Fall Kachelmann: Die geheime Urteilsbegründung des Landgerichts Mannheim

Fall Kachelmann: Die geheime Urteilsbegründung des Landgerichts Mannheim

© Gerd Altmann / pixelio.de

Habe ich doch richtig gerechnet: der 13.11.2011 war also der Tag, an dem das Landgericht Mannheim spätestens seine schriftliche Urteilsbegründung spätestens „zu den Akten zu bringen“ hatte (Fall Kachelmann: Iudex non calculat oder Kann mir mal jemand beim Rechnen helfen? « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes).

Und tatsächlich, an diesem Tag hat das Landgericht Mannheim auch geliefert, wie man der Presseerklärung des Dr. Joachim Bock entnehmen kann: Landgericht Mannheim – Pressemitteilung im Verfahren gegen J. Kachelmann.

Aber glauben Sie jetzt nicht etwa, Sie dürften auch lesen, was da „Im Namen des Volkes“ geschrieben worden ist – Nein, Sie und ich („Wir sind das Volk“, sozusagen) müssen uns – derzeit – mit dem nackten Ergebnis („Freispruch“) und der unsäglichen mündlichen Rechtfertigung des Vorsitzenden Richters Michael Seidling begnügen. Tatsächlich kann auch ich (trotz des etwas missverständlichen Titels, man mag ihn mir verzeihen, klappern gehört zum Handwerk) Ihr Informationsbedürfnis nicht stillen.

Doch Warum ist das so? Fragen wir doch Dr. Bob – Entschuldigung, Dr. Bock:

„Aufgrund wiederholter Anfragen weisen wir daraufhin, dass im Hinblick auf die betroffenen Persönlichkeitsrechte die schriftlichen Urteilsgründe in keiner Form – also auch nicht in anonymisierter Fassung – der Öffentlichkeit oder den Medienvertretern zugänglich sind.“

So steht es also in der Presseerklärung des Landgerichts Mannheim – doch immerhin erhalten die unmittelbar Prozessbeteiligten Einsicht in die schriftlichen Urteilsgründe – und die geneigte Öffentlichkeit wird aufgeklärt, wann ungefähr denn klar sein wird, wann denn nun mit einem endgültigen Abschluss des Verfahren – oder seiner Fortsetzung in der Revision vor dem Bundesgerichtshof – gerechnet werden kann:

„Die Kammer hat nunmehr das Urteil mit Gründen zu den Akten gebracht. Die schriftlichen Urteilsgründe werden der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin bzw. deren Beistand noch in dieser Woche zugestellt. Mit Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe beginnt für die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin die einmonatige Frist zur Begründung der Revision.“

Letzteres erinnert übrigens ein bisschen an die Placebos, die der schon fälschlich erwähnte Dr. Bob verteilt: das sind nun wirklich Informationen, die keiner mehr braucht, da jeder sie weiss. Und sie sind noch nicht einmal vollständig: man mag es gar nicht glauben, aber wenn in Mannheim Alles mit rechten Dingen zugeht, dann wird sicherlich auch der Angeklagte ein Abschrift erhalten…

So viel also zur Presseerklärung aus dem mannheimer Gerichtsgebäude, mit diesen Zitaten hätte ich dann zunächst einmal meine Chronistenpflicht erfüllt; aber mit Verlaub, kann denn das wahr sein: die Wiedereinführung des geheimen Urteils im deutschen Strafrecht? Ein Urteil „Im Namen des Volkes“, welches „das Volk“ nicht lesen darf? Eine Justiz, die nicht den Mut aufbringt, ihre Entscheidungen vor „der Öffentlichkeit“ zu vertreten?

Nähern wir uns dieser Presseerklärung und damit der Begründung dafür, warum man die Urteilsbegründung im Fall Kachelmann geheim halten will, erst einmal ganz wertneutral: stellen wir uns die Grundfrage, warum sind (Straf-) Prozesse öffentlich, warum werden Urteile öffentlich verkündet und warum sind auch die Urteilsbegründungen öffentlich zugänglich?

