Essai 111: Über Wohlstandswehwehchen

Je älter ich werde, desto weniger Geduld habe ich mit Leuten, denen es objektiv betrachtet fantastisch geht, die sich aber ständig wie die Jammerlappen aufführen. Ernsthaft, die regen mich sowas von auf! Ich möchte sie am liebsten schütteln und sagen, jetzt halt die Schnauze und sei glücklich, du Idiot! Bisher hat mich meine pazifistische Grundeinstellung allerdings noch daran gehindert. Aber um einen zornigen Essai zu schreiben, reicht meine Wut dann doch aus. Ohnehin ist es vermutlich ratsamer für einen schmächtigen, vergeistigten Winzling wie meine Wenigkeit, sich mit Worten zu wehren, anstatt nervigen Leuten eins in die Fresse zu hauen. Wenn die nämlich zurückschlagen, bin ich Matsch.

Wie dem auch sei, ich bin es wirklich leid. Es gibt nicht viele Menschen, die sich keinerlei Sorgen um ihre Finanzen, ihren Job, ihre Existenz machen müssen. Noch seltener aber sind die Menschen, die sich keine Sorgen machen müssen und sich deswegen auch keine Sorgen machen. Die sich dann einfach ihres Lebens freuen und fröhlich sind, weil sie das eben können. Nein, was viel häufiger der Fall ist, wenn es Menschen gut geht und sie sich keine Gedanken über die Erfüllung existenzieller Grundbedürfnisse machen müssen, ist, dass sie sich irgendwelche Wohlstandswehwehchen zulegen. Und die hegen und pflegen sie dann so lange, bis sie sich einbilden, das wären echte Probleme und sie wären die unglücklichsten Menschen unter der Sonne.

Natürlich können diese eingebildeten Wohlstandswehwehchen über kurz oder lang auch psychosomatische Auswirkungen machen, wenn man nur verbissen genug an ihnen festhält. Dann haben Betroffene ihr Ziel erreicht und sich ihre Gesundheit damit ruiniert, sich die ganze Zeit Sorgen und Probleme ausgedacht zu haben. Und dann freuen sie sich zur Abwechslung tatsächlich mal. Denn dann können sie all den Ungläubigen und Zweiflern ärztliche Befunde unter die Nase reiben, die da beweisen, dass es ihnen wirklich schlecht geht. Und dass sie sich das nicht bloß einbilden. Nee, nee. Wehe, es kommt dann jemand mit Lösungsvorschlägen! Da wird dann die Leidensmiene aufgesetzt und klar gestellt, dass dem (ursprünglich eingebildeten) Kranken nicht mehr zu helfen und seine Lage überhaupt vollkommen hoffnungslos sei. Seufz.

Das. Ist. Sowas. Von. Anstrengend.

Meine Vermutung, warum sich Menschen ohne Probleme Wohlstandswehwehchen heranzüchten, ist, dass diesen feinen Herrschaften schlicht und ergreifend langweilig ist. Sie wissen nichts mit sich anzufangen. Vermutlich haben sie auch keine spaßigen Hobbies und nicht viele Freunde, weil sie diese entweder mit ihrem Dauergejammer verscheucht oder sich selbst zurückgezogen haben, da diese sogenannten Freunde ihr Dauergejammer ja gar nicht richtig ernst nehmen (Nanu? Wie kommen sie denn auf die Idee?). Wahrscheinlich neigen solche Leute zu Wohlstandswehwehchen, die sich selbst am wenigsten leiden können. Wenn sie jedoch alles haben, um glücklich zu sein, haben sie keine Probleme, an denen sie arbeiten müssen. Ihnen fehlt eine Aufgabe, eine Beschäftigung. Und dann müssen sie es mit sich aushalten, weil keine Sorgen da sind, die sie davon ablenken.

Anstatt sich dann einfach eine sinnvolle Beschäftigung zu suchen – Ehrenamt, Wohltätigkeit, soziales Engagement – denken sie sich lieber irgendwelche Zipperlein aus, an denen sie dann herumpfriemeln können, bis sich tatsächlich ein gesundheitlicher Nachteil daraus ergeben hat. Ich finde das zum Kotzen. Es gibt so viele Menschen, denen diese Wohlstandswehwehchen-Züchter helfen könnten, indem sie ihre Tatkraft, ihre Freizeit, einen Teil ihres Vermögens spenden. Und was machen die statt dessen? Nerven andere Leute mit der Frage, ob sie sich eine Spülmaschine kaufen sollten oder bilden sich ein, sie hätten die Vogelgrippe, weil sie einen kleinen Schnupfen haben.


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