ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 517
Texte des am 6. Mai 1921 in Wien geborenen Erich Fried, einmal gelesen, kann man nicht vergessen. Man müsste mit ihnen den Tag beginnen, sich mit ihnen des Abends besinnen, auf den kommenden Morgen einstimmen. Für (fast) alle Fälle des Lebens hat dieser Leben sammelnde Autor zu Worten gefunden, die bleiben werden: Sie spiegeln den Riss der Zeit, Gründe zum Handeln, die Macht und die Ohnmacht, die Politik und die Liebe, die Lüge von den kurzen Beinen, unsere Triebe, die Tat, den Trost, den Traum im Traum. Auch den Verrat, den Spagat, die Reue, Gewalt und Widerstand, Wirklichkeit und Wunder, drei Fragen zugleich, den Kampf sowie den Kuss.
Ich lese sie oft und nicht weil ich muss. Ich lese sie auf wie seltene Steine, bewahre sie, »wo immer gelöscht wird: / die Schrift an der Tafel / der gebrannte Kalk / das Feuer / das Licht / die Ladung / die alte Schuld / der Durst / der immer noch brennt«.
Er schreibe Gedichte wie andere atmen, ließ sich sein Kollege Heißenbüttel angesichts der dichterischen Vitalität von Erich Fried vernehmen. Einer Vitalität, die so gesehen bis heute ansteckend wirkt. Zwei Beispiele anhaltender Aktualität seiner Verse: »Die Gewalt fängt nicht an / wenn einer einen erwürgt / Sie fängt an / wenn einer sagt: / ›Ich liebe dich: / Du gehörst mir!‹ // Die Gewalt fängt nicht an, wenn Kranke getötet werden / Sie fängt an / wenn er sagt: / ›Du bist krank: / Du mußt tun, was ich sage‹ // Die Gewalt fängt an / wenn Eltern / ihre folgsamen Kinder beherrschen / und wenn Päpste und Lehrer und Eltern / Selbstbeherrschung verlangen // Die Gewalt herrscht dort / wo der Staat sagt: / ›Um die Gewalt zu bekämpfen / darf es keine Gewalt mehr geben / außer meiner Gewalt‹ // Die Gewalt herrscht / wo irgendwer / oder irgend etwas / zu hoch ist / oder zu heilig / um noch kritisiert zu werden // oder wo die Kritik nichts tun darf / sondern nur reden / und die Heiligen oder die Hohen / mehr tun dürfen als reden // Die Gewalt herrscht dort wo es heißt: // ›Du darfst Gewalt anwenden‹ / aber oft auch dort wo es heißt: ›Du darfst keine Gewalt anwenden‹ // Die Gewalt herrscht dort / wo sie ihre Gegner einsperrt / und sie verleumdet / als Anstifter zur Gewalt // Das Grundgesetz der Gewalt / lautet: ›Recht ist, was wir tun. / Und was die anderen tun / das ist Gewalt‹ // Die Gewalt kann man vielleicht nie / mit Gewalt überwinden / aber vielleicht auch nicht immer / ohne Gewalt«.
Zum Schluss den Fried-Klassiker: »Was es ist // Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist Unglück / sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst / Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist lächerlich / sagt der Stolz / Es ist leichtsinnig / sagt die Vorsicht / Es ist unmöglich / sagt die Erfahrung / Es ist was es ist / sagt die Liebe«, sagt ARTus
Zum 90. Geburtstag des Schriftstellers Erich Fried (1921 – 1988) Zeichnung: ARTus