Ex negativo // Erläuterungen zum Existenzialismus


Eigentlich ist der Existentialismus ziemlich genau das Gegenteil von diesem bescheuerten Kirchenlied. Einerseits bin ich vollständig ein „Kind des Zufalls“, eine Laune der Natur, andererseits ist mein Leben nichts weiter als völlig freie, absurde Entwurf meiner selbst, wie er sich in meinen Handlungen manifestiert. Zwischen diesen beiden Aspekten meiner Existenz gibt es keine Vermittlung, im Grunde besteht sie genau im diesem permanenten Scheitern.
Der Christ macht es sich freilich einfach: wenn ich ein Gedanke Gottes bin, ist mein Leben a priori gerechtfertigt. Es ist weder Zufall noch Entwurf, sondern Schicksal, höhere Fügung. Der Christ möchte an der Freiheit festhalten, doch erstarrt sie zur Freiheit eines Anderen: Gott ist der, der mich gewollt hat. Alle Fragen und Probleme werden damit freilich nur eine Ebene nach oben verschoben, nicht beantwortet. Warum hat Gott mich denn gewollt? Doch diese Frage ist eine verbotene für den Christ. Sie allein zu stellen impliziert schon eine Distanz vom gefügten Geschick, einen Spalt, in den das Nichts einzudringen imstande ist: es ist meine freie Wahl, mich zur göttlichen Fügung zu verhalten. Oder ist meine Annahme des Plans selbst Teil des göttlichen Plans? Wenn ich nur in einem Aspekt meines Lebens kein genialer Gedanke Gottes bin, bin ich es in keinem mehr. Deshalb bin ich es auch, wenn mich angesichts von Erfahrungen der Entfremdung Zweifel angesichts der Genialität Gottes plagen könnten. Die Religion ist eine geschlossene Weltanschauung. Jede poplige Kontingenz muss zwangsläufig als neuer Beweis des Nicht-zu-beweisenden herhalten.

Gottes Plan ist also absurd. Wozu dann noch Gott? Das Christentum erkennt die Absurdität der Welt im Grunde genauso an wie Camus und Co. Nur nimmt sie ihr, indem sie sie abspaltet, jeden Schrecken. Sie betrifft ja nicht mehr mich, sondern den Willen eines anderen. Dieser mag absurd sein, ich kann ihm doch gänzlich vertrauen, weil es ein guter Wille ist – ein guter Wille ist freilich, genau so wie ein böser, bereits kein freier mehr. Er ist ja verdammt dazu, gut zu sein, er kann nur gut sein und darin erschöpft er sich. Auch Gott kann also letztendlich nicht frei sein (er könnte sonst auch das Schlechte wählen), sondern ist selbst nichts als mit sich identisches Schicksal. Wie soll es auch sonst vor sich gehen? Wie soll ein weltloses Wesen aus sich selbst heraus eine Welt schaffen können? Wie soll es diesen Entschluss auch nur Denken können? Verräterisch: „Du bist ein Gedanke Gottes / ein genialer noch dazu.“ Hier hat der Dichter ein gefährliches Schlupfloch für nihilistische Haarspalterei gelassen. Wie sollte ein Gedanke Gottes jemals nicht genial sein?
Das Christentum fällt so in den Mythos, den es doch eigentlich überwinden wollte, zurück. Gott selbst kann nur als dem Schicksal unterworfen verstanden werden. Er ist vielmehr die Utopie eines jeden Christen: eine Wesenheit, die mit ihrem Schicksal identisch und trotzdem „frei“ wäre – eine logische Absurdität. Doch als Wunsch dechiffriert offenbart diese Utopie ex negativo: auch der Christ weiß, dass kein freies Wesen je mit seinem Schicksal identisch sein kann wie eine Teekanne das ist, was sie ist, sonst würde er Gott nicht als Ideal setzen. Dieses Ideal kann zum einen aus einem simplen Beharren auf Aufrichtigkeit kritisiert werden: der Christ kann im Grunde nicht wollen, was er will, weil es unsinnig ist. Zugleich ist sein Zustand einer der Selbstentfremdung, schlimmer noch, der gewollten Selbstentfremdung, die sich zugleich als solche leugnet und diese somit virtuell perpetuiert bis in alle Ewigkeit. Es ist somit ein Feind jedes Versuches, ein aufrichtiges, freies, verantwortungsvolles Leben in Anerkennung der eigenen wie der fremden Freiheit zu führen. Das Christentum ist die institutionalisierte Wahrheitsfeindlichkeit, Unfreiheit und Verantwortungslosigkeit. Da nun die Freiheit das Wesen der menschlichen Existenz ist, ist das Christentum schlussendlich vorallem eins: der Gipfel (vielleicht nicht der äußerste) der Menschenfeindschaft, des menschlichen Selbsthasses, der sich als Liebe zum Menschen verbrämt. Das Christentum liebt den Menschen immerhin insofern, als dass es ihm eine gut verdauliche Ideologie liefert, seine Vorurteile bedient und festigt. Es ist die Liebe eines Vaters, dass seinem Kind jedwede Bildung versagt und im Elternhaus einsperrt, um ihm das Unglück der wirklichen Welt zu ersparen.

