Da das Vorkommen von Essstörungen in den letzten 20 Jahren stark zugenommen hat und ich das Thema sehr wichtig finde, möchte ich heute Simone Happel zu Wort kommen lassen.
Simone ist eine ehemalige Betroffene und zeigt als Coach seit 2006 Menschen den Weg aus dem Teufelskreis Essstörung.
Was treibt dich an Simone? Wofür lohnt es sich jeden Morgen aufzustehen?
Abgesehen von meinen Kindern ist mein großer Hunger auf dieses Leben mein Motor. Durch das Auseinandersetzen mit meiner Essstörung habe ich enorm viel gelernt, vor allem über mich selbst. Dieses Selbst-Bewusst-Sein ist meiner Meinung nach der Schlüssel für ein zufriedenes und erfolgreiches Privat- und Berufsleben. Ich möchte andere Frauen, andere Menschen, dazu ermutigen, genau hinzuschauen und sich selbst gegenüber ehrlicher zu werden. Viele von uns leben sehr fremdbestimmt, merken es kaum, leiden aber darunter. Aus diesem Zustand heraus entstehen Krankheiten wie Essstörungen, aber auch Zwänge, Ängste, Burn Out, Opferhaltungen etc. Sich ehrlich mit sich selbst auseinanderzusetzen erfordert Mut und Zeit, wird aber irgendwann zum erfolgreichen Selbstläufer. Ich habe mich – mit Unterbrechungen – ungefähr acht Jahre lang aktiv mit der Essstörung auseinander gesetzt, bis ich sie nicht mehr „brauchte“. Seit über 14 Jahren bin ich völlig gesund. Und gesund sein hat für mich nichts mit Kontrolle oder Disziplin zu tun. Gesund sein – in Bezugs auf die Essstörung – heißt für mich, zu essen, wie ein Kind. Die Essstörung muss raus aus dem Kopf, denn dort ist sie entstanden.
Wie bist du zum Bloggen gekommen?
lebenshungrig.de ist schon seit Januar 2006 online und war bis Mai 2011 eine recht statische Seite. Zum fünfjährigen Jubiläum habe ich ihr dann einen Relaunch gegönnt und die Seite um einen Blog ergänzt. Mir ist es wichtig, einmal wöchentlich einen neuen Beitrag zu veröffentlichen um meine Leserinnen auf vielfältige Weise zum genauen Hinschauen zu ermutigen.
Parallel dazu blogge ich auf der LifeStylistin darüber, wie man sich mit viel Leidenschaft und wenig Kapital ein eigenes (Internet) Unternehmen aufbauen kann. Hierzu nutze ich lebenshungrig.de als gelungenes Beispiel
Essstörungen sind kein einfaches Thema. Warum ist es dir wichtig?
Zum einen ist es mir wichtig, weil die Essstörung eine Zeitlang mein engster Begleiter war und mich vor die Wahl gestellt hat, genau hinzuschauen, oder unterzugehen. Essstörungen sind allgegenwärtig und auch wenn mittlerweile offener damit umgegangen wird als zu meiner Zeit, sind sie – gerade für die Betroffenen – noch immer ein großes Tabuthema.
Mein eigener Umgang damit ist sehr ungezwungen denn ich weiß heute, dass in jeder Essstörung eine große Chance liegt. Wir müssen „nur“ raus finden, was die Essstörung uns sagen will.
Außerdem glaube ich, dass die Zahl von essgestörten Frauen – und mittlerweile auch Männern – sehr viel höher ist, als angenommen. Und ich gehe davon aus, dass sie – unterstützt durch den Schönheitswahn unserer Gesellschaft – weiter ansteigen wird.
