Mir ist bewusst, dass mich keiner kennt und dass meine Meinung daher irrelevant ist. Das macht aber nichts. Ich sag sie einfach trotzdem. Meines bescheidenen Erachtens ist es nämlich ein absolutes Unding, wie zurzeit die versehentliche doppelte Stimmabgabe bei der Europawahl von Giovanni di Lorenzo von allen Seiten genüsslich ausgeschlachtet wird. Er habe bei Jauch “zugegeben”, zweimal gewählt zu haben, heißt es, und würde nun “behaupten” von nichts gewusst zu haben.
Als ob so ein kluger Kopf wie di Lorenzo sich bei dem Jauch hinsetzt und ganz gelassen erzählt, er hätte die Europawahl auf perfide, hinterhältige Art mit vollster Absicht manipuliert. Der ist doch nicht bescheuert. In dem Video wirkt er zwar selbstsicher, vielleicht ein wenig arrogant, aber er macht auch den Eindruck von der Richtigkeit seines Handelns ehrlich überzeugt zu sein:
Klar, man kann jetzt natürlich mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger herumscharwenzeln und klugscheißen, dass der feine Herr mit seinen zwei Pässen sich wohl für was Besseres halte und daher der Meinung ist, dass seine Stimme zu Recht doppelt zu zählen hat. Man kann auch triumphieren und schadenfroh sein und sagen, Ätsch, der Schlaumeier hat einen Fehler gemacht. Man kann auch, wie diese ungemein sympathische Partei AfD es gemacht hat, Giovanni di Lorenzo wegen Wahlbetrugs den Staatsanwalt auf den Hals hetzen. Oder man kann sich einfach mal mit Leuten unterhalten, die eine doppelte europäische Staatsbürgerschaft haben und gucken, was dahinter steckt und wie es so leicht zu einer doppelten Stimmabgabe kommen kann.
Genau das Gleiche hätte mir nämlich auch passieren können. Mich hat nur meine Faulheit davor bewahrt, auch noch mal für Frankreich bei der Europawahl abzustimmen. Ich hatte im Vorfeld sämtliche benötigten Zugangsdaten und Passwörter per Post und per Handy vom französischen Konsulat zugesandt bekommen, um im Internet für Frankreich bei der Europawahl meine Stimme abzugeben. Nirgendwo stand ein deutlicher, eindeutiger Warnhinweis, dass ich das nicht tun darf, wenn ich bereits für ein anderes europäisches Land meine Stimme abgegeben habe. Dabei kann das ja wohl nicht so schwer sein, das einfach dick und fett am Anfang des Briefs, der die Wahlbenachrichtigung enthält, hinzuschreiben.
Dass ich nicht doppelt abgestimmt habe, war eigentlich Zufall: Ich hatte mir vorgenommen, mir die ganzen Zugangsdaten und das Online-Abstimmverfahren in Ruhe anzugucken, sobald ich Zeit habe. Hatte ich aber nie. Als es dann Wahltag war, habe ich mir flugs meinen deutschen Personalausweis geschnappt und hab für Deutschland abgestimmt. Mir hinterher wieder alle Passwörter für die französische Wahl herauszusuchen, hatte ich dann keine Lust mehr. Ein schlechtes Gewissen hatte ich dann aber doch, weil ich für Deutschland und Frankreich eine Wahlberechtigung hatte und nur eine genutzt habe. Und dann haben in Frankreich die Nazis vom Front National so derbe abgeräumt. Offenbar waren die Gewissensbisse umsonst.
Sicher kann man sich im Vorfeld umfassend informieren und sich durch dieses doch recht komplizierte EU-Wahlrecht durchboxen. Doch das ginge wie gesagt ohne jeden Aufwand auch schneller, einfacher und eindeutiger. Und anscheinend muss es auch eindeutiger und einfacher kommuniziert werden, denn wenn nicht einmal jemand wie di Lorenzo von allein drauf kommt, dass er seine beiden Wahlbenachrichtigungen und Wahlberechtigungen nicht auch nutzen darf, dann ist das offenbar nicht selbstverständlich. Wenn das zu viel Aufwand ist – ich wüsste nicht, wieso, aber man weiß ja nie – im Brief des entsprechenden Konsulats einen Warnhinweis zu schreiben, könnte durch die Mitarbeiter oder auf der Internetseite des Konsulats kurz die Frage gestellt werden, ob man schon für Deutschland abgestimmt hätte beziehungsweise das noch vorhabe. Und dann freundlich darauf hinweisen, dass man das nicht darf.
So. Und wenn danach immer noch jemand in einer Talkshow vor allen Leuten einen “Wahlbetrug” “zugibt”, dann, und nur dann, ist derjenige wirklich bescheuert oder unfassbar dummdreist. Bis dahin sollen gefälligst mal alle die Füße still halten, ihren moralisch erhobenen Zeigefinger wieder einklappen und sich lieber mit wichtigeren Fragen auseinander setzen. Zum Beispiel mit der Frage, warum Rechtspopulismus überall in Europa immer beliebter wird.