Essai 70: Über das Böse in Daniel Kehlmanns „Töten“

Dies hier ist ein Essai, den ich im Mai 2010 auf meinem Kulturjournalismus-Workshop in Saarbrücken in der Festivalzeitung des deutsch-französischen Bühnenkunst-Festivals „Perspectives“ veröffentlicht habe. Ich denke, da das ein spannendes Thema ist, über das sich gut diskutieren lässt, veröffentliche ich ihn zusätzlich hier. Kommentare, Fragen, Feedback sind natürlich wie immer willkommen.

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Unbegreiflich

„Wir nennen es ‚böse’, aber das ist irreführend. […]Weil sein Wesen eben der Mangel ist, und die Abwesenheit. Darum ist es ohne Kraft wie ohne Wirklichkeit …“, wird Augustinus zitiert in Daniel Kehlmanns Kurzgeschichte „Töten“ aus dem Erzählband „Unter der Sonne“.

Tatsächlich werden in „Töten“ zwei Konzepte des Bösen einander gegenübergestellt:

Zum einen ist da der Schäferhund des Nachbarn „mit spitz aufstehenden Ohren und länglichen roten Augen“, in denen nichts weiter als „stumpfe Bosheit“ zu sehen ist. Assoziationen aus der griechischen Mythologie drängen sich auf: Zerberus, der Höllenhund und Hüter der Unterwelt.

Zum anderen ist da der Junge, der laut Verlagstext in „zielloser Gewalt“ den „einzigen Ausweg aus der Langeweile der Sommerferien“ findet. Ein Artikel der FAZ über Kehlmanns Erzählband spricht davon, dass dem Jungen „die Sicherungen durchbrennen“ und von „Killerinstinkte[n]“, die in ihm geweckt würden. Ganz so einfach, wie diese Texte den Sachverhalt zusammenfassen, ist es allerdings nicht. Der Junge lässt einen Ziegelstein von einer Brücke auf ein fahrendes Auto fallen und provoziert einen Unfall (ob mit oder ohne tödlichen Ausgang, erfährt man nicht). Dann vergiftet er den Hund. Beide Handlungen sind durchaus gezielt. Er lässt bei vollem Bewusstsein und in absoluter Klarheit über die Konsequenzen den Stein fallen und wählt mit voller Absicht den Hund aus, um ihn mit Rattengift zu füttern. Der Junge geht ruhig und überlegt vor. Er wählt keine rohe Brutalität, um zu töten. Kehlmann hätte den Jungen ja auch jemanden abstechen und den Hund erschlagen lassen können. Aber der Junge tötet auf indirekte, distanzierte Weise. Er sieht nicht, wer im Auto sitzt, auf das er den Stein fallen lässt. Er bleibt nicht dabei, als der Hund stirbt. Er hört ihn verrecken, als er wieder im Haus ist.

Sicherungen brennen bei einem Amoklauf durch, nicht aber bei einer klaren, gezielten Handlung, deren Konsequenzen einem bewusst sind. Und Killerinstinkte implizieren, dass das Töten-Wollen in der Natur des Jungen liege, dass er eine Art wildes Tier sei, das einfach nicht anders könne, als zu morden. Der Junge aber hat die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Da er bewusst, bei klarem Verstand handelt, könnte er ebenso gut den Stein in der Hand behalten und den Hund in Ruhe lassen.

Das Böse sei ein Mangel, eine Abwesenheit, sagt der Fernsehphilosoph in der Erzählung. Und genau darin liegt die Perfidie des Bösen in „Töten“. Es gibt keine Erklärung für das Böse, keine Motive, keine Gründe, keinen Anlass. Der Junge tötet nicht aus Spaß, nicht aus Neugier, nicht aus Langeweile, nicht aus Sadismus, nicht um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Und doch ist da eine Sehnsucht nach Erklärungen. Der Junge sei gewalttätig, habe Killerinstinkte, ihm brennten die Sicherungen durch. Als sei der Junge nicht normal, als stimme mit ihm etwas nicht. Aber selbst das kann man über den Jungen nicht sagen.

Der Hund ist einfach böse, es liegt in seiner Natur. Als das personifizierte Böse stellt er einen Erklärungsversuch der Menschen für das Unbegreifliche dar. Die Erklärungsversuche sind verständlich. Das Unbegreifliche macht Angst, und die hat keiner gern. Doch genau das ist das Böse bei Kehlmann: Unbegreiflich.

 

(Isabelle Dupuis)


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