“Extrem aggressive Arbeitsmarkt-Reform” nach deutschem Vorbild

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Wenn Mitarbeiter billiger werden und man sie problemloser feuern kann, werden ganz viele neue Arbeitsplätze entstehen. Nach diesem Motto neoliberaler Glaubenssätze hat die neue spanische Regierung am Freitag mit einem Handstreich über Nacht ein neues Gesetz eingeführt, ohne den Gewerkschaften auch nur Gespräche darüber anzubieten. Der konservative Regierungschef Rajoy weiss selbst, dass ihm jetzt ein Generalstreik ins Haus steht. Er sollte sich warm anziehen, denn seine Partei hatte so etwas 2002 schon einmal versucht und musste die gesamte Reform am Ende wegen heftiger Proteste wieder kassieren.

Mariano Rajoy (Partido Popular, PP) hat die Neuerung gestern per Dekret verkündet und gar nicht auf ein Gesetzesverfahren gewartet, um die Massnahmen sofort wirksam werden lassen zu können. Angesichts der Rekordarbeitslosigkeit sollen die “Einstellungen gefördert”, “feste Vertragsverhältnisse gesteigert” und die Arbeitsbeziehungen “flexibilisiert” werden. Die Vize-Ministerpräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría kündigte auch einen “Kampf” gegen die Schattenwirtschaft an. Arbeitsministerin Fátima Báñez sagte, man richte sich mit der Reform an die 5,3 Millionen Arbeitslosen – die Quote liegt bei 23 Prozent – und “vor allem an junge Menschen, die bisher keinerlei Chancen haben”.

soraya saenz
Auch diesmal liess Mariano Rajoy wieder seine Vize, Soraya Saenz de Santamaría, die Änderungen verkünden, um selbst nicht auf dem Foto erscheinen zu müssen.

Zentraler Bestandteil der Reform ist, die Abfindungen zu senken. Statt 45 Tagen Abfindung pro gearbeitetes Jahr sollen generell nur noch 33 Tage als Abfindung bei “unbegründeten” Entlassungen bezahlt werden, auch wenn das Unternehmen kräftige Gewinne schreibt. Werden Verluste verzeichnet oder sinken die Umsätze auch nur neun Monate lang, sollen für Kündigungen nur noch 20 Tage als Grundlage gelten.

Unternehmer-Reaktion: Umsätze neun Monate lang um je 1% sinken lassen, Personal entlassen, dadurch 60 Prozent Abfindungen sparen. Danach mit subventionieretn Niederiglöhnern ersetzen.

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Mitarbeiter im Supermarkt: Ein Jahr Probezeit – und dann begründungslose Kündigung, ohne Ansprüche erwerben zu können

Gehofft wird, dass die Firmen eher einstellen, wenn sie Beschäftigte billiger kündigen können. Gleichzeitig sollen aber Kettenverträge eingeschränkt werden. Nur noch zwei Jahre sollen die Beschäftigten mit befristeten Verträgen in einem Unternehmen eingesetzt werden können. Damit will man die ausufernde Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse beschränken. Mehr als 90 Prozent aller neuen Verträge sind befristet. Geschaffen wird ein sogenannter “unbefristeter” Arbeitsvertrag, der eine Probezeit von einem Jahr einschließt, in der jederzeit gekündigt werden kann.

Unternehmer-Reaktion: Beschäftigte werden einen Tag vor Ablauf der Probezeit von einem Jahr (1 Jahr Probezeit für einen Verkäufer?) begründungslos gekündigt, so entstehen keinerlei Ansprüche auf Seiten des Arbeitnehmers. Zweite Möglichkeit: Befristete Kettenverträge bis zwei Jahre, dann Kündigung. Auch hier werden keine Ansprüche erworben.

Gefördert wird die Einstellung von jungen Arbeitslosen unter 30 Jahren mit 3.000 Euro. Werden Langzeitarbeitslose eingestellt, wird das mit 4.000 Euro gefördert. Vorgesehen sind auch eine Art Ein-Euro-Jobs nach deutschem Vorbild, wenn Arbeitslose zu Arbeiten im “allgemeinen Interesse der Gemeinschaft” herangezogen werden.

Unternehmer-Reaktion: Stammpersonal entlassen – möglichst billig wegen neun Monate gesunkener Umsätze (siehe oben), ersetzen durch billigere Mitarbeiter, die zudem eine Subvention mitbringen (wird vom Arbeitgeberanteil der Krankenversicherung abgezogen). Firmen in öffentlicher Hand (zum Beispiel von Gemeinden) stellen massenhaft 1-Euro-Jobber ein im “Interesse der Gemeinschaft”.

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Mariano Rajoy hatte Zapatero wegen dessen Arbeitsmarktreform hart kritisiert und selbst im Wahlkampf Dutzende Male versichert, er werde die Entschädigungen keinesfalls herabsetzen.

Jetzt wird verständlich, warum Ministerpräsident Rajoy auf dem EU-Gipfel im Januar seinen Kollegen erklärte, dass ihn die “Arbeitsmarktreform einen Generalstreik kosten wird”. Seinem Wirtschaftsminister passierte es ebenfalls am Donnerstag in Brüssel, dass seine Worte von Kameras mitgeschnitten wurden, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Luis de Guindos, beim Absturz der US-Investmentbank Lehman Brothers in deren Leitung, hatte zu EU-Währungskommissar Olli Rehn gesagt, die Reform werde “extrem aggressiv sein”. Rehn, der für die EU-Kommission seit vielen Monaten eine Arbeitsmarktreform in Spanien fordert, gab viel sagend zurück: “Genial.”

