Expedition 7000: Lenins Gipfel

Von Phil87er @runtravelgrow
Der Pik Lenin gilt als einer der leichtesten Siebentausender der Welt. Doch was ist schon leicht in einer solchen Höhe? Die Antwort wartet tief im Pamir-Gebirge. Über den Versuch, sich einen Traum zu erfüllen.

Ein Sturm wird Silvain in seinem Zelt davon wehen. Ann wird in eine Gletscherspalte fallen. Jakub und Roberto werden sich Erfrierungen zuziehen. Meine Fingerkuppen werden tagelang taub sein. Wir werden ständig frieren, manche kotzen und alle stets nach Luft hecheln wie Hunde. Wir werden sehen, wie sie eine Leiche vom Berg holen. Aber all das ahnen wir noch nicht, als wir im Basislager eintreffen, wo Wildblumen die Wiesen zieren und die Augustsonne sich warm auf die Haut legt. Am Horizont erhebt sich eine eisige Wand. Auf ihrem höchsten Punkt wollen wir in gut zwei Wochen stehen.

Unser Ziel ist der Pik Lenin, ein 7139 Meter hoher, vergletscherter Riese im zentralasiatischen Pamir-Gebirge, auf der Grenze zwischen Kirgisistan und Tadschikistan. Wir sind 14 Expeditionsteilnehmer: drei Italiener, drei Russen, ein Ukrainer, ein Pole, ein Bulgare, ein Brite, ein Kanadier, ein Brasilianer, ein Deutscher, und eine Frau von den Philippinen, sie kommt aus Manila. Angeleitet werden wir von insgesamt fünf Bergführern, zwei Russen und drei Sherpas aus Nepal, die im Juli und August am Pik Lenin anheuern.

EIN LEICHTER SIEBENTAUSENDER

Wir sind wohl alle aus verschiedenen Gründen an diesem Berg, aber wir haben mit Sicherheit unterschiedliche Erfahrung. Silvain, der junge und kernige Kanadier, stand noch nie auf Steigeisen. Enrico, das jüngste Teammitglied, Anfang 20, arbeitet als Klettertrainer in Norditalien. Er kennt alle Knoten, Kniffe und Sicherungstechniken, aber nur die Höhenlagen der Alpen. Luis, Mitte 50, in Brasilien geboren und in Brüssel zu Hause, war schon auf dem Kilimandscharo, hat aber nur eine leichte Daunenjacke dabei. Ich selbst habe passable Hochtouren- und Höhenerfahrung bis 6300 Meter.

Tristan, der Brite in meinem Alter, hat es vergangenen Sommer schon einmal am Pik Lenin versucht, doch musste wegen Knieproblemen umkehren. Jetzt ist er wieder da, aber überhaupt nicht verbissen. Ich mag ihn gleich sehr. Der ebenso stämmige wie schweigsame Ukrainer Juri hat den Schädel rasiert und trägt ein Abzeichen auf der Jacke: Aconcagua, höchster Berg außerhalb Asiens. Ich lerne ihn am Flughafen in Bischkek kennen. Er wird es schaffen, denke ich.


Spaziergang vom Basislager aus.

Ich habe nicht erwartet, am Pik Lenin nur auf wettergegerbte Bergprofis zu stoßen, die mit allen Himalaya-Wassern gewaschen sind. Aber dass die alpine Erfahrung der Gipfelaspiranten derart schwankt, damit habe ich auch nicht gerechnet. Es könnte daran liegen, dass Reiseveranstalter den Pik Lenin als »einfachen Siebentausender« bewerben. Der Normalweg habe keine klettertechnischen Schwierigkeiten, die dünne Luft sei eine Herausforderung, und man müsse natürlich sehr fit und konditionsstark sein. Aber der Gipfel könne auch »von ambitionierten Bergsteigern ohne viel Hochgebirgserfahrung bestiegen werden«, schreibt zum Beispiel mein deutscher Veranstalter.

Tatsächlich? Weckt diese Aussage nicht falsche Erwartungen? Kann es so etwas wie einen einfachen Siebentausender überhaupt geben?