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dazu schon sehr umfänglich geäussert: BVerwG, Urteil vom 26.02.97, Az.: BVerwG 6 C 3.96. Im Folgenden beziehe ich mich auf den Inhalt dieser Entscheidung, und, um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, den Plagiator zu geben, sind alle Stellen, die ich wortgetreu oder nahezu wortgetreu übernommen habe, kursiv geschrieben:

In der zitierten Entscheidung weist das BVerwG zunächst einmal darauf hin, dass allen Gerichten, kraft Bundesverfassungsrechts die Aufgabe obliegt, die Entscheidungen ihrer Spruchkörper der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Insoweit handelt es sich bei der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen um eine öffentliche Aufgabe.

Die Pflicht umfasst dabei alle Entscheidungen, an deren Veröffentlichung die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann. Insoweit besteht sogar eine Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen. Diese Pflicht folgt aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und auch aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung: Gerichtliche Entscheidungen konkretisieren die Regelungen der Gesetze; auch bilden sie das Recht fort (vgl. auch § 132 Abs. 4 GVG). Schon von daher kommt der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen eine der Verkündung von Rechtsnormen vergleichbare Bedeutung zu.

Und, wem dies noch zu abstrakt ist, dem führt das BVerwG vor Augen, warum solche Veröffentlichungen gerade für den Bürger von grosser Bedeutung sind: dieser muß zumal in einer zunehmend komplexen Rechtsordnung zuverlässig in Erfahrung bringen können, welche Rechte er hat und welche Pflichten ihm obliegen; die Möglichkeiten und Aussichten eines Individualrechtsschutzes müssen für ihn annähernd vorhersehbar sein.

Woraus wiederum das BVerwG sein Ergebnis zieht: Ohne ausreichende Publizität der Rechtsprechung ist es dem Bürger nicht möglich, diese Kenntnis zu erlangen, denn die Rechtsprechung in einem demokratischen Rechtsstaat und zumal in einer Informationsgesellschaft muß sich – wie die anderen Staatsgewalten – auch der öffentlichen Kritik stellen. Dabei geht es nicht nur darum, daß in der Öffentlichkeit eine bestimmte Entwicklung der Rechtsprechung als Fehlentwicklung in Frage gestellt werden kann. Dem Staatsbürger müssen die maßgeblichen Entscheidungen auch deshalb zugänglich sein, damit er überhaupt in der Lage ist, auf eine nach seiner Auffassung bedenkliche Rechtsentwicklung mit dem Ziel einer (Gesetzes-)Änderung einwirken zu können.

Das Demokratiegebot wie auch das Prinzip der gegenseitigen Gewaltenhemmung, das dem Grundsatz der Gewaltenteilung zu eigen ist, erfordern es, daß auch über die öffentliche Meinungsbildung ein Anstoß zu einer parlamentarischen Korrektur der Ergebnisse möglich sein muß, mit denen die rechtsprechende Gewalt zur Rechtsentwicklung beiträgt. Nicht zuletzt dient es auch der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege für die Aufgabe der Fortentwicklung des Rechts, wenn über die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen eine fachwissenschaftliche Diskussion ermöglicht wird.

All dies – wie schon angemerkt, von mir weitgehend wörtlich zitiert – hat das BVerwG schon 1997, ja, tatsächlich, „veröffentlicht“. Und diese Äusserungen des Bundesgerichts sind eigentlich auch recht leicht verständlich, weswegen ich sie ja umfänglich übernehmen konnte – nur am Landgericht Mannheim scheinen sie weitgehend spurlos vorbeigegangen zu sein. Aber vielleicht liest man dort keine obergerichtlichen Entscheidungen (zumal dann, wenn sie auch noch aus einer anderen Fachgerichtsbarkeit stammen), und zieht sich lieber auf das Gesetz zurück; und tatsächlich, ein solches gibt es für das Veröffentlichungsgebot nicht.

Doch dumm gelaufen für das Landgericht Mannheim, denn es braucht gar kein solches Gesetz, so das BVerwG weiter:

Zur Begründung der Pflicht der Gerichte, der Öffentlichkeit ihre Entscheidungen zugänglich zu machen und zur Kenntnis zu geben, bedarf es bei dieser Verfassungslage keiner speziellen gesetzlichen Regelung; eine solche hätte lediglich klarstellende Bedeutung.