Doch es gibt kaum Grund überheblich zu sein: das Lied sagt ja nur in aller Unschuld, was so gut wie jeder gern hätte. Der Christ traut sich nur in einem Akt intellektueller Selbstaufgabe (credo quia absurdum – „Ich glaube, weil es absurd ist“ – so tönte es schon in den Anfangstagen dieser wahnsinnigen Religion), das als real gesetzt anzunehmen, was andere als Traum betrachten. Insofern hat sein Entwurf etwas Ekelerregendes und etwas Bewunderswertes zugleich. Ekel erweckt die im Christentum noch mehr als in allen anderen Religionen offenkundige Leugnung aller Vernunft, die offen verkündete Inkonsistenz. Das Christentum ist die Unaufrichtigkeit in ihrem Wesen verkörpert. Bewundernswert ist gerade diese Dreistigkeit. Doch gerade weil sie eigentlich nur einen winzigen Schritt von der Wahrheit entfernt ist, einen Schritt freilich, von dem sie sich zugleich unendlich entfernt halten muss, um nicht unterzugehen, ist das Christentum seinem Wesen nach so intolerant: jeder Ungläubige muss bekehrt oder ausgerottet werden, denn er ist qua Existenz Leugnung der absurden Wahrheit. Das Christentum hasst vorallem eine Freiheit: die Freiheit, Gott zu leugnen – weil es die gesamte Freiheit hasst und abtöten will, bis nur noch Schicksal und Schicksalsergebenheit bleibt. Der radikale Christ müsste schließlich nichts, was er tut oder denkt, rechtfertigen. Ihm bleibt die Einsicht in die Grundlosigkeit der Begründungen erspart. Warum ziehen wir in den Krieg? „Gott will es.“ So erschallt der Ruf des Wahns seit Jahrtausenden bis heute unter veränderter Maskerade (die Partei will es, der Führer, die Tradition, das Schicksal …).
Auch Schiller spricht es in der Ode an die Freude, an einer der wohl pathetischsten Stellen in Beethovens Vertonung aus: „Brüder – überm Sternenzelt /Muss ein lieber Vater wohnen.“ Was ist das Geheimnis dieses „müssen“? Es „muss doch“ – sonst … ?