EINE MAGISCHE MARKE

Für mich bedeutet der Pik Lenin die Erfüllung eines Traums: einmal auf einem Siebentausender stehen! Als Kind war ich mit der Familie jeden Sommer im Zillertal. Wir wanderten zu Berghütten, aßen Kaiserschmarrn, tranken Almdudler. Mit elf Jahren nahm mich mein Vater mit auf den Schwarzenstein, mein erster Dreitausender. Als junger Erwachsener fuhr ich dann mit Freunden und meinem Bruder in die Alpen. Wir bestiegen stattliche Gipfel, Großglockner und Wildspitze. Aber mich reizten irgendwann die richtig hohen Berge: Elbrus, Kilimandscharo, Chimborazo. Gipfel von 5000 Metern, 6000 Metern, wo die Lüft dünn wird und das reine Gehen zu einer existenziellen Herausforderung. Nur sind 7000 Meter nochmal eine völlig andere Hausnummer.

In den Anden gibt es Berge jenseits der 6000 Meter, auf die man praktisch hochspazieren kann. Man braucht natürlich warme Sachen und kann höhenkrank werden. Aber trotzdem sind das mehr anstregende Wanderungen, Trekking bestenfalls. Einen mehr als 7000 Meter hohen Berg zu besteigen, hat damit nichts mehr zu tun. Berge dieser Höhe sind immer stark vergletschert, was ganz andere Gefahren mit sich bringt: Spaltenstürze, Lawinen, Eisschlag. Außerdem hält man sich viel länger in einer Höhe auf, die bei unzureichender Vorbereitung lebensgefährlich ist. Kann ich die 7000er-Marke knacken? An wohl keinem anderen Berg der Welt sind die Chancen so hoch wie am Pik Lenin.


Schotterpiste zum Basislager.

Die Anreise zum Basislager gestaltet sich für einen Expeditionsberg äußerst entspannt. Von Osh, der zweitgrößten Stadt Kirgisistans, fährt uns ein kleiner Bus in etwa sechs Stunden bis zum Ausgangspunkt unserer Tour auf 3600 Metern. Die letzten zwei Stunden rumpelt das Fahrzeug über eine Schotterpiste, aber uns wird nichts abverlangt, außer dazusitzen und aus dem Fenster zu schauen. Bei der Ankunft im Camp dann die zweite Überraschung: Nicht nur die Straße führt bis zum Basislager, sondern auch eine Stromleitung.

LESELAMPEN, WLAN UND DUSCHEN

Das Base Camp ist ein idyllischer Ort. Ein Fluss rauscht hier durch ein weit ausgeschnittenes Tal, das allmählich in die karge Hochebene übergeht. Pferde grasen auf Hügeln zwischen kleinen Seen. Auf einer großen, flachen Wiese stehen mehrere Dutzend gelbe Zelte für jeweils zwei Personen, und in jedem von ihnen steht sogar eine Nachttischlampe zwischen zwei Schaumstoffmatratzen.

Das große weiße Gemeinschaftszelt mit Küche, Tischen und Stühlen gleicht einem mobilen Restaurant. Hier kommen alle dreimal am Tag zusammen, es ist der soziale Mittelpunkt des Camps. Und dann steht da noch ein Container mit Duschen – es gibt heißes Wasser.

An unserem ersten Nachmittag ist es so windstill und sonnig, dass wir T-Shirts tragen können. In einigen Kilometern Entfernung strahlt die Eiswand vor einem stahlblauen Himmel, scheinbar unerreichbar. Der Lagerchef, ein resoluter Russe, registriert die Gruppe und weist uns Unterkünfte zu.

Mein Zeltpartner ist Luis. Der Brasilianer spricht mehrere Sprachen, auch ein bisschen Deutsch. Ein ruhiger, freundlicher Typ, der jeden Abend fast daran verzweifelt, was er am nächsten Tag anziehen und in den Rucksack packen soll.




Sommerliche Tage im Basislager am Pik Lenin.

Wir richten uns ein und sitzen später zusammen im großen Zelt, plaudern und tauschen uns aus. Die Stimmung ist heiter. Noch hat sich niemand den Magen verdorben, noch ist der Frost uns nicht in die Glieder gekrochen. Kaum zu glauben, dass das Lager im Winter meterhoch unter Schnee liegt.

