Europaweite Vernetzung der Empörten: Ein Gebot der Stunde

Von Walter

An einer bis auf den letzten Platz besetzten zweitägigen Konferenz trafen sich Anfang Mai in Brüssel rund 250 AktivistInnen aus allen EU-Mitgliedsstaaten sowie GewerkschafterInnen, UmweltschützerInnen, ÖkonomInnen und empörter BürgerInnen, um über das Thema «EU in der Krise: Analysen, Widerstand und Alternativen zu einem Europa der Konzerne» zu diskutieren. Eine der Früchte dieser Konferenz sind eine Reihe von Vorschlägen, was Ziele und Inhalte einer gesamteuropäischen sozialen Bewegung sein könnten. – Hier eine Kurzfassung dieser Vorschläge.

  • Demokratisierung der Finanzindustrie: Wenn die Europäische Zentralbank (EZB) interveniert, um die in Not geratenen Banken zu retten, so muss die Verwaltung der betroffenen Banken in der Folge einer demokratischen Kontrolle unterworfen werden. Ferner soll die EZB auch bei den in Not geratenen Staaten intervenieren, indem sie mit Darlehen als Rettungsanker auftritt.
  • Wechselseitigkeit der Prozesse: Wenn man Staaten unter Sanktionsandrohung dazu zwingt, ihr Handelbilanzdefizit zu beseitigen, so müssen aus demselben Grund Staaten dazu gezwungen werden können, ihren innereuropäischen Handelbilanzüberschuss zu beseitigen. Denn dies ist die andere Seite derselben Medaille. Der Handelbilanzüberschuss Deutschlands entwickelte sich in verblüffender Art symmetrisch zum entsprechenden Defizit von Spanien, Portugal und Griechenland. Das heisst: Deutschlands Wirtschaftswachstum war nur Dank der Verarmung der südlichen EU-Länder möglich.
  • Der Ursprung der Krise: Die Staatsdefizite sind nicht die Ursache, sondern die Folge der aktuellen Krise, weshalb die Wirtschaftspolitik ihren Fokus auf die allseits bekannten Ursachen richten muss: die Deregulierung, die Monetarisierung und die fehlende Nachhaltigkeit unseres auf Konsum und Ausbeutung basierenden sozioökonomischen Modells.
  • Die Lösung war das Problem: Die konservative Agenda, die gegenwärtig die EU lenkt, wurde hauptsächlich durch Institutionen durchgesetzt, in welchen der Nationalismus der Regierung einzelner Länder höher gewichtet ist als die demokratische Stimme der Bürger. Somit waren die Europäische Komission, der Europäische Rat und die Europäische Zentralbank der Ausgangspunkt des Problems. Und das pluralistischere und ausgewogenere Europäische Parlament hat noch immer und wie seit Jahren im Verhältnis dazu wenig Macht.
  • Das Problem ist nicht der Euro, sondern dieser Euro: Ideologisch betrachtet gibt es überhaupt keinen praktischen Unterschied, ob man sich für eine andere Wirtschaftspolitik innerhalb des Euro einsetzt oder für den Austritt aus dem Euro und danach eine andere Wirtschaftspolitik auf staatlicher Ebene anstrebt. Aber keine Regierung kann alleine ihre Wirtschaftspolitik gegen den riesigen Finanzmarkt durchsetzen. Nicht einmal Mitterrand schaffte das in den Jahren 1981/82. Und damals waren der Kapitalismus und die Globalisierung bedeutend weniger aggressiv.
  • Fortschrittlicher Europäismus: Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind auf europäischer Ebene weniger und schlechter organisiert als auf einzelstaatlicher Ebene. Trotzdem wird der grösste Teil des Rechts, das heute die Bürger betrifft, auf europäischer und nicht auf einzelstaatlicher Ebene gesprochen. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass das Problem weder beim europäischen Projekt an sich noch beim Euro liegt, sondern bei der neoliberalen Wende.
