Eskapistische Arztbesuche in der Post-Demokratie

oder Please Mister Postman, look and see / if there's a letter in your bag for me.
Man kann auf vielerlei Arten eine arme Sau sein. Man kann es sein, weil man kein Geld hat. Und man kann es sein, weil man irrationale Ängste entwickelt und sich von diesen dominieren läßt. Hartz IV gelingt es, diese beiden Gebiete der Armut gleichzeitig zu erschließen.
Eskapistische Arztbesuche in der Post-DemokratieWar ich nun mehr arme Kreatur, weil es mir an Geld mangelte oder deswegen, weil ich jeden Tag auf den Postboten wartete, wie ein Süchtiger auf sein Quantum Stoff? Ihn abpasste, meine Erledigungen nach seinem möglichen Erscheinen ausrichtete, mich danach orientierte, wann er vorfuhr und schier verzweifelte, wenn ich just zur Zeit seines potenziellen Kommens, etwas anderes erledigen musste?

Klingt ganz schön durchgeknallt. In gewisser Weise war ich das seinerzeit ganz sicher auch. Man wird verschroben. Seltsam. Ein Sozio-Eremit in der Masse. "... wenn sie eines Tages einen Weg finden, wie man ohne Briefkasten auskommt, werden wir eine Menge Probleme los sein", schrieb Charles Bukowski mal in einer Kurzgeschichte. Das hätte von mir kommen können.
Die Angst, die hinter diesem seltsamen Spleen stand, war die pure Angst vor Briefen des Jobcenters. Davor, eine Einladung für den Folgetag zu erhalten, nicht wissend, was genau mir jetzt wieder blüht. Wieder wie ein Schuljunge vor einer erbosten Lehrerin sitzen zu müssen, mich rechtfertigend, entschuldigend, dabei immer den Gedanken im Hinterkopf, dass sie mir finanziell zusetzen kann, meinen Regelsatz zu verstümpeln vermag. Die Furcht vor diesen Minuten der Entwürdigung, in denen man mich, wenn schon nicht an die Wand stellte, so doch wenigstens an sie drückte, fixierte mein Leben auf denjenigen, der der Botschafter einer möglichen schlechten Nachricht sein würde. Wie ein osmanischer Despot entwickelte ich einen Mordsargwohn gegen den Postboten, obwohl ich vom Mann mit der Ledertasche weiß, dass das auch nur arme Säue sind.
Der war freilich selten ein solcher Botschafter im Auftrag des Jobcenters. Das schrieb mich ja eher selten an. Falls doch, dann hieß es aber Springen. Immer waren die Termine für den Folgetag angesetzt. Mentale Vorbereitung war da unmöglich. Es war, als wollte mich die Behörde inflagranti beim Faulenzen erwischen, als wollte sie die Ehefrau sein, die mich Ehemann im Bett mit seiner Geliebten überrascht.
Das gelang ihr nicht immer. Ich entzog mich. Manchmal war der Druck so groß, die Angst so stark, dass ich mir provisorisch eine AU-Bescheinigung ausstellen ließ, um die Gewissheit zu haben, in den nächsten zwei Wochen mal keine Briefe vom Jobcenter zu erhalten, die ich wahrscheinlich ohnehin nicht erhalten hätte.
Wenn man heute Erwerbslosen nachsagt, sie machten krank, dann ist das die Verkennung dieses allzeit präsenten Drucks, dieser Fixierung auf diesen einen kurzen Augenblick der Entwürdigung, der zu einer Haltung des AU-Eskapismus führt. Ich machte nicht blau, ich verflüchtigte mich in eine Zone der Zugriffslosigkeit, machte mich als eigentlich autarker Mensch aus dem Staub, um dieser unerträgliche Veranstaltung in einem Büro des Jobcenters wenigstens zeitweise zu entkommen. Man könnte das freilich auch krank nennen.
Man muss das System von Hartz IV als Einrichtung der Postdemokratie begreifen. Eine Scheindemokratie, die via Post ins Haus des Arbeitslosen kommt. Dass ich in einer Post-Demokratie lebe, wurde mir besonders in den Augenblicken deutlich, als ich vom Küchenfenster aus nach den Briefträger, nach meiner Post schielte.
Politologen definieren die Postdemokratie hingegen so, wie sie Colin Crouch formuliert hatte. Es sei "ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden [...], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben." Ein Scheinkonzept halt.
Ich hätte seinerseits Post-Demokratie noch anders definiert. Als banges Warten am Briefkastenschlitz, als eine Scheindemokratie, in der die Post als Dienstbote des Systems Ängste in die Wohnungen liefert. Wie demokratisch ist es eigentlich, wenn der Briefkasten zum Objekt der Furcht wird?

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