Unabhängig davon, bei welchem Veranstalter wir zu Hause gebucht haben, sind wir alle in einer Gruppentour von Ak-Sai Travel gelandet, der führenden lokalen Bergtourismus-Agentur. Sie machen ihren Job gut.

Die einheimische Küchenmannschaft tischt dreimal am Tag üppig auf: Suppen, Pasta, Reis, Bulgur, Fleisch, Fisch, Salat und Gemüse, dazu reichlich Kuchen, Quark und sogar frische Melonen. Tee, Kaffee und Kekse stehen den ganzen Tag über bereit. Die Gefahr, auf dieser Expedition vom Fleisch zu fallen, besteht nicht. An Mangelernährung wird die Tour nicht scheitern.

Ich ahne, dass meine circa vier Kilo Nüsse, Riegel und Schokolade überflüssig sind. Im Shop des Lagers bekommt man gegen Aufpreis auch Cola, Wein und Wodka. Und es gibt WLAN-Codes, eine Stunde für zwei Dollar. Das wird noch wichtig sein, um sich die Stunden zu vertreiben.

BERGSTEIGEN IN DIE TODESZONE

Ich finde es beruhigend, wie komfortabel das Basislager ist, denn wir werden vor dem Gipfelversuch noch einmal hierher zurückkehren. Die Taktik ist anders als zum Beispiel am Kilimandscharo, wo man sich von Lager zu Lager nach oben arbeitet und dann direkt den Gipfel in Angriff nimmt. Am Pik Lenin steigen wir zunächst einmal bis ins höchste Lager – und dann wieder komplett ab. Was sich für Laien wie Schikane anhört, heißt Expeditionsstil. Klingt eher akademisch, entscheidet im Zweifel aber über Leben und Tod.

Akklimatisierung ist das oberste Ziel. Wer am Ende tatsächlich auf 7139 Metern stehen und zudem lebendig wieder herunterkommen will (daran denken manche nicht), muss seinen Körper langsam an die Höhe gewöhnen. Anders als oft behauptet, enthält die Luft in großer Höhe nicht weniger Sauerstoff als am Meer. Aber der sogenannte Sauerstoffpartikaldruck ist geringer, die Lunge nimmt nicht mehr so viel Sauerstoff auf. Diese Unterversorgung führt irgendwann zu Appetitlosigkeit, Kurzatmigkeit, Abgeschlagenheit und Schwindel. Man wird höhenkrank. Im schlimmsten Fall entwickeln sich Ödeme, Wassereinlagerungen in der Lunge oder im Gehirn. Dann muss man sofort absteigen oder ist binnen weniger Stunden tot.

In besonders großen Höhen kann sich der Mensch auch bei vollständiger Ruhe und optimaler Verpflegung nicht mehr an den geringen Sauerstoffgehalt der Atemluft gewöhnen. Ab einer Höhe von etwa 7000 Metern baut der Körper unweigerlich ab. Bergsteiger sprechen von der Todeszone. Letztes Jahr, erzählt man uns, hätten zwei Nordkoreaner den Pik Lenin versucht. Sie wollten in einem Rutsch hinauf, ohne Ruhepause. Beide sind gestorben.

CLIMB HIGH, SLEEP LOW

Akklimatisierung verhindert, dass man höhenkrank wird. Deshalb ist das Programm der kommerziellen Expeditionen so aufgebaut: Man marschiert vom Basislager ins Camp 1 auf 4450 Metern und verbringt dort drei Nächte. Dann steigt man hinauf ins Lager 2 auf 5300 Metern, um am nächsten Tag nach Camp 3 aufzubrechen. Auf 6100 Metern schläft man eine weitere Nacht und steigt dann ins Basislager ab. Dort geht alles von vorne los, aber zügiger als beim ersten Aufstieg. Je nach Wetter lässt sich der Ablauf ändern.

Von Lager 3 aus geht es schlussendlich nachts in Richtung Gipfel – sofern es nicht stürmt. Die Erfolgsquote liegt angeblich bei 20 Prozent, doch es kann auch eine Woche Schlechtwetter herrschen. Dann schafft es niemand.


