Lese gerade Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch, dem (inzwischen ja fast in Vergessenheit geratenen) deutschen Nachkriegs-Existenzialisten abseits der „Eigentlichen“, sondern unmittelbar an Frankreich orientiert. Ein wirklich gut geschriebener autobiographischer Bericht, der sich im wesentlichen um seine Desertion als Wehrmachtssoldat 1944 dreht – kurz nach dem Krieg wirklich ein mutiger Schritt. Auf die – sicherlich zu Recht – geführte Debatte um Anderschs wirkliches Verhalten während des NS und einige äußerst problematische Äußerungen in seinem Werk will ich jetzt nicht eingehen. Jedenfalls ein Klassiker der antifaschistischen deutschen Literatur, aus dem man viel zitieren könnte (etwa die wunderbare Begründung, warum der Eid an den „Führer“ nichtig gewesen sei).
Ich belasse es mal bei einer recht schönen, und Sartre-nahen (auch wenn Sartre die Freiheit freilich umfassender begreift als es Andersch tut), Zusammenfassung seines Existenzialismus-Verständnisses, das – und aus diesem Grund zitiere ich es überhaupt – in einem kurzen, aber pointiertem Heidegger-Bashing endet:
Mein Buch hat nur eine Aufgabe: einen einzigen Augenblick der Freiheit zu beschreiben. Aber es hat nicht die Aufgabe, zu behaupten, daß die Größe des Menschen sich nur in solchen Augenblicken verwirklichte. Es ist ein Leben denkbar, in dem die Freiheit niemals erfahren wird und das dennoch seinen vollen Wert behauptet. Der Wert des Menschen besteht darin, daß er Mut und Angst, Vernunft und Leidenschaft nicht als feindliche Gegensätze begreift, die er zerstören muß, sondern als Pole des einen Spannungsfeldes, das er selber ist. Denn wie kann bis zum Mord entschlossene Feindschaft herrschen zwischen Eigenschaften, die so offensichtlich zur menschlichen Natur gehören, daß, wollte man auch nur eine amputieren, die Seele sterben müßte? Wie viele lebende Leichname gibt es, die – mag ihr Fleisch noch so blühen – gestorben sind, weil sie entweder die Angst oder den Mut, die Vernunft oder die Leidenschaft aus ihr ausgerottet haben? Die Freiheit ist nur eine Möglichkeit, und wenn man sie vollziehen kann, so hat man Glück gehabt – worauf es ankommt, ist: sich die Anlage zur Freiheit zu erhalten.
(So meine ich, daß ein Denken, welches nur von der Angst und der Sorge redet, aber nicht von der Unbekümmertheit, der Abenteuerlust und der Tapferkeit des Menschen, in die Unfreiheit führt. Es starrt dem Tode ins Gorgonenhaupt, und es wird darüber versteinern.)
Alfred Andersch: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5. Zürich 2004, S. 383.
Gut – es handelt sich eher um Polemik als Kritik. Doch man nehme nur Heideggers Antwort auf ähnliche Vorwürfe, freilich von Nazi-Seite, eine schwächliche „Angstphilosophie“ zu vertreten in dem 1943 – also ein Jahr bevor Andersch desertierte – geschriebenen Nachwort zu „Was ist Metaphysik?“ um sich von deren Relevanz zu überzeugen:
Dieses Denken [das „wesenliche“; T.S.] antwortet dem Anspruch des Seins, indem der Mensch sein geschichtliches Wesen dem Einfachen der einzigen Notwendigkeit überantwortet, die nicht nötigt, indem sie zwingt, sondern die Not schafft, die sich in der Freiheit des Opfers erfüllt. Die Not ist, daß die Wahrheit des Seins gewahrt wird, was immer auch dem Menschen und allem Seienden zufallen möge. Das Opfer ist die allem Zwang enthobene, weil aus dem Abgrund der Freiheit entstehende Verschwendung des Menschenwesens in die Wahrung der Wahrheit des Seins für das Seiende. Im Opfer ereignet sich der verborgene Dank, der einzig die Huld würdigt, als welche das Sein sich dem Wesen des Menschen im Denken übereignet hat, damit dieser in dem Bezug zum Sein die Wächterschaft des Seins übernehme.
Frankfurt a. M. 1992, S. 49.
Unbekümmertheit wäre für Heidegger ein bloßes Zeichen für eine tiefe Verfallenheit an das „Man“ (zu dessen Attributen u.a. „Geschäftigkeit, Angeregtheit, Interessiertheit, Genussfähigkeit“, aber auch „Leichtnehmen“ und „Sichdrücken“ zählen). Tapferkeit vielleicht im Sinne einer auf den „Ruf des Gewissens“ folgenden „Entschlossenheit“ legitim – eine „Entschlossenheit“ freilich, die man eher mit derjenigen der letzten Nazi-Offiziere, die begeistert ihr ganz persönliches „Vorlaufen-in-den-Tod“ (in diesem Fall: in die Arme der Alliierten) inszenieren, als der wohl überlegten Desertion Anderschs – also der Umschlag von einer existentiellen, tiefen Angst in das andere (schlechte) Extrem. Wie will man das ständige vergebliche Bemühen darum, die (erkannte) Absurdität des Todes durch eine ganz tiefe Bewusstwerdung des Todes doch irgendwie ins Leben zu integrieren und ihm damit doch irgendwie einen Sinn zu verleihen auch anders aushalten?