Essstörungen sind ein großes Thema unserer Zeit, unserer Überflussgesellschaft. Eine Essstörung zu haben bedeutet, mit einer Menge Druck, Schuld- und Schamgefühlen zu leben. Aber Essstörungen generell bedeuten auch hohe Folgekosten für unsere Gesellschaft. Und damit meine ich nicht nur die Kosten, die auf die Krankenkassen zukommen…
Wir alle müssen sensibler werden und erkennen, dass z. B eine Bulimie schon deutlich vor dem ersten Brech-Gang zur Toilette entsteht. Diäten sind die „Einstiegsdroge“ in eine Essstörung. Und wer von uns hat nicht mindestens eine Freundin, die ständig Diät macht?
Wie kam die Idee einen Online-Workshop zu dem Thema zu entwickeln?
Für mich ist das Internet das ideale Medium um sich – gerade zu Beginn – mit seiner Essstörung auseinander zu setzen. Nachdem lebenshungrig.de ungefähr ein Jahr online war, bekam ich immer häufiger Mails. Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass sich die Fragen der Betroffenen stark ähnelten. Und ich dachte darüber nach, wie ich diese Fragen gebündelt beantworten könnte.
Zur selben Zeit war ich das erste mal in Elternzeit und hatte – nach einem halben Jahr mit einem Frühchen – das dringende Bedürfnis, wieder mehr mit meinem Kopf zu arbeiten. Im Internet entdeckte ich die Möglichkeit, einen Kurs zu belegen, mich mit anderen auszutauschen, flexibel zu sein, ohne dabei das Haus verlassen zu müssen: einen Online-Workshop!
Nachdem ich also selbst meinen ersten Online-Workshop absolviert hatte, zählte ich eins und eins zusammen und entwickelte einen Online-Workshop für essgestörte Frauen. „GEWICHTIG: raus aus der Essstörung, rein ins Leben“ ist jetzt schon seit Dezember 2008 erfolgreich online.
Wie erkennt man eine Essstörung?
Frauen mit einer Essstörung sind fast immer auf Diät und achten bei Nahrungsmitteln ständig auf Kalorien- und Fettgehalt. Ein Großteil ihres Denkens dreht sich um essen oder nicht-essen und sie glauben, dass man dünn sein muss, um glücklich, erfolgreich und anerkannt zu sein. Essgestörte Frauen wiegen sich oft mehrmals täglich, denn die Gewichtszunahme ist ihre größte Angst und ihr Stimmungsbarometer. Frauen mit einer Essstörung essen sich selten satt, unterdrücken ihr Hungergefühl häufig durch Rauchen, Kaugummi kauen, Unmengen an Wasser etc.. Sie treiben häufig exzessiv Sport, sind meist perfektionistisch und „funktionieren“ – zumindest am Anfang der Störung – im Alltag recht gut.
Während Magersüchtige permanent hungern, haben Bulimikerinnen Fressanfälle bei denen sie Unmengen an Nahrungsmitteln zu sich nehmen um sie anschließend wieder auszubrechen. Frauen mit Binge Eating haben häufig Fressanfälle, erbrechen sich aber anschließend nicht.
Frauen mit einer Essstörung können untergewichtig (Magersucht), übergewichtig (Binge Eating) und auch normalgewichtig (Bulimie) sein.
Was können Eltern oder Freunde tun, wenn Sie das Gefühl haben, bei jemandem stimmt etwas nicht?
Ehrlich gesagt nicht all zu viel, solange die Betroffene nicht einsichtig ist. Das Problem von Essgestörten ist weder das Essen noch ihr Gewicht. Und das müssen die Frauen zunächst selbst begreifen. Sie müssen sich helfen lassen wollen, sich selbst um eine Therapie etc. bemühen.
Eltern und Freunde können dabei unterstützen, in dem sie ein „offenes Ohr“ haben. Aber sie können die Betroffene nicht retten und ihr auch den Weg raus aus der Essstörung nicht abnehmen. Essgestörte Frauen müssen lernen, sich gut um sich selbst zu kümmern, auf ihre Wünsche und Bedürfnisse zu achten.
