Fall Kachelmann: Das Landgericht Mannheim hat geschrieben….

Erstellt am 6. Oktober 2011 von Stscherer

© D. Braun / pixelio.de

… und ich bin verwirrt.

Hintergrund ist, dass ich anlässlich des Verfahrens gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann beim Landgericht Mannheim nach dem Abschluss der ersten Instanz eine Urteilsabschrift in neutralisierter und anonymisierter Fassung beantragt habe. Die Einzelheiten kann man nachlesen:

Fall Kachelmann: Jetzt habe ich mich doch getraut! (Update05.10.2011) « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes.

Fall Kachelmann: Nicht nur die schriftlichen Urteilsgründe sind geheim! « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes.

Fall Kachelmann: Die geheime Urteilsbegründung des Landgerichts Mannheim « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes.

Und nun ging heute die Antwort des Vorsitzenden Richter am Landgericht Michael Seidling mit dem Datum 30.09.2011 ein; eine Urteilsabschrift war nicht beigefügt (ausdrücklicher Hinweis: Anlage(n) ./.), aber eine „Erklärung“:

Das Urteil sei bisher noch nicht rechtskräftig.

Aufgrund der fehlenden Rechtskraft käme die Erteilung einer Urteilsausfertigung nicht in Betracht.

Nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss sei gemäss §478 StPO die Staatsanwaltschaft die zuständige Auskunftsbehörde.

So weit die Zusammenfassung der fünf dürren Zeilen. Aber was sagen sie mir?

Zunächst einmal ergibt sich aus dem Schreiben die Information, dass am 30.09.2011 nach dem Kenntnisstand des Vorsitzenden der 5. Strafkammer des LG Mannheim noch keine Rechtskraft eingetreten war – die Rechtsmittelanträge der Staatsanwaltschaft Mannheim und/oder der Nebenklägerin waren also zu diesem Zeitpunkt nicht zurück genommen. Aber das ist nicht der Punkt, der mich verwirrt.

Anders sieht es schon aus bei der Frage der Verweigerung einer Herausgabe des Urteils aufgrund dieser fehlenden Rechtskraft; ich habe nämlich schon reihenweise Urteilsabschriften erhalten, die ausdrücklich den Hinweis auf die fehlende Rechtskraft erhalten – und dies ist auch leicht nachvollziehbar, denn insbesondere Rechtsmittel vor den Bundesgerichten ziehen sich nicht selten über mehrere Jahre hin, und trotzdem müssen die Urteile und Entscheidungsgründe der Vorinstanzen bekannt werden, um so an der Rechtsfortbildung teilnehmen zu können. Und sage jetzt niemand, dort seien die Informationen weniger dazu geeignet, Persönlichkeitsrechte zu tangieren: bei vielen von mir angeforderten (und erhaltenen) Entscheidungen geht es um meine eigentlichen drei Fachgebiete: das des Rechts der Leistungserbringer im Gesundheitswesen, des Familienrechts (auch und gerade im Bereich der elterlichen Sorge und des Umgangsrechts) und des Arbeitsrechts. Und gerade bei zu erwartenden Entscheidungen des Bundessozialgerichts kann die Öffentlichkeit nun wirklich nicht mehrere Jahre warten…

Dementsprechend ist dieser Argumentation des Herrn VRLG Seidling für mich nicht nachvollziehbar – und wirft sogleich eine weitere kritische Frage auf: handelt es sich bei der Entscheidung, ob eine Urteilsausfertigung – und wenn Ja, in welcher Form – herausgegeben wird, nicht um eine wiederum gerichtlich überprüfbare Ermessensentscheidung? Und wenn Ja, hat Herr VRLG Seidling dies Ermessen überhaupt und/oder richtig ausgeübt?

Da sind wir dann wieder bei der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts: BVerwG, Urteil vom 26.02.97, Az.: BVerwG 6 C 3.96.

