Nicht jedes Buch lässt sich rezensieren. Auch ein geübter Rezensent ist von Zeit zu Zeit zum Scheitern verurteilt. 2014 hat kein Text so sehr an meinen Fähigkeiten genagt wie Tao Lins “Taipeh”. Das Buch impliziert Fragen, die zweifellos von grosser Bedeutung für die heutige Gesellschaft sind. Doch der Preis, den man als Leser dafür bezahlen muss, ist hoch: ungefilterte Langeweile. Ich habe mich im nachfolgenden Essay bemüssigt, etwas weiter auszuholen, Zusammenhänge und Problematiken aufzuzeigen – dies im steten Bemühen, gerade keine solche Langeweile aufkommen zu lassen. Ich hoffe auf erhellende Lektüre und freue mich auch auf angeregte Diskussionen!
“Taipeh” von Tao Lin: Der Roman des 1983 geborenen Amerikaners erschien im Original 2013 und dieses Jahr in einer deutschen Übersetzung bei DuMont. Er ist eines der meistdiskutierten Werke der letzten beiden Jahre. Vom Feuilleton zumeist mit Begeisterung aufgenommen, wie etwa die Rezension von Felix Stephan in der Zeit oder diejenige von Benjamin Lytal im New York Observer beweisen – es fallen die Namen Hamsun, Hemingway und Musil -, stösst der Text beim breiten Publikum auf gemischte Reaktionen (vgl. hierzu etwa die momentane 3,38/5-Bewertung auf Goodreads, basierend auf 3153 Ratings), bisweilen gar auf aggressive Ablehnung.
Nach der Lektüre des Textes (in der deutschen Übersetzung von Stephan Kleiner) steht für mich fest: Mit einer klassischen Rezension ist “Taipeh” nicht beizukommen. Die durchgehende Handlungsarmut und die akribische, in komplizierten Endlossätzen umherschleichende Beschreibung banalster Alltagsverrichtungen lässt keinen Zweifel daran: Tao Lin hat mit “Taipeh” eines der langweiligsten Bücher des Jahres geschrieben. Es deswegen mit einem Verriss abzukanzeln, läge mir fern, denn genau diese konstante Langeweile ist der Nährboden weitreichender Gedanken, die schnell vom Einzeltext auf das gesamte literarische Feld und letztlich auf die Probleme der gesamten heutigen Gesellschaft übergehen.
“Tao Lin, geboren 1983, ist einer der wichtigsten Schriftsteller seiner Generation und die Galionsfigur der “New Sincerity”-Bewegung.”, heisst es auf der Rückenklappe der DuMont-Ausgabe. Das ist ziemlich vollmundig, liefert aber den entscheidenden Schlüssel, um sich der Bedeutung von Tao Lins Werk zu nähern: Das Schlagwort “New Sincerity”, also Neue Aufrichtigkeit.
David Foster Wallace
Im Jahre 1993 veröffentlichte der amerikanische Autor David Foster Wallace (1962 – 2008; Infinite Jest) in der Review of Contemporary Fiction einen Essay mit dem Titel “E Unibus Pluram: Television and U.S. Fiction” (PDF-Download), in welchem er den Einfluss von Fernsehserien auf die zeitgenössische amerikanische Literatur ausführlich bespricht. Im letzten Absatz dieses Textes kommt er auf potenzielle neue Rebellen der Literatur zu sprechen, die er als “born oglers who dare to back away from ironic watching” beschreibt, Anti-Rebellen, die den Mut hätten, das Ein- dem Zwei-Deutigen vorzuziehen, die die “old untrendy human troubles” nicht durch die schützende Maske der Ironie betrachteten, sondern sie mit “reverence and conviction” behandelten. Foster Wallace, stets ein klarsichtiger Denker, war sich bewusst, dass diese neuen Rebellen, sollten sie denn eines Tages kommen, die Bereitschaft haben müssten “to risk the yawn”, das Gähnen zu riskieren. Diese Aussagen kommen einer frühen Definition der New Sincerity nahe, die im selben Jahr übrigens auch in den Filmwissenschaften Einzug hielt: Jim Collins‘ Aufsatz “Genericity in the Nineties: Eclectic Irony and the New Sincerity” enthält im Titel gar den tatsächlichen Begriff. DFW wie auch Collins sehen also in dieser Neuen Aufrichtigkeit eine Gegenströmung zur postmodernen Ironie, deren Zynismus und Meta-Referentialität als Selbstverteidigungsmechanismus nicht allen behagte. Wie die Professorin Christy Wampole 2012 in ihrem vieldiskutierten, in der NY-Times publizierten Artikel “How To Live Without Irony” schrieb: “To live ironically is to hide in public.”
