Eskandar oder: 100 Jahre Iran

Von Wendepunkte

Als ich vor langer Zeit ein persisch-deutsches Reisewörterbuch über ebay verkaufte, ahnte ich nicht, welche Folgen das haben würde. Schlaflose Nächte, verpasste S-Bahn-Haltestellen, schlimmstes Suchtverhalten.

Was war geschehen? Ich war damals kurz mit dem Käufer ins Gespräch gekommen und dieser empfahl mir ein Buch, das ich unbedingt lesen müsse: “Eskandar” von Siba Shakib.

Ich hatte es mir damals bestellt und legte es auf den meterhohen Stapel von Büchern, die nicht mehr ins Regal passen, aber irgendwann einmal gelesen werden wollen. Dort ruhte es sanft.

Vor einigen Wochen beschloss ich, meinen Bücherfriedhof wenigstens ein kleinwenig auszusortieren und wieder fiel mir “Eskandar” in die Hände. Mittlerweile war viel geschehen: Ich hatte angefangen, offiziell Orientalistik mit Schwerpunkt Iranistik zu studieren, war mit einer Exkursionsgruppe in den Iran gereist und hatte mich unsterblich in dieses Land verliebt. Da war es nur natürlich, dass ich mir den Wälzer endlich vornahm – schließlich zogen mich dicke Bücher eher an als dass sie mich abstießen.

Was nun begann, war  – nach der Autobiografie von Shirin Ebadi, die man aufgrund ihrer Erfahrungen aus 1. Hand kaum toppen kann – die spannendste Geschichte des Iran, die ich je gelesen hatte.

Sie wird erzählt anhand der Lebensgeschichte eines Jungen, geboren irgendwann Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Dorf ohne Namen. Der Junge ist dabei, als das erste Öl (naft) im Iran gefunden wird, er wird von einem Australier zur Schule geschickt, gerät unter die frühen Revolutionäre und wird zu ihrem Geschichtenerzähler, der sie motivieren soll für den Kampf gegen den Shah und für die Einführung eines Parlaments, einer Regierung des Volkes.

Geschichtenerzähler bleibt er, sammelt Zeit seines Lebens Notizen und schließlich auch Fotos von den Geschehnissen in seiner geliebten Heimat. Im Laufe seines Lebens kommt er an viele Orte, lernt viele Menschen kennen, deren Namen Iranisten und Interessierten noch heute bekannt sind, und ist bei jedem wichtigen Ereignis – mehr oder weniger zufällig – dabei.

Wer dieses Buch liest, wird süchtig nach der nächsten Zeile, es reißt mit, lässt an der Geschichte eines einfachen Mannes und seiner Familie nacherleben, was in den letzten 100 Jahren im Iran geschah – und es klärt ganz nebenbei auf, macht Zusammenhänge klarer, stellt die Empfindungen des Volkes nach ohne die Sicht der Farangi, der Ausländer, zu vernachlässigen.

Man glaubt, einen Roman zu lesen, doch hinterher kennt man die Geschichte des Irans besser als nach der Lektüre eines Geschichtsbuchs, denn man hat jeden Moment mitempfinden können.

Ich muss meinem ebay-Käufer, wer immer er auch war, also danken und rechtgeben: Dieses Buch muss man gelesen haben.