Konzentrieren sich Eltern oder Freunde zu stark auf die Essstörung bzw. die Essgestörte, bedeutet das für die Betroffene häufig nur Druck und wirkt sich kontraproduktiv auf alle Beteiligten aus.
Wenn Eltern und Freunde bei sich selbst beginnen und sich gut um sich kümmern, ihr eigenes Leben leben, geben sie dadurch der Betroffenen die Möglichkeit, dies auch zu tun.
Wo liegen die Ursachen? Sind die Medien und der Schlankheitswahn Schuld an Essstörungen?
Die Medien bzw. der Schlankheitswahn sind ein Teil der Ursache für Essstörungen. Frauen mit einer Essstörung haben zudem generell ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper. Es fällt ihnen häufig schwer, eine positive weibliche Identität zu entwickeln und sie neigen dazu, ihre Körpersignale (wie z. B. „hungrig“) zu verleugnen oder zu ignorieren. Außerdem kommen Frauen mit einer Essstörung aus krankhaften Familienstrukturen. In ihren Herkunftsfamilien steht oftmals der Leistungsgedanke im Vordergrund während gleichzeitig Gefühle stark kontrolliert werden. Konflikte werden häufig nicht offen ausgetragen und den Kindern wird zu wenig Unterstützung bei Problembewältigungen geboten. Häufig bereitet den Betroffenen auch der Abnabelungsversuch große Schwierigkeiten, da sie von ihren Eltern keine gesunde Abgrenzung gelernt haben. Diese Frauen erkennen sich nicht als eigenständige Persönlichkeiten und fühlen sich zu stark verantwortlich für das Wohlergehen ihrer Eltern. Diese Art der Abhängigkeit übertragen essgestörte Frauen dann auch in ihre Partnerschaften. Zudem ist die „chemische Grundkonfiguration“ (vor allem die sog. Transmitter Serotonin, Dopamin und Noradrelin) bei Frauen mit einer Essstörung aus der Balance geraten. Ursachen hierfür sind unangenehme Erlebnisse und/oder eine längerfristige falsche Ernährung, z. B. eine unausgewogene Diät.
Welche Wege aus der Essstörung gibt es?
Das wichtigste ist das Eingeständnis, das man eine Essstörung hat. Außerdem müssen essgestörte Frauen begreifen, dass das Essen bzw. ihr Gewicht und ihr Aussehen nicht ihr eigentliches Problem darstellen. Sie müssen erkennen, was ihnen die Essstörung sagen will, wo ihre Ursachen liegen, sie müssen den Grund ihrer Essstörung verstehen. Der Wunsch, gesund zu werden, muss irgendwann stärker sein, als der Wunsch, um jeden Preis dünn zu sein. Wobei das Eine das Andere nicht ausschließt. Außerdem halte ich die Hilfe von Außen, in Form meines Online-Workshops, einer Therapie, eines Klinikaufenthalts, einer Selbsthilfegruppe, Selbsthilfebücher etc. für unerlässlich.
Wie sehen deine eigenen Visionen, Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft aus?
Ich wünsche mir, dass lebenshungrig.de noch sehr vielen Frauen dabei hilft zu erkennen, dass ihre Essstörung letztlich nichts anderes bedeutet als „Ich habe HUNGER auf mein LEBEN!“
Außerdem wünsche ich mir, dass die LifeStylistin.de sehr viele Frauen die Chancen unserer Zeit erkennen lässt und aus Unterlasserinnen Unternehmerinnen macht.
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Simone Happel lebt in der Nähe von Marburg. Seit Januar 2006 ist sie mit lebenshungrig.de online, den dazugehörigen Blog gibt es seit Mai 2011. Nachdem sich lebenshungrig.de etabliert hatte, kam 2011 die LifeSylistin dazu. Ihr Lebensmotto lautet: selbständig arbeiten – selbstbestimmt leben – selbstbewusst sein!
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