Das Basislager liegt auf 3600 Meter.

»Climb high, sleep low« ist eine Akklimatisierungsregel, die wir schon im Basislager anwenden. Drei Nächte verbringen wir hier.

Am Morgen des ersten Tages versammelt uns Ivan, 58, zu einer kleinen Wanderung. Der sanftmütige Russe ist seit 20 Jahren Bergführer. Davor ist er Ingenieur gewesen, in der Altai-Region. Sein Englisch ist dürftig, wir können nicht unbedingt über Gott und die Welt reden. Mit Ivan und den anderen Guides steigen wir auf einen Bergkamm nahe des Lagers, auf über 4000 Meter. Die Nepalesen mustern uns: Wer ist wie schnell? Wer kommt aus der Puste? Man kriegt einen ersten Eindruck von der Stärke der anderen Teammitglieder. Vor allem aber tut es gut, sich endlich einmal selbst zu bewegen.

Die Aussicht reicht kilometerweit über die Ebene, über die karge Weite des Alai-Tals hier im Pamir, jener mythisch anmutenden, fast menschenleeren Region in Zentralasien, die bis heute nur wenige Reisende besuchen.

Am Horizont im Norden erhebt sich eine andere Gebirgskette, in südlicher Richtung ist der Pik Lenin von einer Bergflanke verdeckt. Wir stehen in einer Landschaftscollage aus Wiesengrün, Ockergelb, Felsengrau, Rostrot und Schneeweiß. Das Basislager unten im Tal erscheint winzig, genau wie die Seen, zu denen wir morgen spazieren werden. Alles ganz entspannt.




Akklimatisierung auf über 4000 Metern.

Abends im Gemeinschaftszelt kommen alle zusammen: unschuldige Neuankömmlinge wie wir, Bergsteiger nach ihrem ersten Aufstieg ins Hochlager, und die erfolgreichen oder glücklosen Gipfelstürmer. Wer zu welcher Gruppe gehört, erkennt man am Zustand der Gesichtshaut und der Lippen. Spröde und aufgeplatzt heißt: Sie oder er war schon oben.

Nach jedem Abendessen verliest der Lagerchef die Namen der Bergsteiger, die auf dem Gipfel standen, und verteilt Urkunden und Halsketten mit Pik-Lenin-Anhänger. Klatschen, Applaus. Ich merke in diesem Moment, wie sehr ich dieses Abzeichen begehre. Ich will auch endlich weiter, höher, selbst den Versuch wagen. Doch was, wenn ich hier in zwei Wochen sitze und leer ausgehe?

Bereits im Basislager lerne ich eine sehr simple Lektion: Eine Expedition heißt warten. Auf die nächste Mahlzeit, den Abend, die Nacht, den nächsten Morgen, auf besseres Wetter. Natürlich, der Gipfeltag ist hart. Aber ansonsten kann man gar nicht von morgens bis abends laufen, das wäre ungesund. Immer schön langsam, das ist das Motto. Anders geht es nicht. Sonst riskiert man sein Leben. Eine Expedition ist vor allem eine Herausforderung für die Psyche.

BARFUSS DURCH DEN WILDBACH

Der Pik Lenin ist eine gewaltige Landmasse. Das Auge schätzt die Entfernungen zuverlässig falsch ein. Grob vereinfacht stellt sich die Sache so dar: Im Basislager ist man allenfalls in der Nähe des Berges. In Lager 1 steht man vor dem Berg. Aber erst in Camp 2 ist man wirklich am Berg. Es ist ein weiter Weg bis dorthin.

Ein nahezu wolkenloser Morgen ist aufgezogen für die Wanderung ins Lager 1. Sein Übernachtungsgepäck kann man für drei Dollar pro Kilo einem Pferd mitgeben, aber ich trage meine Sachen selbst, um mich an die Belastung zu gewöhnen. Der Rucksack wiegt fast 15 Kilo, das macht schon in dieser Höhe recht kurzatmig. Die ersten Serpentinen hinauf zu einer Scharte treiben den Schweiß aus der Haut. Sobald man rastet und nur ein wenig Wind aufzieht, wird es trotz der Sonne kühl – eine Vorgeschmack auf die nächsten Tage: Es ist entweder heiß (mittags im Zelt, beim Aufstieg über den Gletscher) oder kalt (zu praktisch jeder anderen Tageszeit und Gelegenheit).