Ich habe mich ja schon umfassender mit ihr auseinander gesetzt, deswegen hier nur Ausschnitte aus den Leitsätzen:

„Die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen ist eine öffentliche Aufgabe. Es handelt sich um eine verfassungsunmittelbare Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt und damit eines jeden Gerichts. Zu veröffentlichen sind alle Entscheidungen, an deren Veröffentlichung die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann. Veröffentlichungswürdige Entscheidungen sind durch Anonymisierung bzw. Neutralisierung für die Herausgabe an die Öffentlichkeit vorzubereiten.“

und

„Bei der Herausgabe von Gerichtsentscheidungen zu Zwecken der Veröffentlichung obliegt den Gerichten eine Neutralitätspflicht. Ihr entspricht ein Anspruch der Verleger von Fachzeitschriften wie auch von sonstigen Publikationsorganen auf Gleichbehandlung im publizistischen Wettbewerb. Die Übersendung von Gerichtsentscheidungen an Dauerbezieher muß möglichst gleichzeitig erfolgen. Die Herausgabe an Private einschließlich der privat tätigen Richter darf nicht so organisiert werden, daß bestimmte Verlage einen Wettbewerbsvorsprung erlangen können.“

Überlesen wir mal einen Augenblick den ersten Teil, denn der zweite Teil der – auszugsweise wiedergegebenen – Leitsätze zeigt eindeutig bzgl. des „Wie“ einer Veröffentlichung, dass die zur Herausgabe verpflichtete öffentliche Stelle eine gerichtlich überprüfbare, von Ermessen geprägte Entscheidung zu treffen hat. Nun, dann erlaube ich mir mal, den Schluss zu ziehen, dass auch die Entscheidung über das „Ob“ einer Veröffentlichung ermessensfehlerfrei getroffen werden muss. Und wenn Herr VRLG Seidling dann ausführt, aufgrund der fehlenden Rechtskraft der Entscheidung käme die Erteilung einer Urteilsausfertigung nicht in Betracht, dann habe ich zum einen Zweifel, dass er sein Ermessen überhaupt gesehen hat, und zum anderen Zweifel, ob er es auch nur ansatzweise – und dann auch noch richtig – ausgeübt hat.

Und ist schon dies merkwürdig, dann geht es gleich weiter mit der Bezugnahme auf §478 StPO:

§478 StPO

Über die Erteilung von Auskünften und die Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Die Staatsanwaltschaft ist auch nach Erhebung der öffentlichen Klage befugt, Auskünfte zu erteilen. Die Staatsanwaltschaft kann die Behörden des Polizeidienstes, die die Ermittlungen geführt haben oder führen, ermächtigen, in den Fällen des § 475 Akteneinsicht und Auskünfte zu erteilen. Gegen deren Entscheidung kann die Entscheidung der Staatsanwaltschaft eingeholt werden. Die Übermittlung personenbezogener Daten zwischen Behörden des Polizeidienstes oder eine entsprechende Akteneinsicht ist ohne Entscheidung nach Satz 1 zulässig.

(…)

(…)

Geht es bei meinem Antrag überhaupt um Auskünfte oder Akteneinsicht? Also um Akteneinsicht nicht, denn es geht um die Herausgabe eines öffentlichen und „Im Namen des Volkes“ gesprochenen Urteils in schriftlicher Form. Dies ist natürlich zu den Akten zu nehmen, aber dadurch wird es nach meiner Einschätzung trotzdem nicht per se allein Teil der Akte und unterfällt deswegen auch nicht dem Akteneinsichtsrecht. Und eine Auskunft zum Verfahren ist es nun schon einmal gar nicht.

Noch einmal: hier geht es um ein öffentlich verkündetes Urteil und nicht um ergänzende Informationen aus den Akten.

So sieht es wohl auch das Bundesverwaltungsgericht, womit ich beim ersten Teil der oben zitierten Leitsätze bin: das BVerwG sieht die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen als eine öffentliche Aufgabe an, die auf einer verfassungsunmittelbaren Pflicht beruht. Das BVerwG bezieht sich also gerade nicht auf einfachgesetzliche Regelungen, sondern verweist direkt auf die Verfassung selbst. Und es weist die Aufgabe streng der rechtsprechenden Gewalt und damit den Gerichten zu. Und da bringt mich Herr VRLG Seidling doch ziemlich ins Nachdenken, denn bei einer verfassungsunmittelbaren Aufgabe der Gerichte verweist dieser mich nun auf die Staatsanwaltschaft? Die Staatsanwaltschaft aber ist doch ein Organ der Exekutive, von den Gerichten unabhängig und den Richtern weder über- noch unterstellt. Kann der Gesetzgeber einzelgesetzlich eine verfassungsunmittelbare Verpflichtung in einen anderen Bereich der Gewalten verwiesen haben?

Ich für meinen Teil halte es da lieber doch mit dem Bundesverwaltungsgericht – und mich deswegen auch weiterhin an Herrn VRLG Seidling. Also schreibe ich ihm nun auch eine Antwort – und hoffe, dass man in Mannheim bald seine Verweigerungshaltung aufgibt und das schriftliche Urteil veröffentlicht.