«Ihr verdient es nicht, Europa genannt zu werden», soll der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi anlässlich des jüngsten Gipfels der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel gesagt haben. Es sei sogar noch weiter gegangen: “Wenn dies eure Idee von Europa ist, dann könnt ihr sie behalten.” Wenn Europa nicht Solidarität zeige, werde mit den Diskussionen nur Zeit verschwendet.
Italien und Griechenland hatten an diesem Gipfel gefordert, dass die anderen EU-Staaten 40’000 Flüchtlinge aufnehmen sollen – also eine Umverteilung der Flüchtlinge. Man hat sich dann dem Vernehmen nach gegen eine verpflichtende Flüchtlingsquote ausgesprochen und auf eine freiwillige Umverteilung geeinigt. Mit der Freiwilligkeit ist es aber so eine Sache: Damit haben nicht nur Regierungen ihre Probleme. Man kennt es ja auch aus dem Privatleben. Freiwillig wird etwas nur gemacht, solange es nicht weh tut. Und die Flüchtlingsthematik, die tut weh.
Es ist grundsätzlich egal, ob jemand aus wirtschaftlichen Gründen flüchtet, oder aus einem Kriegsgebiet. Alleine die Tatsache zählt, dass überhaupt ein Grund besteht, aus dem Heimatland zu flüchten. Während Kriegsflüchtlinge in unserer Gesellschaft geduldet werden, wird mit der Bezeichnung «Wirtschaftsflüchtling» jede Person abgestempelt, die ihr Glück in unseren Gefilden sucht. Dabei scheint doch das Auswandern etwas urschweizerisches zu sein: In den 1880er-Jahren wanderte eine Rekordzahl von Schweizern nach Amerika aus. Gegen 82’000 Menschen sollen das gewesen sein. Sie gehörten damit zu fast fünf Millionen Europäern, die ebenfalls weg wollten. Die Gründe: Wirtschaftliche Depression, politische und soziale Spannungen in Europa, Existenzprobleme von Bauernfamilien und eine Bevölkerungsexplosion. Laut dem Forum für die Integration der Migrantinnen und Migranten (Fimm) wanderten von 1850 bis ins Jahr 1900 rund 330’000 Menschen aus. Gleichzeitig wanderten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutsche Akademiker, selbstständige, Handwerker und Italiener ein. «Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur industriellen Entwicklung mit ihrer Arbeitskraft. Die Fachkräfte aus Deutschland und England stellten Know-how und persönliche Handelsverbindungen zu anderen Gebieten in Europa.»
Diese Emigration aus der Schweiz war aber keine Ausnahme. «Vom 16. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sind stets mehr Menschen aus der Schweiz ausgewandert als eingewandert», so dass Fimm. Wegen grosser Verarmung von ganzen Bevölkerungsschichten sollen manche Schweizer Behörden ihre Bürger sogar zur Auswanderung «motiviert» haben. Was unsere Gesellschaft jetzt erlebt – und was sie auch stark kritisiert – ist also nicht etwa neu. Die verarmten Schweizer Auswanderer hätten sicher nicht gerne gehört, sie sollen in ihrem Land bleiben und es unterstützen. Wirtschaftsflüchtlinge sind nicht zu faul in ihrem Heimatland zu arbeiten, aber sie haben gar keine Möglichkeit dazu. Aussitzen ist für sie keine Lösung. Zudem profitieren sogenannte «Sending countries» von den Rücküberweisungen ihrer Landsleute im Ausland. «Migrants’ remittances to developing countries are estimated to have reached $436 billion in 2014, a 4.4 percent increase over the 2013 level», so die Weltbank.
Natürlich löst man keine Probleme, indem Europa einfach alle Flüchtlinge aufnimmt. Aber das Problem ist nicht der einzelne Flüchtling, das Problem ist der Grund zur Flucht. Der Flüchtlingsstrom wird nicht abnehmen, solange die Menschen mit Terror und Armut konfrontiert sind. Wenn Europa das Problem der Flüchtlinge lösen will, muss es für bessere Lebensverhältnisse in den «Sending countries» sorgen. Auf kurze Sicht ist aber ein anderer Schritt notwendig: Europa muss endlich zusammenstehen und Italien sowie Griechenland helfen. Es braucht eine Verteilung der Flüchtlinge, die betroffenen Ländern sind völlig überfordert. Es ist schon sehr verwunderlich, wieso man gerade Griechenland mit dem Flüchtlingsproblem alleine lassen will, wo doch diesem Land in jüngster Zeit alle Kompetenz in anderen Bereichen, unter anderem Steuer- und Finanzfragen, abgesprochen wird.