Auf dieses Versteckspiel antworten nun Tao Lin und die ihn umgebende Szene. Das höchste Gut von Paul, dem Protagonisten aus “Taipeh”, der ein wenig verschleiertes Alias des Autors selbst ist, ist der “Austausch in gegenseitiger Aufrichtigkeit”. Die alles verschlingende Ironie der in den letzten Jahren omnipräsenten Hipster ist ihm fremd, er und seine Begleiterin Erin (Alias für Megan Boyle) sprechen einzig von Zeit zu Zeit in einer Tonlage, die sie “die Stimme” nennen, laut und angeberisch, betont intellektuelle Kommentare absondernd. Dann heisst es:
“Erin sagte, sie verspüe ‘das starke Bedürfnis, mehr Drogen zu nehmen’. Ohne MDMA fiel es schwer, die ‘Stimme’ einzusetzen, ohne die es ihnen unangenehm war, mit Fremden zu reden, zu improvisieren, Verhaltensweisen zu imitieren oder geistreiche Bemerkungen zu machen.”
Hier werden die Probleme evident, die der Versuch absoluter Aufrichtigkeit – zumindest für die Charaktere von “Taipeh” – mit sich bringt. In ihrer Weltverlorenheit, Entwurzelung und vollkommenen Planlosigkeit, denen allen eine zutiefst “depressive Grundstimmung” zugrunde liegt, ist eben gerade ein Selbstschutzmechanismus vonnöten, um den Anforderungen und Klippen des digitalisierten Alltags gewachsen zu sein. Weil sie aber nicht unauthentisch wirken wollen, verzichten sie auf Ironie. Ihr Mechanismus ist der Konsum von Drogen, der unentwegt vonstatten geht: MDMA, Rivotril, Xanax, Adderall, Ecstasy, Kokain, Pilze, Heroin – gross ist die Vielfalt der Substanzen, die Paul, Erin und ihre Mitmenschen konsumieren. Drogen, Energydrinks, Früchte und Gemüse: So ernähren sie sich und: “Paul sagte, dass eine gute Gesundheit, Drogen und hohe Leistungsfähigkeit nur dazu dienten, sich gut zu fühlen.” Es findet hier eine Umwertung der Drogen statt, die wir so aus dem medialen Raum unserer Zeit, wo diese Substanzen fast ausschliesslich mit negativen Attributen behaftet sind, nicht kennen. Rezensent Felix Stephan von der Zeit auf der anderen Seite, nahm diese Umwertung wiederum etwas gar unkritisch auf: Es seien eben “die kommenden und gegenwärtigen Leistungsträger aus allen gesellschaftlichen Bereichen”, die Drogen konsumierten. Auch wenn der Konsum von ‘Alltagsdrogen’ wie Xanax usw., heutzutage tatsächlich nicht mehr nur der Spleen einiger rüder Aussenseiter wie damals etwa Hunter S. Thompson oder William S. Burroughs ist, sollte man vorsichtig sein mit solchen Behauptungen. Ein derart exzessiver Drogenkonsum, wie er in “Taipeh” zum Grundgerüst des Textes gehört, ist kein Normalfall, sondern vereinzelte Ausschweifung.
Tao Lin
Paul sagt: “Weil der Drang, mich umzubringen, nicht so stark ist, dass ich mich tatsächlich umbringe, ist das Leben lebenswert.” Hierin zeigt sich einmal mehr die depressive Verlorenheit des jungen Schriftstellers, dessen Alltag durch nichts als den sich stetig erhöhenden Konsum von Drogen und stundenlanges Übeprüfen von Websites, Social-Media-Profilen, YouTube-Filmchen etc. zusammengehalten wird. Der Klappentext lässt verlauten, “Taipeh” beschreibe “die vage Angst, den Ennui und die Isolation einer Generation”, in der Besprechung der Zeit hiess es, das Buch sei eine “Erkundung unserer heutigen Beziehungslosigkeit”. Es ist mit wohlwollender Zurückhaltung angebracht, diese Einschätzungen als übertrieben zu bezeichnen. Wohl geht es um Angst, Ennui und Isolation/Beziehungslosigkeit – jedoch keineswegs in einem Ausmass, wie man es als Tendenz einer ganzen Generation anlasten sollte. Es geht um Angst, Ennui und Isolation des jungen Schriftstellers Paul, dessen Depressionen – ein klinisches Krankheitsbild – und dessen übermässiger Drogenkonsum ihm das Leben, und insbesondere das zwischenmenschliche, zu einem undurchdringlichen Nebel werden lassen. Es scheint mir gerechtfertigt, zu behaupten, dass ein Paul sich auch in einer Welt ohne das ständig geöffnete MacBook, ohne Smartphone und ohne Internet ängstlich, gelangweilt und isoliert fühlte. Die Ursprünge seines Zustands liegen nicht in den digitalen Medien, obschon diese die Tendenzen verstärken.