Der schneefreie Weg ins Camp 1 führt über riesige Schutthalden und Moränen. Auf uns warten fünf, sechs Stunden angenehmes Wandergelände mit moderater Steigung. Die größte Hürde bildet ein Wildbach, der am frühen Nachmittag gefährlich viel Wasser führt. Schuhe aus und durch? Oder doch lieber für fünf Dollar auf den kirgisischen Jungen und sein Pferd zurückgreifen, der an dieser Stelle auf Wanderer wartet? Wir wollen uns nicht den Knöchel verknacksen, aber letztlich entscheiden wir uns gegen das Pferd. Schuhe aus, Stöcke in die Hand und los. Wackelige Angelegenheit. Das Wasser ist eiskalt und schmerzt an meinen Füßen. Aber niemand rutscht aus.





Unterwegs ins Lager 1.

Camp 1 ist überraschenderweise ähnlich komfortabel wie das Basislager. Es gibt allerdings keine Duschen, keine Stromleitung, und das WLAN ist teurer (fünf Dollar pro Stunde). Aus Holzpaletten hat die Lagercrew zu Beginn der Saison eine kleine, etwas schiefe Terrasse gezimmert, auf der sich die Bergsteiger in der Sonne aufwärmen können. Die Luft hier oben hat selten etwas Liebliches, nachts herrscht Frost. Wir sind dem Gletscher nun sehr nahe und schauen direkt auf die knapp 3000 Meter hohe Nordwand des Pik Lenin. Wir werden nicht lotrecht hindurch klettern, sondern sozusagen einen Haken schlagen und vom letzten Hochlager aus über den Westgrat auf den Gipfel steigen.

Abends im Essenszelt höre ich zwei Deutschen aus einer anderen Gruppe am Nebentisch zu. Kurze Verlegenheitspause. Um den Ball der Konversation wieder ins Rollen zu bringen, fragt der eine original dies: Wie sieht deine Arbeit als Steuerprüfer genau aus? Der Satz trifft mich wie ein Nackenschlag. Statt nun einen Witz zu machen, beginnt der andere tatsächlich mit einer umständlichen Erklärung. Mir wird klar, dass zwei Wochen am Berg sehr trostlos werden können, wenn die Gruppe nicht passt. Da habe ich Glück gehabt.

CHE CAZZO = ALLES HALB SO WILD

Bei uns gibt es die, die kaum reden und ihr Ding machen, wie Juri und Andrei. Sie sind immer höflich, aber wahrscheinlich mit anderen Männlichkeitsidealen als ich aufgewachsen. Wenn sie sich nicht gut fühlen und man das in ihrem Gesicht sieht, gehen sie ins Zelt. Für sie ist dieser Berg kein Ort der Ironie, des Palavers, der Albernheiten.

Roberto, Luca und Enrico legen ausnahmslos eine warmherzige Gelassenheit an den Tag – wahre Lebenskunst, um die man die Italiener nur beneiden kann. Niemand von ihnen käme zum Beispiel auf die Idee, ausschweifend und ohne den einen oder anderen Scherz auf eigene Kosten über seine körperliche Verfasstheit zu monologisieren. Wir lernen von ihnen das beiläufige und gleichmütige Fluchen: Che cazzo, ma vaffanculo

Ann, scheint mir, hadert manchmal mit ihrer Rolle als einzige Frau im Team, lässt sich das aber zu keiner Zeit anmerken. Beim Handy-Scrabble stellt sich außerdem heraus, dass sie englische Wörter kennt, von den wir anderen Nicht-Muttersprachler noch nie gehört haben. Antler zum Beispiel heißt Geweih. Eine Vokabel, die ich nie mehr vergessen werde.

Tristan hat eine gute Portion trockenen, britischen Humor. In seiner Gesellschaft fühle ich mich immer wohl. Genauso mit Silvain.



Die Luft wird dünner: »Camp one«.

