ Aus ihrer Sicht enthalte die Urteilsbegründung des Mannheimer Landgerichts zwar Denkfehler und Widersprüche. Aber: „Mir fehlen in jeder Hinsicht die Mittel, um den psychisch sehr belastenden Weg der Revision zu gehen“, sagte sie BUNTE.“ Und natürlich fehlt nicht der Hinweis, dass man in der Printausgabe weitere Einzelheiten lesen könne.

Mit Verlaub, da haben wir gleich zwei Gründe für die Veröffentlichung: zunächst einmal die doch auch juristisch höchst interessante Frage, wieso die Staatsanwaltschaft ein Gerichtsurteil als nachvollziehbar und einer Revision nicht zugänglich ansieht, gleichzeitig aber die – juristisch beratene – Nebenklägerin dasselbe Urteil für widersprüchlich und mit Denkfehlern behaftet hält,  zum anderen die einseitige Vereinnahmung und Kommentierung eines Urteils mit dem eindeutigen Ziel der Meinungsmanipulation, die man unschwer hätte verhindern können, wenn das Landgericht Mannheim seiner verfassungsunmittelbaren Verpflichtung zur Veröffentlichung der schriftlichen Urteilsgründe nachgekommen wäre.

Machen wir uns nichts vor: die Reaktion des Angeklagten dürfte nicht lange auf sich warten lassen, zumal die Nebenklägerin den Freispruch ja ausdrücklich nur juristisch akzeptiert hat. Da wird doch wohl die „Sensationsgier“ der Öffentlichkeit doch wohl eher durch die nun anstehenden weiteren Scharmützel befriedigt werden. Und ich spekuliere mal ein wenig: beide Seiten werden demnächst aus dem Urteil zitieren – und ganz bestimmt jeweils nur die Stellen, die ihnen günstig erscheinen. Dient dies dann mehr den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen? Wohl kaum!

Aber wir brauchen uns gar nicht auf Schlagzeilen im Boulevard zu stürzen: Schliesslich haben diverse Stimmen aus der Professorenschaft, aber auch aus der Richterschaft und aus anderen Fachkreise die Prozessführung des Gerichts teilweise heftig kritisiert, massgebliche Verfahrensfragen wie zB. das Prinzip der Öffentlichkeit wurden massiv tangiert: All dies rechtfertigt nach meiner Einschätzung schon allein ein Interesse der Öffentlichkeit an der Kenntnis der schriftlichen Urteilsgründe – und dies jenseits einer reinen „Sensationsgier“.

Doch bevor ich auf  dieses Stichwort näher eingehe, noch eine Anmerkung am Rande: der von Herrn Prof. Dr. Müller eigeforderte vollständige Schutz der Privatsphäre des freigesprochenen ehemaligen Angeklagtens kann nicht auch der Anzeigerstatterin zur Seite stehen (mal völlig abgesehen von der Tatsache, dass sie nun das Urteil als widersprüchlich und von Denkfehlern behaftet bezeichnet), denn ihr gegenüber besteht nach einem Freispruch jedenfalls ein Anfangsverdacht der Falschbeschuldigung, auch wenn der Vorsitzende in seiner mündlichen Abrechnung mit dem Angeklagten und seinem Verteidiger dies mit allen Mitteln zu verneinen suchte. Damit dürften für ihre Persönlichkeitsrechte die Einschränkungen gelten, die sich aus dem „Lebach-Urteil“ ergeben. Eine solche Aussage wird zwar insbesondere in der Faktenfrei-Fraktion des Internets ein lautes Aufjaulen hervorrufen, ist aber eine Konsequenz der Entscheidung des BVerfG – jedenfalls hinsichtlich des „Ob“, nicht unbedingt bzgl. des „Wie“ und speziell des „Wie weit“ der Veröffentlichung.

Aber nun zur „Sensationsgier“: ist diese nicht schon umfänglich befriedigt worden? Was soll denn in einem einigermassen seriös verfassten Strafurteil noch an Einzelheiten und Details veröffentlicht werden, was nicht schon im Boulevard unter tätiger Mithilfe der Prozessbeteiligten vor und nach dem Urteil breitgetreten worden ist? Ich denke, nichts von Bedeutung.

Schauen wir uns dazu doch einmal den Aufbau eines Strafurteils an:

1. Rubrum (Urteilskopf): leicht zu schwärzen, da für das Verständnis unerheblich – wenn auch hier natürlich der Angeklagte bekannt ist.

