Faktoren für die Bewertung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Von Der_reduzierer @der_reduzierer

Zunehmend stoße ich im Netz auf Artikel zum Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bspw. bei Johnny, mamadenkt oder auch in der Zeit. Ausführungen und (vor allem!) Kommentare hinterlassen bei mir den Eindruck, dass hierüber sehr pauschalisierend geschrieben, gedacht und geurteilt wird. Ich denke aber, dass keine familiäre Situation der anderen gleicht, dass jedes System individuell ist und in seinem ganz eigenen Kontext Mittel und Wege finden muss, um gesund funktionieren zu können. Seit einiger Zeit denke ich über verschiedene Faktoren nach, die für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kennzeichnend sein könnten. Nachfolgend der Versuch, diese aufzuschlüsseln.

(Hinweis: U.U. sind die Faktoren total irrelevant, nicht vollständig oder was immer. Vielleicht nähere ich mich dem Thema auch von einer völlig falschen Seite. Umso mehr freu ich mich auf eure Reaktionen)

Faktor 1: Der Arbeitgeber
Ich weiß mich glücklicherweise in einem Beschäftigungsverhältnis, dass viel Flexibilität ermöglicht, das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Blick hat und im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten gesund fördert. Trotzdem gilt hier nicht entweder-oder. Es gibt Arbeitgeber die räumen den Angestellten alle erdenklichen Möglichkeiten ein und unterstützen zu 100%. Andere Arbeitgeber zeigen überhaupt kein Verständnis. Unterstützung hier also: 0%. Was ist mit Arbeitgebern, die gerne würden aber nicht können? Was ist mit Berufen in denen keine oder kaum Unterstützung möglich ist? Viele Arbeitgeber würden gerne 100% geben, können aber nur für 40, 60 oder 70% Zugeständnisse in Sachen qualitativer Familienzeit einräumen...

Faktor 2: Die familiäre Situation
Dieser Punkt kann in diverse Unterfaktoren gegliedert werden. Wahrscheinlich sind hier am ehesten messbare Werte zu finden. Wie viele Kinder gehören zur Familie? Wie alt sind die Kinder? Ist hier eher Entertainment oder logistisch-organisatorisches Zusammenleben erforderlich? Ist die Familie komplett/beide Elternteile noch da oder müssen darüber hinaus getrennte Haushalte berücksichtigt werden? Unsere Situation mit drei Kindern (Schule, Kiga, zu Hause) ist nicht unbedingt komplexer, aber dennoch ganz anders zu beurteilen, als die eines alleinerziehenden Elternteils mit 5 Kindern und pflegebedürftiger Oma im Gästezimmer oder einer dreiköpfigen Familie in der nur der Papa/nur die Mama arbeiten geht und zu deren Haushalt darüber hinaus noch ein hochaktives, frisch verrentnertes Oma-Opa-Pärchen gehört.

Faktor 3: Prägung und Werte des familiären Systems
Aus welchen Kontexten ist die Familie zusammengesetzt? Wie haben die Eltern der Eltern Vereinbarkeit gelebt? Inwiefern wurden Werte auf die Kinder übertragen? Ist bei beiden Elternteilen überhaupt Bedarf an einem Mehr an Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorhanden? Muss es so sein, dass der Vater der Hauptverdiener ist oder wäre es auch andersherum denkbar?

Faktor 4: Netzwerk
Je nachdem wie das Thema Vereinbarkeit angedacht wird, kann auch das Netzwerk, bestehend aus Familie, Freunden und Nachbarn, einen tragenden Faktor darstellen. Wird Vereinbarkeit von Familie und Beruf primär als Entlastung für die Familie behandelt, kann die Zeit die der Berufstätige mit der Familie verbringt qualitativ ganz anders gefüllt sein, wenn ein unterstützendes Netzwerk die Familie in den Zeiten trägt, in denen der Berufstätige (noch) nicht da ist.