Dass Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit gefragte Eigenschaften in der heutigen Popkultur sind, halte ich für unbestritten. Publikationen wie “Not Your Mother’s Morals: How The New Sincerity Is Changing Pop Culture For The Better” (J.D. Fitzgerald) oder “Sincerity” von R. Jay Magill Jr. haben Konjunktur, TV-Serien, die sich ihren Themen mit offenherziger, komplett unironischer Hingabe (“Glee” – dazu gab es einen lesenswerten Artikel auf Wired) und schonungslosem Realismus (“Girls”) widmen erfreuen sich riesiger Beliebtheit. Im April 2014 veröffentlichte das Time-Magazine die Liste “100 Most Influential People to the Most Influential Demographic“, auf der die 100 Personen vereint sind, die den grössten Einfluss auf die 18- bis 34-jährigen ausüben. “Girls”-Erfinderin Lena Dunham findet sich auf Platz 3 wieder und auch Tao Lin hat es (als Fünfundachtzigster) in die Ränge geschafft. Er reagierte via Twitter:
I’m on a list of influential ppl to most influential demographic http://t.co/iZ956ikdAO (tweeting this from bed stoned/depressed at 9:02pm)
— Tao Lin (@tao_lin) 26. April 2014
Der Zusatz, dass er dies stoned und depressiv aus seinem Bett schreibe, ist programmatisch. Seine ehemalige Ehefrau Megan Boyle (Hochzeit in Las Vegas, Trauzeuge von der Strasse, gefilmt mit dem MacBook und live gebloggt) unterhält gar einen eigenen Twitter-Account für die Zeiten, in denen sie deprimiert/depressiv ist. Die ungemeine Produktivität, die auch im Mainstream aufgegangen Künstlern wie eben Lena Dunham bisweilen eigen ist, äussert sich bei Tao Lin, Megan Boyle & Co. in einer permanenten Online-Selbstdokumentation, die in Tumblr-Blogs von den Ausmassen eines mehrfachen Don Quijote und in manchmal grotesken Auswüchsen wie Megan Boyles mit allerlei statistischem Material garnierten Artikel “Everyone I’ve Had Sex With” (2010) mündet. Es ist zumindest fragwürdig, ob eine solche Neue Aufrichtigkeit tatsächlich als Alternative zur ironischen Lebensform mit ihrem Referenzenreichtum und der Funktion von Humor als Selbstschutz tauglich ist.
So anregend “Taipeh” auch wirkt, so wenig vermag es für mich das Bild (m)einer Generation zu zeichnen oder wünschenswerte Alternativen aufzuzeigen. Nach der Lektüre ergab sich in erster Linie der Schluss: Diese Neue Aufrichtigkeit ist das Ende des Lachens. Ein Ansatz und eine Definition des Begriffs, wie er im bereits oben erwähnten Wired-Artikel besprochen wird, erscheinen mir, wenn auch konservativer, so doch wesentlich fruchtbringender: Man sollte es sich häufiger erlauben, die Maske abzulegen, die ironische Distanz furchtlos zu überbrücken und auch einfach mal ohne belächelt zu werden zugeben dürfen, dass man einen Katy-Perry-Song mag, weil er catchy ist, dass man Glee schaut, weil man gerne Show-Chöre und Tanz hat, dass man Harry Potter verschlingt, weil da alle zaubern und durch Wände rennen können. Ideal wäre: Das Positive betonen, ohne dabei gleich alles gut finden zu müssen. Denn auch für die New Sincerity gilt: Um als Genre und Idee konstruktive Beiträge zum (Zusammen-)Leben im 21. Jahrhundert liefern zu können, ist eine vorwärtsgerichtete, aufgeschlossene Gedankenwelt vonnöten, die den Menschen nicht als ein seinen Geräten hilflos ausgeliefertes Individuum (Stichwort digitale Leibeigenschaft) versteht. Und vor allem darf bei aller Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit das Lachen nicht verloren gehen, das wäre fatal. Es machte aus der Aufrichtigkeit eine Depression. Eine Einsicht, die 1901 bereits der französische Schriftsteller André Gide hatte, der in seinem “Immoralist” so treffend schrieb: “On ne peut pas à la fois être sincère et le paraîte.” – Man kann nicht gleichzeitig ernst sein und so scheinen.
(Randbemerkung: Taipeh übrigens, die Hauptstadt Taiwans, die Stadt von Pauls (Taos) Eltern, nimmt im Roman nicht viel Raum ein. Zwei Reisen treiben den Protagonisten in das Land seiner Herkunft, eine Auseinandersetzung mit seinen Wurzeln findet aber nicht statt. Pauls Entwurzelung ist von der Topographie nicht beeinflussbar.)
Tao Lin. Taipeh. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Köln: DuMont 2014. 288 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-8321-8817-7