Und trotzdem findet das BVerwG (in Übereinstimmung mit seinen Vorinstanzen) sogar eine Rechtsnorm, sozusagen der Gürtel zum Hosenträger: § 5 Abs. 1 UrhG . Dort werden nämlich ausdrücklich „Entscheidungen und amtliche Leitsätze“ vom Urheberschutz ausgenommen und für gemeinfrei erklärt. Daraus leitet sich zwar keine Pflicht zur Veröffentlichung ab, sie setzt aber eine solche Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen voraus.

Doch ohne pflichtmäßige Mitwirkung der Gerichtsverwaltung und der Richter bei der Erstellung herausgabefähiger Entscheidungsabdrucke und amtlicher Leitsätze (vgl. zur Definition BGHZ 116, 136) läßt sich nach Auffassung des BVerwG die Gemeinfreiheit von Gerichtsentscheidungen und amtlichen Leitsätzen nicht realisieren. Also muß der Gesetzgeber bei dieser Regelung das Bestehen entsprechender Pflichten mitbedacht und auch konkret vorausgesetzt haben.

Und das BVerwG findet noch weitere treffende Argumente für eine Veröffentlichungspflicht: sie habe ihre Grundlage auch in dem leitenden Grundsatz des Prozeßrechts der Öffentlichkeit gerichtlicher Verhandlungen und Urteilsverkündungen (vgl. u.a. § 55 VwGO i.V.m. §§ 169, 173 GVG), geht aber über diesen – wie ausgeführt – hinaus.

Und wenn die Pflicht dem Grunde nach besteht, dann gilt sie eben  grundsätzlich auch für die Instanzgerichte und hier insbesondere für die Obergerichte, sie läßt sich nicht allein auf Entscheidungen der obersten Bundesgerichte beschränken, so das BVerwG. Diesen Gerichten ist zwar durch das Prozeßrecht die Entscheidung grundsätzlich bedeutsamer Fragen, die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortentwicklung des Rechts in herausgehobener Weise aufgetragen. Es gelangen aber durchaus nicht alle grundsätzlichen oder doch das Allgemeininteresse berührenden Rechtsstreitigkeiten zu ihnen.

Stellt sich für das BVerwG noch die Frage der Veröffentlichungswürdigkeit im Allgemeinen: eine solche könne auch über das Revisionsrecht hinaus gegeben sein, wenn durch eine Entscheidung allgemein anerkannte Rechtssätze oder deren Anwendung, die bis dahin weniger im Blickfeld stehen, berührt werden. Die Veröffentlichungswürdigkeit beurteile sich dabei ausdrücklich aus der Sicht derjenigen, die mit der Publikation erreicht werden sollen.

Maßgeblich sind also das tatsächliche oder mutmaßliche Interesse der Öffentlichkeit und das Interesse derjenigen, die in entsprechenden Angelegenheiten um Rechtsschutz nachsuchen wollen.

So weit das Bundesverwaltungsgericht. Und was hilft uns dies im konkreten Fall Kachelmann?

Nun, man muss der Entscheidung wohl entnehmen, dass das Urteil und seine Begründung zu veröffentlichen sind – allein das öffentliche Interesse an dem Prozess ist genügend Rechtfertigung hierzu. Und damit besteht grundsätzlich ein Anspruch der Öffentlichkeit an der Kenntnis von der schriftlichen Urteilsbegründung.

Doch wer ist nun dazu berufen, das Urteil zu lesen, zu kommentieren und sodann zu veröffentlichen. Lesen wir das BVerwG weiter:

Zunächst stellt es klar, dass auch für die Veröffentlichungspraxis selbst keine Rechtsnormen vorliegen – logisch, da ja auch die Veröffentlichung an sich nicht extra in einem Gesetz normiert ist. Deswegen macht das Gericht sich intensive Gedanken zum Procedere einer solchen Veröffentlichung:

Zunächst weist es darauf hin, dass natürlich die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten, der Datenschutz und zB. das Steuergeheimnis, aber auch die strikte Gleichbehandlung bei der Herausgabe zu überwachen ist. Daraus entwickelt das BVerwG eine zweistufige Verfahrensweise:

Auf der ersten Stufe ist ein öffentlich-rechtlich bestimmtes Handeln der Gerichtsverwaltung zunächst insoweit unumgänglich, als veröffentlichungswürdige Gerichtsentscheidungen konkret ausgewählt werden. Das wiederum kann auf zweierlei Weise geschehen: Zum einen ist eine „amtliche Auswahl“ zu treffen, und zwar dies aus der Sicht des mit der Materie befaßten Richters bzw. seines Spruchkörpers. Zum anderen ist die Gerichtsverwaltung gehalten, die Auswahl um diejenigen Entscheidungen zu ergänzen, an deren Veröffentlichung ersichtlich ein öffentliches Interesse besteht.

