Aber von wegen. Kurz vor Silvester 1999 war der "Spiegel" berufen, es den Deutschen amtlich mitzuteilen. "Die Brüsseler Republik" hieß das von einem Dirk Koch verfasste Manifest, das den Fahrplan zum Bundesstaat Europa ganz beiläufig zwischen Tannenbaum und Silvesterrakete packte. "Im 21. Jahrhundert wächst der europäische Bundesstaat heran", schwärmte der Autor, "er wird ein Multikulti-Staatsvolk von wenigstens 440 Millionen Menschen umfassen."
Groß und bunt, das gefällt doch! Niemand, oder doch wenigstens der "Spiegel" hatte da etwas dagegen, dass Jean-Claude Juncker seine Strategie verriet, wie er mit "Pfiffigkeit" und rabiaten Tricks dafür sorgt, dass keiner merkt, was vor sich geht. "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert", verriet der Premier des kleinen Luxemburg den Weg, auf dem er die Staats- und Regierungschefs der EU in der Europapolitik übertölpelt. "Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."
Es wirklich wahr, denn im Spiegel-Archiv ist es bis heute nachzlesen: "So wurde bei der Einführung des Euro verfahren, als tatsächlich kaum jemand die Tragweite der ersten Beschlüsse 1991 zur Wirtschafts- und Währungsunion wahrnehmen mochte."
Überhaupt war das die Generallinie. "So ähnlich lief es jetzt wieder beim EU-Sondergipfel im finnischen Tampere, wo komplizierte Entscheidungen zur Justiz- und Rechtspolitik fielen." Die Wirkung, frohlockt Koch: "In wenigen Jahren werden die Mitgliedstaaten die Folgen spüren. Brüssel gibt dann die Mindeststandards für die Asylpolitik vor. Und das Geschrei in Bayern und anderswo wird groß sein, wenn die Ermittlungsaufträge von Europol an deutsche Sicherheitsbehörden die Polizeihoheit der Bundesländer durchlöchern."
Ist doch für eine feine sache, nicht war? "Nach derselben Methode soll der Bau des Bundesstaates Europa weitergehen", heißt es weiter. Eigentlich gebe es den bereits, nur das Bundesverfassungsgericht wolle das nicht wahrhaben. Aber die Europäische Union, über die die Mehrzahl der Völker nie hatte abstimmen dürfen, weise "die entscheidenden Merkmale auf: Als Rechtsgemeinschaft mehrerer Staaten entscheidet sie wie ein Bundesstaat über jene Fragen, die für den Bestand des Ganzen wesentlich sind, während die Gliedstaaten ihre Staatlichkeit behalten und an der Willensbildung des Ganzen entscheidend beteiligt sind."
Klar, das alles sei noch ziemlich unfertig, funktioniere ja aber. "Mindestens 60 Prozent der deutschen Innenpolitik, sagt sogar Europaskeptiker Edmund Stoiber, werden heute in Brüssel gemacht."
Und das war erst der Anfang, wie wir heute wissen, 13 Jahre nach dem weitsichtigen Text. Die bundesstaatlichen Strukturen würden sich im neuen Jahrhundert verfestigen, "mal schleppend, mal in Schüben", prophezeit der hellsichtige Schreiber, der augenscheinlich nicht an Feinstaubrichtlinien, Glühbirnenverbot und zentrale arebeitszeitrichtlinien dachte, sondern an irgendetwas Großen, Schönes, Historisches. Denn, schreibt er, "ein zunehmend mächtigeres Europäisches Parlament (EP) nimmt sich mit wachsendem Selbstbewusstsein neue Rechte. Ohne Widerspruch aus Paris, London oder Berlin nennt Präsident Romano Prodi, vom EP als Quasi-Kanzler gewählt, seine EU-Kommission eine "Art europäische Regierung".
Ein Traum für alle, die den Nationalstaat für einen Irrweg der menschlichen Entwicklung halten. Viel fehlte damals schon nicht, ihn auf den Schutthaufen der Geschichte zu befördern. "Eine eigene Armee hat die Brüsseler Republik bald auch. Der Aufbau einer modernen, EU-geführten Streitmacht von 150 000 Mann ist eine der Hauptaufgaben für den neuen Hohen Repräsentanten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, den EU-Außenminister." Und eine Art gemeinsames "Staatsgebiet" bilde der Binnenmarkt schon jetzt - ohne Grenzen für Personen, Waren und Dienstleistungen.
Richtig erkannt hatte Dirk Koch auch, dass der Euro eine Schlüsselrolle spielen würde. "Dass die Nationen auf den Kern ihrer Souveränität, die eigene Währung, zu Gunsten des Euro verzichteten, war der entscheidende Schritt hin zum europäischen Bundesstaat", freut er sich. Es gab ja auch Grund zum Schwärmen: "Die Europäische Zentralbank in Frankfurt lenkt inzwischen ohne größere Probleme die gemeinsame Geldpolitik im Euroland der Elf", jaja, so war das Ende des 20. Jahrhundert. Man glaubte damals sogar, dass nicht nur Dänen und Grieche, sondern auch Briten und Schweden "früh im neuen Jahrhundert im Interesse ihrer Wirtschaft dazustoßen" werden.
Schließlich war die "EU in ihren Strukturen und Kompetenzen nicht versteinert, sondern beweglich geblieben". Deshalb werde sie auch mit der Erweiterung nach Osten und Süden fertig werden. Groß, größer, gigantisch! "Ob zur EU 375 Millionen Menschen oder bald 440 Millionen oder eines Tages 540 Millionen gehören, ist mehr ein Organisationsproblem - wenn nur die strengen Beitrittsbedingungen der EU bei Demokratie, Menschenrechten und Wirtschaft nicht missachtet werden."
Von einer Einhaltung der im Maastricht-Vertrag festgelegten Regeln war schon vorab nicht mehr die Rede. Hauptsache, der Bundesstaat Europa werde am Ende "eine Art Multikulti-Staatsvolk aufweisen". Gleich nach der Euro-Einführung ging los: "Hielten die Leute 2002 erst einmal die Banknoten und Münzen des Euro in den Händen, sagt Luxemburgs Juncker voraus, "dann bildet sich bald ein neues Wir-Gefühl: wir Europäer".