ZUM ERSTEN MAL AUF 5000 METER

Um uns zu akklimatisieren, besteigen wir am nächsten Tag den 5130 Meter Yuhin Peak. Im Angesicht der massiven Eiswand des Pik Lenin erscheint der Berg wie ein unbedeutender Steinhaufen. Wieder scheint die Sonne, aber jede Windböe in dieser Höhe ist schneidend.

Ein nach allgemeiner Auffassung des Lagers etwas verrückter Brite macht die Tagestour tatsächlich in einer Art Badeshorts, die manchmal weniger verbirgt, als angebracht wäre. Es ist mir ein Rätsel, dass er darin nicht friert.

Auf dem Yuhin Peak haben wir eine gute Sicht auf die weitere Route. Der Gipfel des Pik Lenin wirkt allerdings vollkommen entrückt. Mir scheint, der Berg könnte uns jederzeit von seinen Flanken pusten, was ja auch zweifellos stimmt.

Warum will ich da überhaupt hoch? Diese Frage rückt vollständig in den Hintergrund, sobald man sich einmal am Berg befindet, wobei in der Antwort ja der Grund liegt, weshalb man überhaupt hier ist. Unter jedem Artikel über das Höhenbergsteigen im Internet treffen sofort zwei Fraktionen unversöhnlich aufeinander: Die einen halten Expeditionen für das letzte Abenteuer des modernen Menschen, die anderen für fahrlässigen Egoismus.

Niemand kann abstreiten, dass die Besteigung eines Siebentausenders mehr Gefahr für Leib und Leben birgt als fast jede andere Sportart. Aber das nimmt man in Kauf. Der amerikanische Ausnahmekletterer Steve House hat einmal gesagt, dass das Bergsteigen die Kraft besitzt, das gesamte Spektrum des Lebens auf eine Spanne von wenigen Tagen oder gar Stunden zu verdichten. Beim Joggen ist mir das auf jeden Fall noch nie passiert.




Yuhin Peak und Normalroute auf den Pik Lenin.

Der zweite Tag in Lager 1 sieht Techniktraining vor. Wir marschieren zum Gletscher und üben das Abseilen und Aufsteigen an einem Fixseil mit einer Steigklemme (Jumar). Auf der Gipfeletappe wartet ein seilversichertes Steilstück namens the knife (»das Messer«). Dort bringt man sein Aufstiegsgerät an und zieht sich hoch. Das üben wir nun. Die Sherpas helfen bei den Knoten und beim Seilhandling, es gibt Erklärungsbedarf – was an einem Berg wie dem Pik Lenin nicht so sein sollte. Eigentlich müsste man auch die Spaltenbergung sicher beherrschen. Mein Kurs liegt Jahre zurück.

Letztlich verlassen wir uns auf das Können und die Erfahrung unserer Guides. Man kann lange diskutieren, ob diejenigen, die einen solchen Berg nicht ohne fremde Hilfe besteigen können, zu Hause bleiben sollten. Feststeht: Wir alle haben uns dagegen entschieden. Wir vertrauen darauf, dass dieses Unterfangen gut ausgehen wird.

GLETSCHERSPALTEN UND LAWINENGEFAHR

Der Weg von Camp 1 zu Camp 2 ist die objektive gefährlichste Etappe der ganzen Tour. Der Gletscher ist von tiefen Spalten durchzogen, nicht alle von ihnen liegen offen. Die Sherpa haben zu Beginn der Saison eine Route gelegt und bei Bedarf mit Fixseilen und Aluminiumleitern versichert. Jetzt im August ist die Spur gut ausgetreten, und es ist wenig Neuschnee gefallen.

Trotzdem brechen wir um vier Uhr in der Früh auf. Zum einen sind die Schneebrücken über den Spalten dann noch hart gefroren, zum anderen steigt mit zunehmender Wärme die Lawinengefahr. Das betrifft einen kurzen Korridor gegen Ende der Etappe, wo die Route quer zum Hang in Richtung Camp abbiegt. Auf Youtube findet man ein Video von 2017, das den Abgang einer Lawine an dieser Stelle zeigt, gefilmt von einem Skandinavier in Lager 2. Die Schneemassen rauschen in ein Dutzend Bergsteiger hinein. Alle haben überlebt. Auf ein solches Wunder wollen wir es nicht ankommen lassen, also Wecker stellen.