Und nun wird es das erste Mal richtig spannend: was ist denn nun ein solches öffentliches Interesse? Nach dem BVerwG ist dieses

… in der Regel bei entsprechenden Anfragen aus der Öffentlichkeit zu bejahen. Dies gilt regelmäßig auch für die private Anforderung zu Zwecken der privaten Veröffentlichung.

Zur ersten Stufe des notwendig öffentlich-rechtlichen Handelns zählt weiterhin die Herstellung einer herausgabefähigen , d.h. insbesondere anonymisierten und neutralisierten Fassung der zur Veröffentlichung vorgesehenen Entscheidungen.

Wie allerdings die Gerichtsverwaltung im Anschluß an diese erste Stufe des notwendig öffentlich-rechtlichen Handelns verfährt, ist ihrem pflichtgemäßen Ermessen überantwortet. Sie kann durch entsprechenden Organisationsakt eine Regelung treffen, daß sich eine zweite Stufe anschließt, in der sie sich aus Gründen der Effektivität der Aufgabenerfüllung, der Kostenersparnis oder der Verwaltungsvereinfachung die Privatinitiative Dritter einschließlich etwa der im Gericht tätigen Richter zunutze macht. Insbesondere die Herstellung einer veröffentlichungsfähigen Fassung der Entscheidung und der weitere Vorgang der Veröffentlichung als solcher können sich nach den Regeln des Privatrechts vollziehen. Dies geschieht dann aber nicht etwa aufgrund eines originären Verwertungsrechtes Dritter, sondern eben nach Maßgabe des Organisationsaktes.

Ziemlich kompliziert das Ganze, aber man kann es etwas einfacher ausdrücken: jede Entscheidung, die entweder von den Richtern selbst oder aber von jedem interessierten Dritten als veröffentlichungswürdig angesehen wird, ist in eine anonymisierte und neutralisierte Fassung zu bringen und sodann herauszugeben.

Und, mal ehrlich, warum sollte gerade das schriftliche Urteil im wohl medienwirksamsten Prozess Deutschlands während der letzten rund 18 Monate gerade ein solches sein, welches nicht veröffentlichungswürdig ist?

Halten wir also fest: nach meiner Einschätzung kann das Landgericht Mannheim eine Übersendung des Urteils im Fall Kachelmann in anonymisierter und neutraler Fassung einschliesslich der Urteilsgründe nicht verweigern. Es verstösst damit zunächst eindeutig gegen verfassungsrechtliche Grundsätze, so wie dies das BVerwG umfassend dargelegt hat.

Aber halt, werden jetzt einige einwenden, da steht doch noch etwas von „betroffenen Persönlichkeitsrechten“, die geschützt werden müssen und die sogar einer anonymisierten und neutralisierten Veröffentlichung entgegenstehen sollen.

Interessant ist, dass Herr Dr. Bock in seiner Presseerklärung weder den Gärtner noch denjenigen benennt, dessen Persönlichkeitsrechte geschützt werden sollen. Fragen wir uns also mal, wer denn gemeint sein könnte:

