Es ist nicht aller Tage Abend

Bereits zum zweiten Mal in dieser Saison präsentiert das Schauspielhaus in Wien ein Stück, in dem die Frage „was wäre wenn“ sich in mehrfacher Weise stellt. War es im Dezember die Uraufführung des Stückes „Konstellationen“ von Nick Payne, in welcher der Frage nachgegangen wurde, wie viele unterschiedliche Lebensweisen ein Liebespaar leben könnte, so konfrontiert mit der neuen Produktion „Aller Tage Abend“ die mit Literaturpreisen hoch dekorierte Autorin Jenny Erpenbeck das Publikum mit insgesamt gleich fünf unterschiedlichen Toden auch nur einer einzigen Frau.

Aller Tage Abend im Schauspielhaus Wien

Katja Jung, Katharina Klar, Florian von Manteuffel. (Foto: © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus)

Der Roman wurde von Andreas Jungwirth in Zusammenarbeit mit Felicitas Brucker für das Schauspielhaus dramtisiert. Erpenbeck schafft die Todeskaskade, indem sie die unterschiedlichen Sterbemomente chronologisch ansetzt. Beginnend bei einem Säugling, der nur wenige Wochen alt ist und endend mit einer greisen und dementen Schriftstellerin im Altersheim. Nach jedem einzelnen Tod stellen sich die Beteiligten die Frage, was denn gewesen wäre, hätte sich auch nur ein Parameter, der zum Tode führte, anders gestaltet. Was wäre gewesen wenn die Eltern, durch einen Geistesblitz gesegnet, dem Kind, das aufgehört hatte zu atmen, noch im rechten Moment Schnee auf der Brust verrieben hätten? Wenn das erschossene, 17jährige, vom Krieg und Hunger zermürbte Mädchen nur fünf Minuten später an jenem Ort gewesen wäre, an dem sie einem Verrückter zum Opfer fiel? Was, wenn die stalinistische Bürokratie die Entscheidung über Leben und Tod der Journalistin anders getroffen hätte oder was, wenn ein wenig mehr Achtsamkeit den tödlichen Treppensturz der anerkannten Autorin verhindern hätte können? Einzig die Frage nach dem natürlichen Alterstod wird nicht mehr gestellt. Er kommt zu einem Zeitpunkt, wo der Sohn bereits erwachsen und so selbstreflektiv unterwegs ist, dass ihn zwar die Trauer überfällt, nicht aber überhandnehmen muss. „Er wird so weinen, wie er noch niemals geweint hat, und dennoch wird er sich, während ihm der Rotz aus der Nase läuft, und er seine eigenen Tränen verschluckt, fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe wirklich alles sind, was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.“ Alle anderen Sterbevarianten jedoch haben Auswirkungen weit über den Tod der besagten namenlosen Frau hinaus.