  • Wir sind Europa: Die paneuropäische Bewegung ist die Fortsetzung der Bewegung auf staatlicher Ebene. Nun ist es aber nicht so, dass die sozialen Bewegungen zwischen der einen oder anderen Ebene wählen müssen. Tatsächlich ist es dieselbe. Und die Bewegung lebt nur auf gesamteuropäischer Ebene, wenn sie vorgängig auf einzelstaatlicher Ebene lebt. Das ist nicht anders, wie die Lobbyorganisationen ihren Einfluss ausüben: Sie tun das auf lokaler, staatlicher und europäischer Ebene. Um dem neoliberalen Diskurs auf den entsprechenden Entscheidungsebenen etwas entgegenzuhalten, ist es notwendig, auf all diesen Ebenen einen fortschrittlichen Diskurs anzustossen und zu führen.
  • Kapital oder Demokratie: Historisch war der Kapitalismus mit der Demokratie vereinbar. Doch beim heutigen Finanzkapitalismus scheint das nicht mehr der Fall zu sein. Denn die öffentlichen Dienste und der Wohlfahrtsstaat sind auf seiner Abschussliste. Und gerade dies sind die Stützpfeiler des sozialen Modells und der Demokratien in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
  • Schock-Doktrin: Obschon die Massnahmen zur Haushaltsdisziplin angeblich zur Bewältigung der Krise ergriffen werden, haben sie überhaupt keinen sachlichen Bezug dazu. Die Tatsache, dass in keinem EU-Land die Austerität erfolgreich war und dass solche Bestrebungen im Sinne der neoliberalen Doktrin bereits vor der Krise im Gange waren, ist Beweis genug, dass die Krise nur eine Ausrede ist, um in Europa unter Umgehung der demokratischen Debatte eine neoliberale Agenda durchzusetzen.
  • Keine Einbahnstrasse: Wir brauchen einen anderen Euro und eine andere Wirtschaftspolitik. Es ist nicht so, dass ein anderes Europa möglich ist. Ein anderes Europa ist notwendig.
  • Wir sind Menschen und nicht Märkte: Die Erfahrung zeigt, dass es nichts bringt, wenn wir die Märkte besänftigen. Obschon Märkte schnell und Demokratien langsam sind, ist nach wie vor das langfristige Vertrauen der Bürger (um zu Kompromissen zu kommen) wichtiger als das kurzfristige Vertrauen der Märkte (um von ihnen grünes Licht zu erhalten). Dies ist deshalb so, weil die Bürger Mitglieder der Gesellschaft sind und ihre Bindungen langfristiger Natur sind. Die Wirtschaftsakteure hingegen sind Konkurrenten auf dem Markt. Ihre Bindung ist kurzlebig und beruht auf den Vorgängen (und Momenten) des Kaufens und Verkaufens.
  • Hart mit den Schwachen, schwächlich mit den Starken: Die moralische Krise, in welcher der heutige Kapitalismus steckt, besteht darin, dass er die unschuldigen Teilnehmer des Systems – die Arbeiter – bestraft und die schuldigen – die Arbeitgeber – belohnt. Die Mächtigen werden wie Allmächtige behandelt, die Schwachen wie Sünder.
  • Wer ist von wem abhängig? Die neoliberale Ideologie möchte sich die Sprache aneignen, diese geradezu beschlagnahmen. Die Globalisierung ist die Globalisierung des Kapitalismus. Die Entwicklung ist die Entwicklung des Kapitalismus. So besteht die Gefahr, dass Sprache und Politik gleichermassen verfälscht werden zugunsten einer gesellschaftlich minoritären Ideologie. Und trotzdem braucht der Neoliberalismus auch weiterhin den Staat, die Politik und die Demokratie als Werkzeuge, um seine Ziele zu erreichen.