Faktor 5: Ortsbedingte Gegebenheiten
Ich würde vermuten, dass in Ballungszentren sehr viel eher die Möglichkeit gegeben ist, einen Stellenwechsel zu erzwingen. Bspw. dann, wenn ein alternativer Arbeitgeber gefunden werden muss, der Vereinbarkeit besser unterstützt, als der gegenwärtige. Aber auch messbare Faktoren spielen hier eine Rolle: Wie weit sind/Wie lange dauern die Wege zur Arbeit und nach Hause? Habe ich einen Arbeitgeber, der mir aus Gründen der Vereinbarkeit bei wenig Wochenstunden ein verhältnismäßig hohes Gehalt anbieten kann, muss dafür aber Anfahrtswege von mehr als zwei Stunden in Kauf nehmen, bleibt für gelebte Vereinbarkeit zu wenig Zeit. Betreibt der Vater eine Schreinerei direkt neben dem Wohnhaus ist zwar eine direkte Nähe zur Familie gewährleistet, deren Wert aber sehr gering ausfällt, wenn der Betrieb mit über 70-Wochenarbeitsstunden am Leben gehalten werden muss. Wie nahe ist das Netzwerk? Großeltern 200 km weit entfernt oder im nächsten Haus/Dorf?

Faktor 6: Sonstige Voraussetzungen
Bleibt mir, aus welchen Gründen auch immer, nichts anderes übrig als zwischen Schichtdienst im Fastfood-Imbis, dem gelegentlichen Putzen diverser Gewerberäumlichkeiten oder dem unregelmäßigen Erteilen von Nachhilfeunterrichtsstunden zu jonglieren, kommt das Thema Vereinbarkeit vermutlich gar nicht erst auf den Tisch. Falls aber doch, bestehen kaum Möglichkeiten mit Arbeitgebern Kompromisse zu finden, da man aufgrund evtl. finanzieller Nöte froh ist, überhaupt Einnahmequellen zu haben. Kündigungen, Arbeitgeberwechsel oder die Arbeit vollständig an den Nagel zu hängen, sind eher schlechte Kompromisse.

Fazit
Ich muss ehrlich zugeben, dass es mir sehr schwer fällt, dieses Thema zu fassen und hier eindeutig Stellung zu beziehen. Wie wurde das Thema behandelt, als ich noch Kind war? Mein Pa ging arbeiten, meine Ma hat uns Kinder, den Haushalt später außerdem Oma und Opa und danach ihren Wiederberufseinstieg organisiert. Und soweit ich mich erinnern kann, war das eine allgemeingültige Situation unter 90% meiner Klassenkameraden. Von Vereinbarkeit hat da niemand gesprochen. Zumindest ich als Kind, habe das nicht als negativ empfunden. Auch wüsste ich nicht, dass mein Vater gesundheitliche Konsequenzen aus dieser Zeit in Kauf nehmen musste oder dass meine Mutter gerne eine andere Rolle gelebt hätte. Ich liebe, wertschätze und empfinde sehr viel Dankbarkeit gegenüber meiner Eltern und dem, was sie für uns Kinder geleistet haben. Ich würde mich nie erdreisten meinem Vater zu unterstellen, dass er gefälligst noch mehr Zeit mit mir hätte verbringen müssen. Schließlich ist er nicht seiner Freizeit nachgegangen, sondern hat sich um die Versorgung der Familie gekümmert. Ob er sich dabei selbstverwirklichen konnte oder besonders viel Spaß und Befriedigung in seinem Job gefunden hat, würde ich nicht unbedingt bestätigen. Es war eher neutral. Das, was getan werden musste.

Vorschlag
Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass eine Pauschalisierung des Themas Vereinbarkeit nicht möglich ist. Auch wehre ich mich dagegen, dass es tolle Vorzeigeeltern geben soll, die das ganze eben gut hinbekommen und solche Eltern, die gefälligst mal den *rsch hochkriegen, sich nicht mit Ausreden schmücken und an ihrer Situation schleunigst etwas verändern sollten. Oft sind es die äußerden Rahmenbedingungen, die Vereinbarkeit ermöglichen oder nicht. Der eigene Wille hin zu gelebter Vereinbarkeit mag allerdings ein entscheidendes Zugpferd sein, geb ich zu.

Was man bräuchte, wäre ein Informationsportal, in dem Arbeitgeber und Familien von Modellen und Methoden berichten, die bei ihnen gut funktionieren. Hier müsste ein Stöbern nach beispielhaften Situationen möglich sein, die sich Deckungsgleich zum eigenen Alltag gestalten und die Denkanstöße und Ideen liefern, das eigene Konzept dahingehend zu verändern/zu verbessern. Nach dem Motto: „Wir sind zu fünft, wir haben ein Haus, wir machen es so." Oder: „Ich bin alleinerziehend, habe zwei Kinder, ich mache es so." Oder: „Um das Thema Vereinbarkeit unter unseren Angestellten zu ermöglichen, haben wir das, das und das initiiert."

Soweit ein paar Gedanken. Was denkt ihr? 😉