Die Gewerkschaften bewerten die Reform als Kriegserklärung, weil die Regierung nicht einmal versuchte, mit ihnen darüber zu verhandeln. Ohnehin hatten sie schon die Reform der Vorgängerregierung im September 2010 gestreikt. Strukturell war sie ähnlich, doch hatten die Sozialisten (PSOE) die Abfindungen bei unbegründeten Entlassungen bei 45 Tagen belassen, nur bei Verlusten konnten sie auf 20 Tage gesenkt werden.

Bei den aus deutscher Sicht relativ hohen Abfindungen muss unbedingt das niedrige Lohnniveau in Spanien beachtet werden. Weil es eine Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe, die den Namen verdienen würde, nicht gibt, hatten sie eine andere Funktion. Die Abfindungen sichern Arbeitslosen für die Zeit ab, wenn sie nach höchstens zwei Jahren kein Arbeitslosengeld mehr erhalten. Etwa eine Million Menschen erhält längst keinerlei Unterstützung mehr. Sie sind auf Schwarzarbeit, Betteln oder Diebstahl angewiesen, wenn sie mit ihren Familien nicht verhungern wollen.

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Schon José María Aznar, der zusammen mit Bush und Blair den Irak-Krieg anzettelte, war 2002 mit seinen harten Einschnitten hemmungslos gescheitert, weil Spanien auf die Strasse ging.

Wie die Regierung gegen die Schattenwirtschaft vorgehen will, ohne eine Sozialhilfe aufzubauen, die das Existenzminimum sichert, bleibt ihr Geheimnis. Dass die Inlandsnachfrage Spaniens noch weiter sinken muss, ist eine logische Konsequenz des neuen Dekrets, denn die Menschen werden immer weniger Geld in der Tasche haben.

Schon die Reform 2010 des Ex-Regierungschefs Zapatero, die in die selbe Richtung ging, hatte keine Neueinstellungen gebracht sondern die Arbeitslosigkeit noch weiter ansteigen lassen. Ähnlich wird es auch jetzt laufen. Das ist allerdings auch gar nicht das Ziel der konservativen Regierung. Mariano Rajoy weiss selbst, dass keine Arbeitsplätze entstehen können, wo keine gebraucht werden. Statt dessen will der PP-Chef der EU beweisen, dass er harte Einschnitte nicht scheut und ein guter Merkel-Schüler ist. Ausserdem will er, ganz nach deutschem Vorbild, dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden und statt dessen in Schulungen oder als 1-Euro-Jobber registriert werden können, um die Zahlen zu “kosmetisieren” und Regierungserfolge vorzuweisen. Seiner PP-Klientel, den Unternehmern, tut Mariano Rajoy so auftragsgemaess einen Gefallen und “bereinigt” gleichzeitig die Arbeitslosenbilanz.

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Ganz im Sinne der Agenda 2010 und nach deutschem Vorbild sollen in Spanien Arbeitslose jetzt in Schulungen und Mini-Jobs abgeschoben werden und so aus der Statistik verschwinden.

Rajoy selbst geht davon aus und sagt es auch, dass die Arbeitslosigkeit 2012 weiter steigen wird. Er hofft aber, dass sich langfristig die Wettbewerbsfähigkeit Spaniens verbessert. In welchen Bereichen sie verbessert werden soll, wenn die Investitionen in Forschung und Entwicklung zusammengestrichen werden und gerade mit den erneuerbaren Energien einem Zukunftssektor der Todesstoß versetzt wird, weiss er vermutlich selbst nicht. Deshalb hatten die Konservativen, erstmals in der Geschichte des Landes, auch den schmalen Mindestlohn von 641 Euro im Januar nicht einmal an die Inflationsrate angepasst.

Experten zweifeln die Wirksamkeit der Reform an. Real könne man Arbeitslosigkeit so nicht bekämpfen, aber für statistische Effekte wird es reichen. Für die Arbeitnehmer Spaniens ist das Ergebnis durchweg negativ. Aber auch die bereits in der Rezession steckende Wirtschaft wird erheblichen Schaden erleiden wegen der Konflikte und Streiks, die als Reaktion auf die dekretierte Reform kommen werden. Die beiden großen Gewerkschaften haben schon Demonstrationen angekündigt.

Gespannt darf man auf die Reaktion der Bevölkerung sein. Schon 2002 hatte die PP unter José María Aznar eine ähnlich neoliberale Reform versucht, die am Ende scheiterte. Auch Anfang der 90er-Jahre gab es so etwas: Damals wurden alle jungen Leute bis 27 Jahren kurzerhand zu Lehrlingen erklärt, die man billig einstellen konnte. Daraufhin kündigten zum Beispiel die Hotels der Kanarischen Inseln Tausenden von Mitarbeitern ihres Stammpersonals, um danach zu lächerlichen Löhnen “Lehrlinge” auf ihren Platz setzen zu können. Ein Sturmlauf der Bevölkerung brachte beide Reformen zu Fall. Auch 2012 dürfte das letzte Wort noch lange nicht gesprochen sein.

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