Grund, Pfad und Frucht
Die Praxis wird immer nach den drei Stufen von Grund, Pfad und Frucht (tib., gzhi lam bras) eingeteilt. Die praktizierte Gottheit wird dabei unter diesen Aspekten betrachtet und realisiert.
Die Grund-Gottheit wird als die uranfänglich ungeborene Natur des Geistes verstanden, die frei von konzeptuellen Ausschmückungen ist und in der alle Buddha-Kayas und ursprünglichen Weisheiten vollendet vorhanden sind.
Die Pfad-Gottheit ist die lebendige Visualisation der drei Buddha-Körper und Buddha-Weisheiten. Diese ist die Verkörperung von geschickten Mittel (tib., thabs; skt. upaya) und unterscheidender Weisheit (tib., shes rab; skt., prajna). Hier sind auch die drei Samadhis bei der Erzeugungsstufe zu beachten, wodurch man sich selbst als das Verpflichtungswesen (tib., dam tshig sems dpa’; skt. samayasattva) hervorbringt. Danach werden die Weisheitswesen (tib., ye shes sems dpa’; skt., jnanasattva) aus dem höchsten Bereich – Akanishta (tib., ‘og min) eingeladen, die sich in die visualisierten Formen auflösen und so als Stütze fungieren. Dabei verschmelzen diese Weisheitswesen auch mit einem selbst – dem Samayasattva. Dieser Vorgang ist auch in Bezug auf den später erklärten Yidam-Stolz wichtig.
Und die Frucht-Gottheit ist das ursprüngliche Weisheitsgewahrsein aller Buddhas. Kurz gesagt, durch die Gottheitenpraxis realisiert man, dass diese Frucht niemals getrennt von einem war und somit nichts beseitigt oder herbeigeholt werden müsste.
Wahrnehmung und Identität
In unserer gewöhnlichen Auffassung begreifen wir uns als ein Lebewesen mit einer bestimmten Identität. Und unser gewöhnliches Tun dient einzig der Aufrechterhaltung dieser persönlichen Identität. Die Randbereiche der Identität kann man als etwas weicher bezeichnen, d.h. manche Dinge im Leben sehen wir als nicht so bedeutsam für uns an und daher dürfen sich diese auch ändern. Allerdings konstruieren wir in unserer gewöhnlichen Auffassung einen mehr oder weniger fixen Persönlichkeitskern, der sich nicht verändern darf. Obwohl wir unsere gewöhnliche persönliche Identität in jedem Erlebnismoment neu kreieren, versuchen wir dies in uns bekannten Routinen zu bewerkstelligen. Dadurch entsteht eine Gewöhnung und die bietet uns Vertrautheit. Das hat durchaus gute Gründe und kann im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen auch als einigermaßen gesund bezeichnet werden. Allerdings verlieren wir dadurch die Präsenz und Frische unserer offenen Seinsnatur. Etwas leger ausgedrückt könnte man dies auch als Verlust der Wesensmitte oder mangelnden Kontakt mit der Weisheit des Herzens bezeichnen.
Drei Elemente der Visualisation
Dadurch beginnt man sich selbst als die Meditationsgottheit in ihrer gesamten Erscheinung und mit all ihren Insignien zu verstehen. Diese Erscheinung und Insignien haben alle symbolische Bedeutung, die man kennen sollte. Obwohl es im Vajrayana unzählige Meditationsgottheiten gibt, kann man ein paar allgemeine symbolische Prinzipien ausmachen. So gibt es friedvolle, halb-zornvolle und zornvolle Erscheinungen, deren Funktion es ist, auf die drei Geistesgifte – Hass, Begierde und Unwissenheit – einzuwirken. Die Farben stehen mit den jeweiligen Buddha-Familien (Buddha, Vajra, Ratna, Padma, Karma), somit auch mit den Buddha-Weisheiten (raumgleich, spiegelgleich, Gleichheit, unterscheidend, alles vollendend) und den Buddha-Aktivitäten (befriedend, vermehrend, anziehend/unterwerfend und auflösend) in Zusammenhang. Auch die Haltungen – sitzend, stehend, tanzend – drücken Nuancen ihrer Aktivität aus. Die Anzahl ihrer Gesichter, Arme und Beine steht mit Sicht, Meditation, Geisteshaltungen, Aktivitäten etc. in Verbindung. Ihr Schmuck und ihre einzelnen Insignien usw. drücken zusätzlich einzelne Aspekte der 37 Glieder der Erleuchtung aus. Praktizierende sind sich im besten Fall all dieser Aspekte bewusst, sodass eine reine Wahrnehmung durch die Praxis entwickelt wird. Führt man eine Gottheitenpraxis ohne diese reine Sicht durch, dann ist sie keine Dharma-Praxis, sondern eine Dämonen- oder Götzenanbetung. Daher ist immer auf diese Reinheit der Sicht zu achten!