  • Überwindung des Intermediären: Die horizontale Bewegung des Typs 15-M möchte die traditionellen Wege der sozialen Einflussnahme und Entscheidfindung von politischen Parteien und Gewerkschaften überwinden. Diese versuchen, an der Spitze der sozialen Pyramide Einfluss zu nehmen. Der neue Impuls möchte das intermediäre, repräsentative Element umgehen, indem er den Vermittler als öffentliche Figur umgeht, damit alle öffentliche Aufmerksamkeit der Botschaft und deren Sinn für die Gemeinschaft zukommt.
  • Déjà vu: Die zunehmenden Probleme in Europa, was Deregulierung, Privatisierung und Konzentration der politischen Entscheide in den Händen einer Elite anbetrifft, kennt man in Afrika, Asien und Lateinamerika seit Jahrzehnten. Es ist deshalb empfehlenswert, sich in der EU auf die Taktiken und Intrumente des Widerstands zu besinnen, die im Süden dagegen ergriffen wurden.
  • Streichung der Schulden: Es gibt keinen Sinn, dass sich die europäischen Staaten überschuldet haben, um die Schulden der Banken und Finanzinstitute zu übernehmen, nicht aber gleichzeitig deren Besitz und Entscheidungsbefugnis sozialisiert haben. Mehr noch: Sie werden vom Finanzsystem dafür auch noch bestraft. Die Bürger bezahlen ein-, zwei, dreimal für eine Krise, die sie gemildert und nicht verursacht haben. Diese Schulden sind unrechtmässig und müssen gestrichen werden.
  • Dritte Welt in Europa: Das Auseinanderdriften von Zentrum und Peripherie, von Nord und Süd in Europa widerspiegelt die klassischen Machtverhältnisse und die Narration Erste Welt – Dritte Welt. In diesem Sinne erleidet Spanien heute eine fortschreitende Lateinamerikanisierung. Deshalb können in Lateinamerika auch Antworten darauf gefunden werden.
  • Gegen die Erschaffung von Mangel: Der von den Lobbys propagierte grüne Kapitalismus beinhaltet viel Kapitalismus und wenig Grün. Er will die Natur in wirtschaftsfähige, auf Märkten handelbare Aktive verwandeln. Diese Kommerzialisierung der natürlichen Ressourcen erzielt man über Gesetze, deren Ziel es ist, neue Märkte zu schaffen, die Mängel und Bedürfnisse erzeugen, wo es sie in Wirklichkeit gar nicht gibt. Man muss die Landverteilung repolitisieren und die Aneignung der Natur stoppen.
  • Eine andere Entwicklung entwickeln: Die Rechte fördert ein Entwicklungsmodell, das auf der Ausbeutung und dem verschwenderischen Gebrauch der Rohstoffe beruht und ein produktivistisches, ausbeuterisches und konsumistisches System aufrecht erhält. Infrastrukturprojekte sind zu rationalisieren und die Nachhaltigkeit ist als Leitprinzip bei wirtschaftlichen Entscheiden durchzusetzen.
  • Vernetztes Arbeiten: Der europäische Aktivismus braucht keine übergeordnete Organisation, welche alle heute bestehenden Kräfte umfasst, sondern eine Koordination, welche diese Kräfte strukturiert. Es braucht also keine übergeordnete Struktur, sondern eine Vernetzung, letztlich ein gemeinsames Netz, einen Raum der Übereinstimmung, auf den man sich bezieht – bei der Idee für eine lokale Aktion ebenso wie bei der europaweiten Koordination. Denke auf europäischer Ebene, handle auf lokaler Ebene!

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Die Konferenz wurde vom Corporate Europe Observatory und dem Transnational Institute organisiert. Die Zusammenstellung der Vorschläge entdeckte ich auf periodismohumano.com, einer spanischsprachigen Plattform für Journalismus mit Schwerpunkt Menschenrechte. (Hier geht es zum Original.) – Übersetzung: Walter B.


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