  • Das Gericht? Wohl eher nicht, denn die kritische Auseinandersetzung mit einer Prozessführung, mit einem Urteil und auch mit einer Urteilsbegründung verletzen sicherlich keine Persönlichkeitsrechte der insoweit ja nicht persönlich, sondern als Mitglieder des Spruchkörpers, tätigen Personen.
  • Die Staatsanwaltschaft? Nun, auch wenn man insbesondere bei Lars Torben O. (der Staatsanwalt mit der beeindruckenden Frisur und der glockenhellen Countertenor-Stimme) während des Verfahrens den Eindruck gewinnen konnte, dass seine persönliche Betroffenheit doch das übliche Mass zumindest zeitweise massiv überstieg – in einem solchen Masse, dass er sogar alle Grundsätze des Strafprozesses über Bord warf und sich in der Prozesskommentierung zu der epochalen Aussage hinreissen liess, ein Beweismittel habe nicht die Unschuld des Angeklagten erweisen können; wohl dem, der solchen Staatsanwälten nicht ausgeliefert ist. Aber letztendlich handelte auch er nur als Vertreter der „objektivsten Behörde der Welt“ und wird deswegen durch eine Urteilsbegründung sicherlich nicht in seinen Persönlichkeitsrechten betroffen – und seine Kollegen ebenfalls nicht, so vernichtend unter Umständen die Kritik an der „staatlichen Kavallerie“ auch im schriftlichen Urteil eigentlich sein müsste.
  • Die Zeugen – Verzeihung, bei dem weit überwiegenden Teil dieser Gruppe von Beteiligten muss es wohl eher Leumundszeuginnen heissen (was auch immer das sein mag)? Wohl ebenfalls nicht, denn wir reden ja über eine anonymisierte und neutralisierte Fassung des Urteils: diejenigen Zeuginnen und zeugen, die sich nicht in diversen Boulevardblättern gegen mehr oder weniger üppige Honorare als Gespielinnen des Wettermoderators „geoutet“ haben, dürften mit der Veröffentlichung keine Probleme haben – und die übrigen haben ihre Persönlichkeitsrechte ja selbst nach der Auffassung des Vorsitzenden Richters schon in einem solchen Masse zu Markte getragen und zu Geld gemacht, dass das Interesse der Öffentlichkeit an einer effektiven Überprüfung des Handelns der Gerichte bei weitem deren Betroffenheit in ihren Persönlichkeitsrechten überwiegt; und diejenigen Zeuginnen, die nach ihren Zeugenaussagen ihre Aussagen noch bei deren Abdruck in Presseerzeugnissen „aufgepeppt“ haben, können für die Verhinderung des Aufdeckens solcher Unterschiede schon mal gar keinen Schutz verlangen. Bleiben noch die verschwindend geringe Zahl an Zeugen, die öffentlich aussagen mussten (dies war schon schon fast ein Makel in diesem Prozess…): deren Aussagen sind sowieso schon dutzendfach ventiliert, da kommt es nun auf die Urteilsbegründung auch nicht mehr an.
  • Die Sachverständigen? Denen wird es egal sein, ob man sie erkennen kann oder nicht – geschieht dies doch zwingend in jedem Prozess, an dem sie teilnehmen: es ist immer ohne grosse Probleme nachzuvollziehen, welcher Sachverständige an dem jeweiligen Prozess beteiligt war.
  • Bleiben also noch der Angeklagte und die Nebenklägerin…

Mit Letzteren und ihren Rechten werden wir uns also näher auseinander setzen müssen, denn nur diejenigen können es ja sein, die Dr. Bob im Dschungelcamp der bösen öffentlichen Meinung durch Begründungsquarantäne zu schützen sucht; und dazu werden wir uns wieder mit einer Gerichtsentscheidung befassen müssen – allerdings, wer es denn nun gar nicht mehr aushält, der kann ja schon vorab dem Link zum Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg folgen: VGH Baden-Württemberg: Löschung einer veröffentlichten Gerichtsentscheidung. (Auch hier gilt: die im Folgenden kursiv gedruckten Stellen sind diejenigen, die weitgehend wörtlich übernommen sind).

Ich für meinen Teil verspreche, nach ein paar kurzen Einleitungssätzen auf diese Entscheidung zurück zu kommen: vorab allerdings, so denke ich, sollte man sich schon einmal die Zeit nehmen, zu überlegen, wessen Persönlichkeitsrechte da eigentlich betroffen sein sollen:

Da ist auf der einen Seite der inzwischen freigesprochene Angeklagte, der praktisch direkt im Anschluss an die Urteilsverkündung sich in einer der auflagenstärksten deutschen Zeitungen zu Wort meldete und dort die Anzeigeerstatterin einer Straftat bezichtigte.