2. Tenor (Urteilsformel): nicht zu schwärzen und schon bekannt: Freispruch mit zwingenden Nebenfolgen.

3. Liste der angewendeten Vorschriften: unproblematisch, insbesondere bei einem Freispruch.

4. Urteilsgründe, §267 StPO: da wird es interessant, und deswegen greife ich zurück auf die Hinweise im Lande Bayern zur Abfassung von Urteilen im Strafrecht (Klick):

a. Zunächst einmal braucht ein Freispruch keine Darstellung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten – jedenfalls in Bayern (…), auch wenn das Landgericht Mannheim in der mündlichen Verhandlung noch etwas ganz Anderes verkündet hat…

Allerdings begründet man dies in Bayern (und nach meiner Kenntnis auch sonst in Deutschland ausserhalb Mannheims) recht überzeugend: „Wenn der Angeklagte freigesprochen ist, ist sowohl sein privates als auch sein ökonomisches Umfeld strafrechtlich ohne Belang.

Na, dann dürfte es da ja auch an dieser Stelle keine Probleme mit der Veröffentlichung des Urteils geben – und selbst dann, wenn das Landgericht Mannheim gegen die Regeln der juristischen Kunst solche Erörterungen der persönlichen Verhältnisse mit aufgenommen hätte, dann kann  man sie unproblematisch schwärzen, da sie sowieso ohne strafrechtlichen Belang sind.

b. Eine Wiedergabe des Tatvorwurfs, und zwar knapp; auch ohne Probleme, denn der Tatvorwurf ist ja nun in allen schillernden Einzelheiten dank Bunte, Bild und Focus überall breitgetreten – da ist nichts mehr, womit man noch ein Persönlichkeitsrecht beschädigen kann, welches nicht schon bekannt ist und zum Verständnis des Urteils dringend erforderlich wäre – bis hin zu angeblich tropfenden Geschlechtsteilen (um einmal plastisch zu zeigen, wie weit man hier schon zu Lasten des Angeklagten gegangen ist).

c. Rechtliche Erwägungen: und genau darum geht es – um die Abwägung der Beweismittel. Befassen wir uns damit also ein wenig näher:

Da ist die Aussage der Nebenklägerin, die in weiten Teilen (soweit es zum Verständnis erforderlich ist) inhaltlich bekannt ist, denn schliesslich hat uns ja Lars-Torben O. (oder war es RA Schwenn, des zur Entzückung meines Internetschattens Trägers von roten Socken?) schon in einer der von ihm spontan im Gang des Gerichtsgebäudes inszenierten Stand-up-Pressekonferenzen mitgeteilt, die Anzeigeerstatterin sei bei ihrer Darstellung aus den Vernehmungen geblieben, die sie vor Eröffnung des Prozesses zu Protokoll gegeben hatte. Auch hier dürfte also wenig zu finden sein, was man schwärzen müsste – und wenn, dann dürften es Einzelheiten sein, die zum Verständnis nicht erforderlich sind, da die grossen Zusammenhänge schon bekannt sind.

Sollte das Gericht sich umfänglich mit dem Vorleben der Anzeigeerstatterin beschäftigen, wäre zu fragen, wofür dies in den Urteilsgründen überhaupt erwähnt wird – und, ob es zum Verständnis erforderlich ist. Ich denke nicht, wie schon die Entscheidung des OLG Karlsruhe zeigt – es geht wohl auch „lege artis“, ohne die Sensationsgier zu befriedigen, und bei einem nicht zu erwartenden Urteil gegen die allgemeinen Grundsätze bliebe auch dort immer noch der schwarze Stift, da das Gestrichene nicht strafrechtsrelevant ist.

Tatzeugen oder Tatzeuginnen gibt es nicht, bleiben also die Polizisten und Richter, die man vernommen hat – kein Problem bei deren Würdigung im Urteil – und natürlich die diversen Exfreundinnen, die man je nach Standpunkt als „Leumundszeuginnen“ oder „Selbstanbieterinnen“ sehen kann: hier würde mich schon interessieren, wie das Gericht deren Vernehmung und den damit einhergehenden massiven Einbruch in die Privatsphäre des Angeklagten juristisch rechtfertigt – denn nichts Anderes als eine solche Rechtfertigung kann in dem Urteil stehen, weil eine Erörterung des Inhalts ihrer Zeugenaussagen in einem freisprechenden Urteil für mich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt erforderlich ist.

Oder, ganz überspitzt gesagt: in einer ex-post-Betrachtung kann man durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass die Vernehmung dieser Damen nicht der Sachverhaltsaufklärung diente, sondern allenfalls der Befriedigung der „Sensationsgier“ – von wem auch immer…

Bleiben die Sachverständigen, und da ist ja wenig, was die Persönlichkeitsrechte der Parteien beeinflussen könnte, so weit es diejenigen Gutachter betrifft, die sich mit dem Tathergang selbst beschäftigt haben.

Und so sind wir beim letzten Bereich, bei dem man nun tatsächlich durchaus genau hinschauen muss, wie man das verfassungsrechtlich garantierte Recht der Öffentlichkeit auf Information über den Inhalt von Urteilen, gesprochen „Im Namen des Volkes“, und die ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte Privatsphäre der Nebenklägerin in Einklang miteinander bringt: die Darstellung der Gutachten über den Wert der Aussage der Nebenklägerin.