Es ist noch finster, als wir unten am Gletscher die Steigeisen anlegen und Seilschaften bilden. Ich gehe mit Roberto und Silvain. Wir sind ungefähr gleich stark. Über uns funkelt ein Meer aus Sternen. Eiswände schillern silbern in der Nacht. Als wir im Gletscherbruch aufsteigen, zieht der Tag auf. Ein fast spiritueller Moment, dem ich nicht die gebührende Aufmerksamkeit widmen kann. Meine Füße bewegen sich langsam, mein Atem rast – die Höhenluft. Der bis oben gefüllte Rucksack zieht mich nach hinten. Schlafsack, Isomatte, Thermosflasche, Kleidung, Gaskocher, Tütenessen…

Beim Überqueren einer Spalte kippe ich wegen des Gewichts zur Seite (in diesem Video von Roberto sieht man die Stelle bei 1:23 min). Sherpa Mingma reagiert geistesgegenwärtig und zieht mich am Seil über die Kante. Fuck! Adrenalin rauscht den Körper. Ich habe mir mit den Steigeisen ein Loch in die Überhose getreten, auf Kniehöhe. Ärgerlich, aber nichts Wildes. Dann überqueren wir eine Leiter, Blick nach unten in die Spalte. Bloß nicht stolpern. Die Sonne knallt in den Hang. Der Morgen schimmert milchig-golden.




Über den Gletscher: Der Weg ins Lager 2.

EIN NACHMITTAG IM ZELT

Unsere Seilschaft erreicht das Camp zur späten Mittagszeit. Schnell merken wir: Dies ist das bislang unangenehmste Lager. Alle Zelte stehen in einem Schotterhang, man findet kaum eine ebene Fläche. Steine bohren sich von unten in die Zeltplane. Für die unbequeme Lage gibt es einen guten Grund: 1990 wurde das alte Camp weiter unten auf dem Gletschereis von einer gewaltigen Lawine weggefegt, 43 Menschen starben. So hat man es hochverlegt.

Wir beziehen jeder ein Zelt alleine, unerwartete Privatsphäre. Dann kochen wir Nudelsuppe. Noch müssen wir keinen Schnee schmelzen, ein nahes Rinnsal am Gletscher liefert Wasser. Es sind nur ein paar Meter dorthin, aber sie kosten jedes Mal Kraft, die man sich eigentlich aufsparen will. Wir sind hier schon gut 500 Meter höher als der Montblanc, Europas höchster Berg.

Am Nachmittag gibt es für uns nichts zu tun. Wir liegen in den Zelten und ruhen uns aus. Ich genieße die Hitze. Kein schneidender Wind, keine eiskalten Finger – ein rundum angenehmes Gefühl. Die Gedanken driften ab.

Dann passiert etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe: Meine Kehle zieht sich zusammen, ich fange an zu schluchzen, erst ein wenig, dann immer heftiger, bis ich richtig weine. Tränen laufen meine Wangen hinab. Ich kann mir nicht erklären, warum das gerade passiert. Ich bin nicht traurig oder niedergeschlagen, im Gegenteil. Eher ist da so etwas wie tiefe Dankbarkeit.

Das Gefühl überwältigt mich, mein Brustkorb hebt und senkt sich. Ich denke an Familie und Freunde, und da ist nur Wohlwollen, Solidarität, Liebe. Jeder kleinliche Gedanke verschwindet aus meinem Kopf, eine große Klarheit stellt sich ein. Wie ich hier gelandet bin, eines zum anderen führte, was noch zu tun ist. Es ist ein Weinen, das nicht der Kummer speist, sondern die Einsicht in die Vergänglichkeit und Fragilität aller wundervollen Momente und Begebenheiten. Ich glaube, es ist viele Jahre her, dass ich so geweint habe. Nach einigen Minuten entgleitet das Gefühl, die Tränen hören auf. Ich liege wieder im Zelt, irgendeine praktische Überlegung befällt das Denken. Morgen gehen wir weiter, ins höchste Lager. Wetter soll gut sein.

Teil zwei folgt


Akklimatisierung in Camp 2.