Und da ist auf der anderen Seite eine mutmassliche Falschbeschuldigerin, die ebenfalls über ein auflagenstarkes, im gesamten deutschsprachigen Raum vertriebenes Boulevardblatt nach dem Freispruch des Angeklagten den Vorwurf, er habe zu ihren Lasten eine Straftat begangen, laut und deutlich wiederholte – so laut und so deutlich, dass dies einem vielleicht ein bisschen besser orientiertem Gericht als dem in Mannheim zu bunt wurde und sie diesem Treiben ein Ende bereitete.

Bitte,verstehen Sie mich nicht falsch, ich werte beide „Homestorys“ in keiner Weise moralisch, es geht mir nur darum, dass beide Seiten Alles unternommen haben, um ihre Sicht der Sinne in der Öffentlichkeit publikumswirksam zu platzieren. Und wenn man dies mal als Fakt im Hinterkopf behält, dann wird man wohl verstehen, dass ich mir schon die Frage stelle: welche Persönlichkeitsrechte sind denn da noch durch die Veröffentlichung der Urteilsbegründung zu verletzen?

Und dann bedenke man noch Folgendes: da ist ja auch noch der Vorsitzende Richter Michael Seidling mit seiner mündlichen Brandrede, der neben dem unappetitlichen Hieben weit unter der Gürtellinie gegen den Angeklagten, gegen seinen Verteidiger, gegen die bösen Medien und das noch bösere Internet sowie die äusserst fürsorgliche Anteilnahme für Nebenklägerin und Lars Torben O. auch nichts Anderes im Sinn hatte als Stimmungsmache – wobei ich diese noch nicht einmal im negativen Sinne verstehe: er offenbarte damit seine – nach meiner Einschätzung ziemlich einseitige – Sicht auf den Prozess, und dies natürlich in Kenntnis und unter Ausnutzung des Umstandes, dass die mündliche Urteilsbegründung (die formale Rechtfertigung für diese …)  keinerlei rechtliche Relevanz, dafür aber eine erhebliche Medienwirksamkeit erhalten werde.

Doch genug der Einleitung; stürzen wir uns nun also in die Abgrenzung zwischen den Rechten der Öffentlichkeit – die nicht zuletzt der Kontrolle der Justiz dienen – und den doch durch deren eigenes Tun ziemlich eingeschränkten Persönlichkeitsrechten der Nebenklägerin und des Freigesprochenen, und ziehen wir dazu die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg heran:

So weit die mehr als dürren Worte des Herrn Dr. Bock überhaupt einen Rückschluss auf die Intention des Gerichts zur Sperre der Urteilsgründe zulassen, meint man dort in Mannheim wohl, eine Veröffentlichung schon deswegen verweigern zu können, weil immer die beiden Hauptpersonen erkennbar bleiben würden, egal, wie stark man das Urteil kürze. Das allein ist aber nun einmal kein Hinderungsgrund für eine Veröffentlichung, wie der VGH schon in seinem ersten Leitsatz feststellt:

„Die Veröffentlichung einer Gerichtsentscheidung kann, auch wenn eine Prozesspartei ohne großen Aufwand bestimmbar und die Entscheidung damit nicht im datenschutzrechtlichen Sinne anonymisiert ist, bei einem überwiegenden Informationsinteresse der Öffentlichkeit gerechtfertigt sein.“

Das Gericht begründet dies auch sehr einleuchtend: Würde nämlich bereits eine einfache „Rückverfolgbarkeit“ zur Unzulässigkeit der Veröffentlichung führen, könnte den Informationsansprüchen der Bürger, die ihre Grundlage ebenfalls im Verfassungsrecht finden (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), auf bestimmten Rechtsgebieten kaum noch Rechnung getragen werden.

Wir leben nun einmal in einer Informationsgesellschaft, und fast jede grössere Straftat löst ein mehr oder weniger grosses Medienecho aus – wenn man dann jede dieser Entscheidungen für die Öffentlichkeit sperren würde, hätte man praktisch eine Strafjustiz, die bzgl. der Kapitalverbrechen einer Geheimjustiz gleichkäme. Wollen wir das? Wohl kaum – jedenfalls ausserhalb der Mauern des Landgerichts in Mannheim.

