(hier zum …ersten Teil… – …zweiten Teil… – …dritten Teil… der Artikelserie zum Thema Meta-Komposition…)
Hm, ob hier wohl relevante Energien entstehen…?
Um zu verstehen, welche Energien freigesetzt werden, wenn zwei Kompositionen im Rahmen einer Metakomposition aufeinanderprallen, möchte ich mit einer kurzen Analogie starten.
Stellen wir uns eine Filmszene vor. Nach langem Zögern erwidert die Hauptdarstellerin endlich das Werben des Hauptdarstellers. Sie küssen sich. Vollkommene Harmonie.
Je nachdem, was danach passiert, kann diese Szene unterschiedliches bedeuten. Vier Möglichkeiten:
a) Der Film ist aus. Happy End.
b) Die nächste Szene springt zu einem anderen Handlungsstrang. Der korrupte Politiker treibt immer noch seine finsteren Machenschaften, und dem Hauptdarsteller, einem investigativen Journalisten, ist es immer noch nicht gelungen, ihn zur Strecke zu bringen.
c) Während sich die Liebenden umarmen, sieht man einen Revolverlauf ins Bild kommen. Eine Stimme sagt: „Keinen Mucks, oder Ihr seid tot.“
d) Während die beiden sich umarmen, fällt der Blick der Hauptdarstellerin auf ein Foto an der Wand. Schlagartig wird ihr klar, dass der Hauptdarsteller sie von Anfang an belogen hat.
Die Szene selbst verändert sich nicht – aber durch den Kontext verändert sich ihre Richtung komplett.
Variante d-Strich – an Kim Novaks Halskette erkennt James Stewart, dass sie ihn über ihre Identität belogen hat – Szene aus Hitchcocks „Vertigo“
In Variante (a) ist sie der Ziel- und Endpunkt der Gesamthandlung. In Variante (b) ist sie nur eine kleine Verschnaufpause, bevor die Haupthandlung – die Überführung des korrupten Staatsmanns – weitergeht. In Variante (c) ist sie als Gipfelpunkt einer maximalen Fallhöhe angelegt – größtes Glück und größte Gefahr liegen ganz nah beinander. In Variante (d) ist sie schließlich überhaupt nur eine Illusion: das kurze Glück beruht auf einer falschen Grundannahme.
Ähnlich unterschiedliche Möglichkeiten gibt es für eine Komposition, die innerhalb einer Metakomposition mit anderen Kompositionen in Verbindung gebracht wird.
Sehen wir uns ein weiteres Beispiel an: Ravels Bolero. Das Stück eignet sich besonders gut, weil seine Binnenenergie linear und daher einfach zu beschreiben ist. Es ist eine einzige große Steigerung – das Thema wiederholt sich immer und immer wieder und wird dabei lauter und lauter. Kurz vor Schluss gibts noch die berühmte E-dur-Ausweichung – eine Art eindrucksvolle Schlusspirouette – und dann: Finito.
Lineare Entwicklung: Aufführung von Ravels Bolero als Waveform
Applaus brandet auf, das Konzert ist aus. Das wäre Variante (a). Das Publikum ist happy, der Höhepunkt des Konzertabends hat die Erwartungen nicht enttäuscht. Man geht beschwingt zu Lutter & Wegner.
Andere Variante: Applaus brandet auf, das Eröffnungsstück ist vorüber. Nach dem leicht konsumierbaren Klassiker stellt sich das Publikum mit gespannter, konzentrierter Erwartung auf den zentralen Programmpunkt des Abends ein: eine komplexe, selten gespielte Symphonie von Franz Schmidt oder Rued Langgaard.
Dritte Variante: An den pompösen Boleroschluss schließt sich nahtlos ein geisterhaftes Prestissimo an. Ausgehend von einem F-dur-Dominantsekundakkord (also B-C-E-G = Umdeutung des Bolero-C-dur zur Dominante) entfaltet sich ein wilder Ritt durch die Tonarten, der in größtem Kontrast zum stabilen Bolero-C-dur steht. Die vorwärtstreibende Energie des Bolero wird vom neuen Stück aufgenommen und nahtlos weitergeführt, dabei allerdings in ganz andere Parameter transferiert: Während sich beim Bolero Lautstärke und Instrumentation steigern, sind es beim neuen Stück Tempo und harmonische Dichte.
Zumindest die zweite und dritte Variante sind nicht direkt mit den beschriebenen Filmszenen in Deckung zu bringen. Das Phänomen ist aber dasselbe: Dieselbe Komposition bedeutet je nach Kontext etwas völlig anderes. Sie kann der Höhe- und Schlusspunkt des Abends sein (Variante 1), sie kann das orientierungs- und sympathiestiftende Vorprogramm eines komplexeren Hauptprogramms sein (Variante 2), oder aber die erste Raketenstufe einer viel größeren, sich nahtlos anschließenden Entwicklung (Variante 3).
Okay! ruft der werte Leser nun aus – aber Du willst doch wohl nicht den Bolero spielen bei Schwelbrand?!? – Nope, natürlich nicht! Und wie ich Sascha Dragicevics „Autogamie“ in eine Meta-Komposition einbaue, darüber mehr in der nächsten Folge! Handlich und gut lesbar mit vielen bunten Bildern!!!!