Beginnend im Jahre 1902 spannt Erpenbeck mit ihrem fiktiven Frauenleben den Bogen des 20. Jahrhunderts bis in unsere Tage und beeindruckt dabei vor allem durch tiefgründige Sätze, die ohne Weiteres in jeden Zitatenschatz aufgenommen werden könnten. „Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist noch längst nicht aller Tage Abend“ oder „Mir war im Leben immer das Leben dazwischengekommen“ – diese Aussagen sind mit einer Allgemeingültigkeit ausgestattet, die weitab vom dramatischen Geschehen der Inszenierung angesiedelt sind. In der stringenten Regie von Felicitas Brucker, die es schafft, trotz all der dramatischen Abgänge die Figuren sentimentalfrei zu behandeln, spult sich vor den Augen des Publikums ein dichtes Frauenleben über drei Generationen ab. Nicht geschützt in einer Örtlichkeit wie bei Manns Buddenbrooks, sondern verteilt auf ganz Europa, wird die Geschichte erzählt. Beginnend von einem kleinen Ort in Galizien, über eine Zwischenstation in Wien und sogar New York bis hin nach Moskau und Berlin lässt die Autorin die Lebenslinien dieser Frau und ihrer Familie nachzeichnen. Dabei ergibt sich wie von selbst der Blick auf ein historisches Europa, vom kleinsten jüdischen Städel – in dem zu Beginn des Jahrhunderts der Judenhass seine ersten Opfer fordert – bis hin in die Hauptstadt Berlin der damaligen DDR. Die höchste Dramatik ereignet sich jedoch gleich am Anfang des Stückes. Der Kindstod reißt die Eltern aus ihrem Leben und schließlich auch auseinander. Bei allem, was sich danach noch an Tragik ereignen wird, sind die seelischen Schmerzen, gemessen an diesem Ereignis, relativiert. Der Abend erscheint wie ein Schnelldurchlauf von rund einhundert Jahren mit Blitzlichtern in politische und soziale Zustände, die weitreichende Folgen hatten. Die Missachtung und Vernichtung jüdischer Mitmenschen, die sexuelle Prüderie der Jahrhundertwende, die zu versteckter Prostitution nötigte, die Hungersnöte nach dem Ersten Weltkrieg in Wien, das Aufkommen von kommunistischen Strömungen – all das behandelt Erpenbeck mit dem Blick auf das K.und K. Reich bzw. Wien. Danach schwenkt sie nach Russland und zeigt in einem beeindruckenden Solo von Katja Jung die Schizophrenie des stalinistischen Regimes auf, in welchem die Herrschaft über Leben und Tod längst nicht nur an Verfehlungen dingfest gemacht wurde. Selbst die Saturiertheit einer anerkannten Autorin in Ostberlin bleibt in deren Leben nicht bis zu dessen Ende bestehen. Der Wandel als ständiges Kontinuum und die Zerrissenheit des Individuums vor dem Spiegel der politischen Bühne werden von Erpenbeck als Fixgrößen behandelt, mit denen der einzelne Mensch schwer umgehen kann. Franziska Hackl, Steffen Höld, Katja Jung, Katharina Klar, Florian Manteuffel und Johanna Tomek schlüpfen bis auf Letztere alle in mehrere Rollen, um das Familienuniversum aber auch das gesellschaftliche Umfeld darzustellen. Michael Zerz schuf mit verschiebbaren kleinen Räumen ein pointiertes Bühnenbild, das sich jeder räumlichen Veränderung adäquat anpassen konnte. So gibt es zu Beginn die Enge der kleinen Wohnung wieder in der Mutter und Tochter aufwachsen. Es zeigt die Behausung in Wien nicht viel größer, wenngleich mit einer anderen menschlichen Wärme gefüllt, friert in der russischen Umgebung zu einem ständig einsichtbaren, eisigen Gehäuse, in dem es in den 50er Jahren keine Privatheit erlaubte. Es generiert sich großzügig als aparte Villa der gefeierten DDR-Autorin und entpersonalisiert sich im letzten Aufenthaltsort, dem Altersheim, in welcher der alten Dame nicht mehr als ein Drehstuhl bleibt. Der Verlust der verständlichen Sprache, der sich am Lebensende bei ihr einstellt, auch er ist kein Einzelschicksal. Dabei grenzt es fast an Ironie, dass sie nur im letzten Akt erstmals mit ihrem Namen – Frau Hoffmann – angesprochen wird.

Die Stärke von Erpenbecks Werk liegt einerseits in der Individualität ihrer Figuren. Andererseits aber in der Allgemeingültigkeit der politischen Verfasstheiten während der unterschiedlichen Zeiten und in den unterschiedlichen Staatsgebilden, die auf Millionen von Menschen im 20. Jahrhundert ihre Wirkung ausübten.

„Aller Tage Abend“ fügt sich passgenau in das derzeitige Saisonprogramm des Schauspielhauses ein, das sich zur Aufgabe gestellt hat, das Erinnerungsjahr 1914 in vielerlei Hinsicht historisch aber auch bis in unsere Tage hin auszuleuchten. Ein interessanter Abend mit einer Österreich-Deutschland-Achse, die sich nicht nur aus dem Text ergibt, sondern sich auch in der Besetzungsliste zeigt.


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