Ist ein vollständig Nicht-religiöses Leben überhaupt möglich? Ein Leben ohne die Hoffnung, dass mein Leben einmal gerechtfertigt sein könnte – und sei es nur dadurch, dass ein anderer mich liebt? Wird ein kommender Aufstand das ersehnte Heil bringen? Die Jugendbewegung, deren Teil ich sein möchte? Wir haben die Religion als Illusion schon lange durchschaut, aber wir haben sie noch lange nicht überwunden. Der Existenzialismus ist der Versuch, den Tod Gottes so radikal zu denken, wie er seit Nietzsche nicht gedacht worden ist.1 Nicht: „Du bist du.“ (in irgendeiner Form – freilich eine Selbstvergottung, ist es doch der Herr, der spricht: „Ich bin der ich bin“) sondern „Du bist nicht was du bist und bist, was du nicht bist.“ Soll heißen: der Mensch kann nicht im Modus der Identität-mit-sich beschrieben werden wie ein Baum, ein Stein, ein Haus.2 Meine Attribute, das was ich „bin“, sind immer fragil. Das drückt sich schon in dem Wörtchen „mein“ aus. Das, was „mein“ ist, ist bereits nicht mehr ich, es ist von mir getrennt. Ein kleiner Mann macht seine Kleinheit erst zu einer Eigenschaft, die ihn als „schicksalhaft“ minderwertig konstituiert und ihm aufdrägt, diese „angeborene“ Minderwertigkeit durch große Taten zu kompensieren. Vielleicht juckt es ihn die meiste Zeit garnicht, dass er klein ist, sondern er wird nur klein, wenn er Gründe für seine Misserfolge sucht. Erst der Wunsch, stewardess oder Modell zu werden, lässt eine Frau plötzlich „zu klein“ werden und lässt ihr ihr Leben als „verpfuscht“ erscheinen. In den Armen eines Mannes, der objektiv womöglich nicht einmal größer ist als sie, erfasst sie sich als „seine Kleine“ und genießt ihre physische Schwäche (und vice versa). „Kleinheit“ ist keine Eigenschaft, sondern ein Entwurf. (Natürlich gilt dasselbe für jede beliebige menschliche Eigenschaft.)
Egal ob ich glücklich oder traurig bin: ich habe mich zu dem gemacht, der ich bin, indem ich mich in bestimmten Situationen in bestimmter Weise entschieden habe. Dies ist freilich eine weniger angenehme Lehre als die, dass es da irgendwo einen „lieben Vater“ gebe, der schon dafür sorgt, dass alles „irgendwie stimmig“ ist. Sie gibt keinen Halt, sie verspricht nichts. Sie konfrontiert die Menschen nur mit dem, was sie als Wahrheit erkannt zu haben glaubt. Sinn müssen sie woanders holen – alles andere wäre unaufrichtig. Das scheint noch immer radikal zu sein. Ein kleiner Schritt im Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wie ein aufrichtiges Leben im Nichts möglich ist – das ist eben die große Frage, die auch der Existenzialismus nur andeutungsweise zu klären vermag. Aber es ist schon viel, wenn nicht gar das meiste, überhaupt die Frage klar vor Augen zu haben und alle sinnstiftenden, kleisternden Illusionen hinter sich zu lassen.

  1. Eine Anmerkung zur Rede vom „Tod Gottes“. Nicht zu Unrecht wirft etwa Georg Lukács Nietzsche vor, dass die Bedingung der Möglichkeit des Todes das vorherige Leben ist. Lebte Gott irgendwann einmal? Ja und nein. Die Religion war schon immer die Unwahrheit – und hatte auch selbst Bewusstsein davon. „Gott“ gab es nie, er war von Anfang an eine Todgeburt. Doch er lebte – als wirksame, handlungsleitende Idee. Nur in diesem Sinne ergibt die Rede von seinem „Tod“ Sinn. Er bezeichnet einen Zustand, in der das Christentum längst abgeschafft sein müsste, aber trotzdem fortexistiert – und sei es als Notwendigkeit, sich als A-theist zu rechtfertigen und Gott somit, wenn auch als Leiche, anzuerkennen. Insofern wohnt der Paradoxität seiner Formulierung an sich bereits Wahrheit inne: sie drückt die Paradoxität dieses Zustands aus, der auf eine gänzlich neue Lebensform verweist, deren Propheten Nietzsche wie Sartre sind.[zurück]
  2. Um es noch ein wenig komplizierter zu machen: streng genommen kann nur der Mensch identisch mit sich selbst sein – aber nur, insofern bereits der Ausdruck „Identität mit sich“ eine Trennung von beiden zu Identifizierenden Polen impliziert, die gewissermaßen in dem Ausdruck „mit“ steckt.[zurück]

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