Versteht man diesen Vorgang und entwickelt diese reine Wahrnehmung, dann entsteht auch ein Verständnis für den sogenannten „Yidam-Stolz“ (tib., nga rgyal brtan pa) – die feste Überzeugung, dass man selbst diese Gottheit ist. Man realisiert nach und nach, dass einem selbst diese Glieder der Erleuchtung bereits innewohnen, bislang aber durch störende Gefühle und geistige Konstrukte verschleiert waren. Aber wie bereits zuvor erwähnt, gibt es nichts, das zu beseitigen wäre, sondern die Verwandlung erfolgt durch die Sicht darauf. Man realisiert, dass die Phänomene des Daseinskreislaufs – Samsara – und seiner Transzendenz – Nirvana – uranfänglich rein und von derselben Essenz sind.
Weiters ist es wichtig, sich wirklich als die Gottheit zu verstehen. Wenn es einem an dieser Überzeugung mangelt und man glaubt, dass alles sei eine bloße Einbildung im Vergleich zu einer wirklichen Welt, dann wird man weiter nach den unreinen Erscheinungen greifen und die Methode verfehlt ihren Zweck.
Und schließlich ist die Klarheit der Visualisation (tib., rnam pa gsal ba) bedeutend. Die Visualisation muss so klar und deutlich sein, dass man „das Weiße im Auge der Gottheit erkennen kann“, wie es ein Vajra-Meister einst ausdrückte. Man soll Gottheit und Mandala mit lebendigem Gewahrsein visualisieren. Manchmal sagt man darüber, dass die Gottheit so lebendig wie ein Regenbogen am Himmel erscheint. Klar und deutlich sichtbar, aber ohne eine Eigenessenz. Auf diese Weise lernt man, die gewöhnlichen Phänomene in reine Phänomene zu verwandeln.
Diese drei Merkmale der Visualisation in der Erzeugungsstufe des Vajrayana sind voneinander nicht zu trennen. Man entwickelt sie nicht nacheinander, sondern zusammen.
Vier Nägel der Praxis
Der zweite Nagel handelt von der Mantra-Rezitation. Dabei gibt es sechs Punkte, die bei der Rezitation beachtet werden sollen. Das Mantra soll nicht zu rasch und nicht zu langsam gesprochen werden, man soll nichts auslassen oder hinzufügen und man soll es nicht zu laut und nicht zu leise rezitieren. Zwischen diesen sechs Punkten ist ein Mittelmaß zu finden. Weiters soll man das Mantra ansammeln und dabei verwendet man die Mala – eine Zählkette mit 108 Perlen plus einer Mittelperle, die Guru-Perle genannt wird. Die Mala wird dabei mit der linken Hand auf Herzhöhe gehalten. Auch beim Ansammeln des Mantras gibt es je nach Praxis verschiedene Maßstäbe. Allgemein wird ein Mantra zumindest 100.000 Mal angesammelt. Häufig gibt es aber auch den Hinweis, dass Mantra-Silben mit 100.000 zu multiplizieren sind. Dann gibt es noch eine Zählweise entsprechend der Yugas – der Abschnitte eines Zeitalters (kalpa). Im ersten Zeitalter – dem Satyayuga – genügte eine Ansammlung von 100.000, im zweiten dann 200.000, im dritten dann 300.000 und in unserem Zeitalter – dem Kaliyuga – zählt man dann 400.000 als Mindestmaß. Und bei Schatztexten – den Termas (tib., gter ma) – können dann auch sehr individuelle Angaben zur Ansammlung Bestandteil der Praxis sein.
Der dritte Nagel behandelt die Aktivität. Das Mantra umkreist ja gewöhnlich die Keimsilbe im Herzen der Gottheit und durch die verschiedenen Visualisierungen bei den Mantra-Rezitationen werden auch entsprechende Aktivitäten ausgeführt. Diese Aktivitäten sind im Allgemeinen ein Ausstrahlen und Wiederaufnehmen von Licht, oder ein Aufsteigen, Ausstrahlen, Ausführen von Aktivitäten und Zurückkehren der leuchtenden Mantra-Kette. Und dann gibt es auch bei den Schatztexten wieder spezielle Visualisierungen für die Aktivitäten.
Der vierte Nagel ist die Sicht des Dzogchen – der Großen Vollkommenheit. Die Sicht bildet die Grundlage für die gesamte Praxis der Visualisation und Rezitation. Das Verständnis ist dabei, dass die gesamte Praxis in der Natur des Geistes geschieht und jegliche Erscheinung in ihrer Essenz Leerheit ist. Die Aktivität ist grenzenloses Mitgefühl. Und dieses Mitgefühl ist genauso wie die Widmung dann am Ende der Praxis frei von den „drei Kreisen“ – Subjekt, Objekt und Handlung. Auf diese Weise wird die Untrennbarkeit in der Natur des Geistes realisiert.
Abschluss
Am Ende der Praxis erfolgt die Auflösung der erschaffenen Visualisation von Gottheit und Mandala und nach einem Verweilen in der ursprünglichen Natürlichkeit des Geistes, erscheint man wieder als Gottheit. Dieser Vorgang hat den Zweck, die Extreme von Ewigkeitsglaube und Vernichtung zu beseitigen.
Danach folgt üblicherweise die Widmung des Verdienstes, die frei von den drei Kreisen eines Widmenden, des Widmens und des Empfängers der Widmung sein soll. Und Man beschließt die Praxis mit Glückwünschen und anderen ausgezeichneten Gebeten, die das Streben bekräftigen.