Essai 159: Über den Verlust der Religion

Eigenartig, wie ein bestimmtes Lied, ein Geruch oder eine Atmosphäre manchmal schlagartig Erinnerungen wachrufen können … So wie neulich, als auf einem Straßenfest neben unserer Wohnung eine Band „Losing my religion“ von REM spielte und ich mich plötzlich wieder daran erinnerte, wie es sich angefühlt hat, als ich meine Religion verlor: wie eine Befreiung. Kleine Warnung vorweg, dieser Essai kann eventuell für Strenggläubige und Strengreligiöse blasphemisch wirken.

Ich war nicht immer Atheistin. Meine beste Freundin zu Grundschul- und Unterstufenzeiten war Tochter eines Pastors und so ging ich regelmäßig mit ihr in seine Kirche zur sogenannten Mädelschar und später zum Bibelunterricht. Mir ist klar, dass „Mädelschar“ ein bisschen nach, na ja, Hitlerjugend klingt, aber tatsächlich war es eine Art Pfadfindertruppe ohne Uniformen. Und es hat Spaß gemacht, man hat zusammen gesungen, gebastelt, Ausflüge gemacht, die Leute waren nett und ich mochte das Gemeinschaftsgefühl dort. Als Kind war ich allerdings noch leichtgläubiger als heute, inzwischen habe ich dann ja doch ein bisschen dazugelernt und verrate nicht mehr irgendwelchen Klemmbrettträgern in der Einkaufsstraße meine Kontodaten, weil sie behaupten, das „kostenlose“ Zeitschriftenabo helfe armen Leuten. Also habe ich alles geglaubt, was man mir da so erzählt hat, unter anderem, welche Popstars alle ihre Seele an den Teufel verkauft haben, um des Erfolgs Willen (Michael Jackson, sämtliche Beatles und haben die Rolling Stones nicht sogar ein Lied namens „Sympathy for the devil“ gesungen?).

Zwar verstand ich nicht so ganz, wie die darauf kamen, was das bedeutete und woher die das wissen wollten, aber ich dachte, die sind älter als ich und wissen Bescheid. Da ich schon als Kind mit lebhafter Fantasie verflucht war, hatte ich fortan grauenhafte Angst, der Teufel würde sich mir meine Seele holen, wenn ich nachts schlafe, weil ich versehentlich dieser frevelhaften Satansmusik gelauscht hatte. Später im Bibelunterricht legte sich diese Angst ein wenig, aber gleichzeitig fing ich auch an, zu hinterfragen. Vor allem fiel es mir immer schwerer, die Klassenbesten im Bibelunterricht, diese bibeltreuen Streber, die immer auf alles eine auswendig gelernte Antwort wussten und sich deswegen als was Besseres vorkamen, ernst zu nehmen. Ich hatte irgendwie keine Lust mehr, Angst zu haben, mir kam es seltsam vor, dass ein Buch mit uralten Geschichten und Legenden die Antworten auf alle Fragen liefern sollte. Und so fing mein religiöser Glaube allmählich an zu bröckeln.

Die letzten Reste sind dann regelrecht zusammengekracht, als ich Goethes „Faust I“ in der Schule las, als Faust sich auf die Gretchenfrage „Wie hast du’s mit der Religion?“ wortreich herausredet, und schließlich erklärt: „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut.“ Darin fand ich meine Zweifel, mein zunehmendes Unbehagen angesichts des kritiklosen Wiederkäuens von Bibelinhalten, in Worte gefasst und dachte: Stimmt, genauso ist es. Ich brauche keine Religion, um meine Mitmenschen möglichst gut, fair, mitfühlend zu behandeln, mich für sie und das, was in der Welt geschieht zu interessieren, das kann ich auch einfach nur deswegen tun, weil ich es will. Das fand ich befreiend, die Vorstellung, dass ich für mich selbst und meine Taten verantwortlich bin, selbst entscheiden, mein Leben selbst gestalten kann und wenn ich tot bin, dann bin ich tot und gut ist. Das Leben ist eine absurde Aneinanderreihung von Zufällen und jeder versucht, das Beste draus zu machen. Vielen fällt das leichter, wenn sie eine Art Leitfaden in Form von Religion dazu haben, andere suchen sich Pseudo- und Ersatzreligionen wie Ernährungsweisheiten, Verschwörungstheorien, politische Ideologien und so weiter. Aber ich finde das spannend, auszuprobieren, es ohne diese Leitfäden zu versuchen, Sinnlosigkeit auch mal auszuhalten, Nichtwissen zu akzeptieren und trotzdem neugierig und zuversichtlich zu bleiben.

Auf jeden Fall habe ich festgestellt, dass es mir schwerfällt, die Tragik nachzuempfinden, die Menschen in Filmen und Liedern empfinden, wenn sie ihre Religion verlieren. Im Film „Spotlight“ zum Beispiel nimmt dieser Verlust von Religion als Thema genauso viel Raum ein, wie der eigentliche Skandal, nämlich der Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Vertrauenspersonen. Die Journalisten in der Geschichte fallen durch die Ereignisse von ihrem Glauben ab und das scheint sie fast noch mehr zu treffen, als der Kindesmissbrauch an sich. Aus diesem Grund hat der Film bei mir einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Vermutlich aber war das nicht die Absicht und ich vermute, die meisten Leute aus der angepeilten Zielgruppe können sich durch diesen persönlichen Religionsaspekt besser mit den Figuren identifizieren.


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