Doch natürlich hat das Informationsinteresse der Öffentlichkeit Grenzen, und auch mit diesen setzt sich der VGH auseinander:

„Das Schutzinteresse des Betroffenen am Ausschluss der Veröffentlichung kann überwiegen, soweit es um besonders sensible Daten geht.“

Bevor man diesen Leitsatz richtig einordnen kann, wird man sich wohl mit den Rechtsgrundlagen ein wenig näher auseinander setzen müssen: da steht auf der einen Seite das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen, auf der anderen Seite das Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Und dabei handelt es sich um eine Einzelfallabwägung unter Heranziehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und unter Berücksichtigung des Verwendungszusammenhangs der Daten. Je näher die Daten zum unantastbaren Persönlichkeitskern stehen und je geringer daher ihr Sozialbezug ist, desto intensiver ist ihr Schutz gegenüber staatlichen Eingriffen.

Weder das Geheimhaltungsinteresse des Einzelnen noch das Informationsbedürfnis der Allgemeinheit genießt generellen Vorrang. Denn beiden Belangen misst die Verfassung wesentliche Bedeutung zu, ohne abstrakt-generell ein Rangverhältnis zu begründen. Vielmehr ist regelmäßig ein praktischer Ausgleich herbeizuführen, der unzumutbare Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen vermeidet, zugleich aber sicherstellt, dass eine ausreichende Informierung der Öffentlichkeit über eine getroffene Entscheidung erfolgen kann.

Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit muss nicht bereits deshalb zwingend zurückstehen, weil eine Entscheidung nicht hinreichend anonymisiert ist und eine datenschutzrechtlichen Anforderungen genügende Anonymisierung angesichts des Streitgegenstandes und der Umstände des Falles auch kaum möglich erscheint.

So also der VGH, der dann im Folgenden sehr genau unterscheidet zwischen den persönlichen Angaben in einem Urteil, welche für die Allgemeinheit von untergeordnetem Interesse sind und deswegen nicht weitergegeben werden dürfen, und den tat- und sachbezogenen Angaben im Urteil, bei denen das Informationsrecht der Öffentlichkeit überwiegt.

Dabei geht der VGH sogar so weit, sämtliche Daten bzgl. des sozialbezogenen Verhaltens des dortigen Antragstellers – konkret die Darstellung seines beruflichen Werdegangs, die Erwähnung der Vielzahl der von ihm geführten Bewerberschutzverfahren sowie die beschreibende Bewertung seiner Prozessführung – als nicht schützenswert anzusehen; Tabu sei lediglich die Privat- oder Intimsphäre – so zB. Angaben zu psychiatrischen Untersuchungen und deren Ergebnissen – doch nur insoweit, als deren Kenntnis nicht für das Verständnis der Entscheidung zwingend erforderlich ist.

Insgesamt zieht das Gericht also den konkreten Schutzbereich für den Betroffenen sehr, sehr eng, und es bestimmt, wer die relevanten Kürzungen der zu veröffentlichenden Entscheidung durchzuführen hat:

„Sind zur Herstellung einer veröffentlichungsfähigen Fassung einer Gerichtsentscheidung inhaltliche Kürzungen geboten, so können diese nur von dem Richter bzw. von dem Spruchkörper vorgenommen werden, der die Entscheidung gefällt hat.“

So weit also der VGH Baden-Württemberg; und Ihnen einen Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie bis hierher vorgedrungen sind, denn meine Ausführungen sind doch ganz schön lang geworden; fassen wir sie trotzdem noch einmal zusammen – so, wie ich die Entscheidungen der Gerichte verstehe:

  • Es besteht eine Verpflichtung der Gerichte zur Veröffentlichung ihrer Entscheidungen, und zwar schon dann, wenn irgendeine Privatperson ein nicht völlig abwegiges Interesse an deren Kenntnis hat.
  • Die Veröffentlichung hat anonymisiert und neutralisiert zu erfolgen, wobei ein einfacher Rückschluss auf die betroffene Person allein nicht automatisch das Informationsrecht der Öffentlichkeit überwiegt und damit allein mit dem Hinweis auf betroffene Persönlichkeitsrechte die Verweigerung zur Veröffentlichung nicht gerechtfertigt werden kann.
  • Der geschützte Kernbereich des Betroffenen bezieht sich allein auf seine engste Privat- und Intimsphäre – und auch nur insoweit, als die Informationen nicht erforderlich sind, um die tragenden Gründe einer Entscheidung zu verstehen.

