…Die wichtigen, richtungsweisenden Debatten werden allesamt außerhalb der Medien geführt. Der Umgang mit der europäischen Schuldenkrise und die Zukunft der EU? Die Diskussion dazu gab es im Netz und als ritualisierten Showdown im Bundestag. Systemkritik findet auf den Plätzen dieser Welt statt, wenn Zehntausende unter dem Banner der Occupy-Bewegung gegen wachsende Ungerechtigkeiten und für die Demokratie auf die Straße gehen. Und die letzten Weckrufe für die deutsche Parteipolitik kamen nicht von Seiten des „Spiegel“ oder der „Zeit“, sondern von einer Handvoll Berliner Piraten und den Aktivisten des Chaos Computer Clubs.
Die Medien haben darüber berichtet – manchmal betont neutral, oftmals ablehnend, fast immer abwartend. Doch bis die Themenvorschläge durch die Redaktionskonferenzen geprügelt waren und die Scharen der Reporter ausschwärmen durften, war die Diskussion bereits wieder drei Schritte weiter. Während die großen Fragen der politischen und gesellschaftlichen Richtungsfindung sich wie Gewitterwolken auftürmen, holen die Medien zögerlich den Pullover raus – es könnte sich ja abkühlen. Es spricht Bände, dass der „Independent“ noch gestern über die Proteste schrieb, man habe ursprünglich „nicht viel davon erwartet“.
Seit Samstag habe ich mich im Camp der Demonstranten vor der Londoner Börse herumgetrieben – und mich seltsam konservativ dabei gefühlt. Konservativ nicht in meinen Ansichten, sondern in der Realisierung, dass hier offensichtlich eine ganze Reihe von Menschen besser verstanden hat als jede klassische Redaktion, welche Veränderungen wir durchleben. Dass die Aufgabe der Medien, „zu berichten und Kritik zu üben“ inzwischen offensichtlich von anderen erfüllt wird. Dass die Argumentationsstränge der Politik nicht primär von Journalisten hinterfragt werden, sondern von einer Gruppe, deren wichtigste Waffen die Netzaffinität und eine ehrliche Frustration zu sein scheinen…
http://www.theeuropean.de/martin-eiermann/8506-occupy-und-die-medien#8506