Eine österreichische Provinzhauptstadt
Tatsächlich merkt der Venedig-Tourist heute kaum etwas davon, dass vor 200 Jahren Venedig eine österreichische Provinzhauptstadt war. Wer zum Beispiel beim Besuch der Biennale auf dem Weg vom Arsenal zu den Giardini die Via Garibaldi quert, wird sich nicht bewusst sein, dass diese ungewöhnlich breite Straße während der österreichischen Herrschaft angelegt wurde, indem der dortige Rio zugeschüttet wurde. Die Giardini selbst stammen ebenfalls aus dieser Zeit. Auch die höchstens für venezianische Briefträger durchschaubare Hausnummerierung und der Brauch, dass vor den Cafés am Markusplatz Musikkapellen aufspielen, stammen aus dem frühen 19. Jahrhundert.
Positiv zu vermerken sind die denkmalschützerischen Maßnahmen der österreichischen Behörden, die manche venezianische Kirche vor dem Verfall bewahrten. Österreich bemühte sich außerdem, aus dem im Grunde noch immer mittelalterlich regierten Venedig eine moderne Stadt zu machen.
Politische Tauschhändel
Insgesamt allerdings war die österreichische Herrschaft nicht gerade die glorreichste in der Geschichte der Stadt. Das beginnt schon mit dem Erwerb: Venedig wurde Österreich von Napoleon 1798 im Tausch gegen niederländische Gebiete zugeschanzt. 1797 hatte ja der letzte Doge abgedankt, die Franzosen rückten ein und machten sich bei den Venezianern unbeliebt, sodass diese den Wechsel zu Österreich als „kleineres Übel“ sahen.
Drei Perioden österreichischer Herrschaft
Die österreichische Herrschaft gliedert sich in drei Perioden: 1798-1806, danach fiel Venedig wieder an Frankreich; 1814-1848, danach gab es revolutionsbedingt eineinhalb Jahre eine Republik Venedig, 1849-1866, danach wurde Venedig Teil des neuen Königreichs Italien, und zwar wieder als Ergebnis eines Schachers: Österreich hatte als Verlierer der Schlacht von Königgrätz 1866 Venetien an Frankreich abzutreten, das das Gebiet aber dem neuen Königreich Italien überließ.
Chancen nicht genützt
Die Chancen, die der Besitz Venedigs vielleicht geboten hätte, nützte Österreich allerdings während der 60 Jahre seiner Herrschaft nicht. Weder die seefahrerischen Stärken noch die Handelserfahrung Venedigs konnten sich neu entfalten, die Schiffsproduktion im Arsenal dümpelte vor sich hin, die Flotte schrumpfte auf Mini-Format, in der Stadt kam es zu keinem wie auch immer gearteten Boom, höchstens in Sachen Zensur und Bürokratie, wo die Österreicher den Italienern damals nicht nachstanden.
Der Band enthält neben Semraus ausführlicher Darstellung ein Vorwort von Miguel Herz-Kestranek und eine längere historische Einführung von Antonio A. Rizzoli. Zahlreiche Fotos und Farbabbildungen ergänzen den Text. Der Zugehörigkeit zur Reihe „styria premium“ ist die Fadenheftung zu verdanken.
Eugen Semrau: Österreichs Spuren in Venedig. styria premium. Styria-Verlag, Wien u. a., 2010. 156 Seiten.
Bild: Wolfgang Krisai: Via Giuseppe Garibaldi, Venedig. 2015. Tuschestift, Buntstift, z. T. mit Wasser vermalt.