Dazu allerdings haben sich die Sachverständigen bzw. die sachverständigen Zeugen teilweise schon umfänglich in der öffentlichen Verhandlung geäussert, sodass diese Teile unproblematisch verwandt werden können; und bei den übrigen Äusserungen in nichtöffentlicher Verhandlung wird sich das Gericht eben der von den Verwaltungsgerichten geforderten Mühe unterziehen müssen, sorgfältig eine anonymisierte und neutralisierte Urteilsfassung zu erstellen – eine Mühe, die sich lohnen dürfte in Ansehung der verfassungsunmittelbaren Pflicht zur Veröffentlichung.

Insgesamt deshalb meine Einschätzung: wenn Herr Prof. Dr. Müller und Frau Dr. Nagel die „Sensationsgier“ der Öffentlichkeit sozusagen als KO-Kriterium für eine Veröffentlichung anführen, dann dürfte diese Einschätzung doch stark geprägt sein von dem bisherigen Umgang der Presse mit diesem Prozess – und dabei übersehen, dass es ein äusserst defizitäres Management insbesondere der Staatsanwaltschaft, aber auch des Gerichts gab, welches solche Auswüchse in der Berichterstattung erst ermöglicht hat – wer seine Akten nicht unter Verschluss halten kann, wer nicht seriös und umfänglich über einen Prozessverlauf berichtet, wer nicht selbst die Information der Öffentlichkeit sachlich, unvoreingenommen und unparteiisch übernimmt, der ist es letzlich selber schuld, wenn die Veröffentlichungen nicht so aussehen, wie er es gerne hätte; und der sollte sich hinter dieser dann entstehenden und völlig zu Recht kritisierten Sensationsberichterstattung gerade dann nicht (mehr) verstecken, wenn er durch die Veröffentlichung eines handwerklich einwandfreien Urteils in der Lage wäre, die Betrachtung des Prozesses wieder auf die erforderliche Sachlichkeit zurück zu bringen.

Natürlich wird die Veröffentlichung  des Urteils eine neue Berichterstattung auslösen, doch die Frage ist doch, was für eine? Letztendlich kann das Urteil keine Erörterungen des allgemeinen Liebesleben des Herrn Kachelmann enthalten, es kann keine – neuen (!) – kompromittierenden Einzelheiten in Bezug auf seine Beziehung zur Nebenklägerin enthalten, und es wird auch keine – neuen (!) – Details bzgl. der Äusserungen der Sachverständigen über die Aussage der Anzeigeerstatterin aufweisen – jedenfalls keine, die man nicht ohne Probleme schwärzen kann, weil sie für den Gesamtzusammenhang unerheblich sind.

Und dann bleibt nichts, was den Boulevard und die „sensationsgierige Öffentlichkeit“ interessieren könnte – aber Vieles, was eine „seriöse Öffentlichkeit“ interessiert:

Wie rechtfertigt das Gericht den Freispruch?

Wie rechtfertigt das Gericht die Vernehmung der „luusmeitlis“?

Wie erklärt das Gericht die originelle Reihenfolge der Beweiserhebung?

Wie rechtfertigt es die diversen Ausschlüsse der Öffentlichkeit?

Gibt es tatsächlich Widersprüchlichkeiten und Denkfehler?

Und dies sind nur ein Teil der Fragen, die der Prozess aufgeworfen hat – und die nur die schriftlichen Urteilsgründe aufklären können. Derzeit beginnt die einseitige Meinungsmache durch die Betroffenen, und dies ist weder im Sinne des Schutzes der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, noch ist es im Sinne eines funktionierenden Rechtsstaates.

Interessant ist übrigens, wenn man sich einmal die wirklich bisher unbeantworteten Fragen ansieht, dann richten diese sich tatsächlich direkt an das Gericht und betreffen deren Prozessführung: und dann erschliesst sich schon zwingend die böse Ahnung, die bei mir Einzug gehalten hat, und die Herr Prof. Dr. Müller wohl teilt, wenn er schreibt:

Ihre Interpretation, die mangelnde Bereitschaft, das Urteil zu veröffentlichen, liege auf einer Linie mit dem Verhalten des Gerichts während der Verhandlung und diene v. a. dazu, die eigenen gerichtlichen Begründungsmängel zu verdecken, kann ich gut nachvollziehen – und vielleicht ist es ja auch so.

Aber wenn es nicht nur vielleicht so ist, sondern tatsächlich, dann besteht schon allein in diesem Verdacht ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit, die schriftlichen Urteilsgründe zu kennen – jedenfalls nach meiner Meinung!

Photo: www.pixelio.de


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