Und was heisst das jetzt nach meiner unmassgeblichen Meinung für den Fall Kachelmann?

Nehmen wir uns mal den Aufbau eine Strafurteils vor, so, wie es „lege artis“ zu erstellen wäre und setzen es in Beziehung zum denjenigen, welches unter Verschluss gehalten wird (vielleicht ja in dem Tresor, den der dortige Präsident extra angeschafft haben will):

  1. Grundsätzlich ist das Urteil herauszugeben.
  2. Die Parteien und ihre Prozessbevollmächtigten sowie sämtliche sonstigen Namen und Adressen von Beteiligten sind komplett zu schwärzen – wobei dies natürlich bzgl. eines Teils der Handelnden dann doch eher rührend wirken würde, so, wie diese sich in den Medien im Laufe des Prozesses und danach positioniert haben.
  3. Der Schuldspruch – in diesem Fall Freispruch – bleibt natürlich erhalten.
  4. Die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten dürften zum Verständnis des Urteils nicht erforderlich sein, sodass sie jedenfalls weitgehend zu schwärzen sind. Letztendlich sind sie bei einem Freispruch inhaltlich eigentlich entbehrlich, allerdings formal vorgeschrieben – worauf Richter Seidling ja mehrmals eindringlich hinwies.
  5. Die Feststellungen und die Beweiswürdigung sind praktisch komplett zu veröffentlichen, ob hier bestimmte Teile gekürzt werden können, hat das Landgericht Mannheim in einer durch andere Gerichte überprüfbaren Art und Weise zu entscheiden anhand der Kriterien, ob diese Informationen in die Privat- und Intimsphäre eines Beteiligten fallen und gleichzeitig nicht erforderlich sind, um das Urteil nachvollziehen zu können – wobei man allerdings ausdrücklich anmerken muss, dass jeder Referendar im zweiten Staatsexamen, der in den Feststellungen einer Urteilsbegründung Tatsachen objektiver oder subjektiver Art erwähnt, die für die Begründung des Urteils und damit für dessen Verständnis nicht erforderlich sind, dafür eine deutliche Quittung bei der Bewertung erhalten würde.
  6. Die rechtliche Würdigung kann zwingend keiner Kürzung unterliegen.
  7. Gleiches gilt für die Rechtsfolgen – immerhin handelt es sich ja um einen Freispruch, sodass dieser unproblematisch enthalten sein kann.

Es zeigt sich also: nimmt man die zitierten Entscheidungen ernst(wobei diese nur exemplarisch für eine ganze Reihe weiterer Entscheidungen stehen, denn es handelt sich hier ja nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung), dann kann man feststellen, dass die Verweigerung der Herausgabe der Urteilsgründe im Fall Kachelmann allein mit dem Hinweis auf betroffene Persönlichkeitsrechte auf Dauer keinen Bestand haben wird.

Und sollte das Landgericht Mannheim – mal wieder – den schon begonnenen Irrweg korrigieren, so werden auch die Kürzungen und Schwärzungen in dem zu veröffentlichenden Urteil keinen sehr grossen Umfang haben, denn insbesondere der Angeklagte und die Nebenklägerin werden nur so weit ein überwiegendes Recht auf informationelle Selbstbestimmung geltend machen können, als das Urteil Umstände enthält, die für sein Verständnis nicht erforderlich sind. Ich hoffe, dass sich Frau Richterin Bültmann diese Schwäche nicht (auch noch) geben wird.

Stellt sich abschliessend nur die Frage: wer macht sich auf den Weg, das Landgericht Mannheim auf den Pfad der Tugend zurück zu führen und den dort Handelnden zu erklären, dass die Zeit der Geheimurteile lange vorbei ist – Gott sei Dank!

Ich tue es jedenfalls nicht – aber es wird sicherlich Andere geben, davon bin ich eigentlich fest überzeugt; so könnte der Fall Kachelmann dann nicht nur eine neue Qualität in Bezug auf die Berichterstattung über Strafprozesse in den Medien aufzeigen, sondern auch noch zur Konkretisierung der Veröffentlichungspflichten der Gerichte führen – aber ob Dr. Bock das tatsächlich angestrebt hat? Das wäre schon eine sehr subtile Form des Anstosses einer Rechtsfortbildung.


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