Das 4. Werkzeug aus dem Buch "The Tools".
Es geschah vor vielen Jahren. Mein Lehrer Ron Kurtz leitete einen Workshop mit vierzig Teilnehmern, bei dem ich assistieren sollte. Alle warteten gespannt. Ron sagte: "Welcome and hello to everybody." Und dann passierte es.
Ich hörte nur noch undeutlich die Worte: "My dear friend Roland will explain to you the first principle of our HAKOMI-method. It's called 'non-violence'. Go on, Roland!"
Ich war geschockt, denn das hatten wir so nicht abgesprochen. Mein Mund war völlig trocken, meine Hände zitterten. Ich hatte über 'Gewaltlosigkeit' schon öfter gesprochen, aber in kleinen Gruppen. Und diesmal war der Gründer der Methode, RON KURTZ HIMSELF, dabei.
Ich brachte keinen Ton heraus, denn mein Kopf war völlig leer.
Vermutlich kennen Sie auch solche Momente.
- Vielleicht bei einer Prüfung nach einer überraschenden Frage, mit der Sie nicht gerechnet haben.
- Oder die halbe Stunde vor einem Vortrag.
- Bei einer Vorstellungsrunde, wo jeder ein paar Worte über sich und warum er hier ist, sagen soll.
- Bei einem Bewerbungsgespräch, wo Sie fünf anderen Personen vom Unternehmen gegenüber sitzen.
- Vor einem Akquise-Anruf bei dem Geschäftsführer eines "großen" Unternehmens.
- Bei einer Geburtstagsfeier, bei der Sie eine humorvolle Rede auf den Jubilar halten wollen.
Die Symptome ähneln einer Art Lähmung, bei der wir nicht mehr unsere gewohnten Verhaltensweisen ausüben können. Der Auslöser für eine solche starke Unsicherheit ist oft eine größere Gruppe aber es kann auch ein einzelner Mensch sein.
Warum fühlen wir uns mit anderen unsicher?
In meinem Persönlichkeitsseminar "Selbstbewusster im Job" gebe ich manchmal einem Teilnehmer die folgende Aufgabe für den Abend, um seine Selbstsicherheit zu stärken:
Gehe heute Abend in die Fußgängerzone und mache Folgendes. Ab einem bestimmten Punkt hebe während des Laufens beide Arme und fange an, ein Weihnachtslied zu singen. Mach das mindestens über eine Strecke von 500 Metern.
Die Reaktionen sind immer gleich ablehnend. Von "Das mach ich nie im Leben!" bis zu "Das kann ich nicht." Wenn ich weiter frage, was für den Betreffenden schon beim Nennen der Aufgabe innerlich in ihm ablief, ist es meist derselbe Gedanke: "Da halten mich ja die Leute für verrückt!"
Aber auch wenn ich sage, dass er die Leute erstens doch gar nicht kennt und zweitens wohl nie im Leben wiedersehen wird, verringert das nicht die Angst.
Aus Erfahrung kann ich sagen, was wirklich passiert, denn ich habe die Übung schon öfter selbst und mit Teilnehmern gemacht. Achtzig Prozent der Passanten sehen dich gar nicht, weil sie nur gerade aus gucken, telefonieren etc. Fünfzehn Prozent sehen dich und sind verwundert, verwirrt oder belustigt. Fünf Prozent sagen was "Jo mei, is denn schon wieder Weihnachten? oder "Darf ich mitsingen?"
Warum ist diese Angst vor anderen so stark?
Die Antwort fand vor vielen Jahren bereits der Schweizer Psychoanalytiker C.G. Jung mit seiner Theorie der Archetypen. Ein Archetyp ist ein bestimmtes Muster, wie man die Welt wahrnimmt und auf sie reagiert und gehört zum kollektiven Unbewussten der Menschheit.
Mit am wichtigsten für jeden Menschen ist der Archetyp des Schattens.
Denn im Schatten ist all das konzentriert, was wir an uns nicht mögen und wofür wir uns schämen. Ähnlich dem Schatten, der durch Lichteinfall entsteht, können wir dem psychologischen Schatten nicht entgehen. Er folgt uns überall mit.
Wollen Sie Ihren Schatten kennenlernen?
Hier eine erste Übung:
Schließen Sie Ihre Augen und stellen Sie sich vor, dass Sie vor einer Person oder einer Gruppe stehen, bei der Sie unsicher, aufgeregt oder gehemmt sind.
Konzentrieren Sie sich auf diese Gefühle.
Lassen Sie jetzt diese unangenehmen Gefühle aus sich heraus fließen, und stellen Sie sich bildlich vor, wie sich daraus ein Wesen mit einem Gesicht und einem Körper formt.
Jetzt haben Sie Ihren Schatten gesehen.
Vielleicht ist es ein kleines trauriges Mädchen. Oder ein fetter, pickliger Junge, den niemand in der Mannschaft haben will. Oder der Neue in der Klasse mit dm komischen Dialekt und den dicken Brillengläsern.
Ihren Schatten werden Sie nicht los.
Jeder Mensch schämt sich erst einmal für seinen Schatten. Und sucht meist draußen in der Welt nach Anerkennung und Beweisen für den eigenen Wert. Auch der Besitz von bestimmten Produkten, suggeriert uns die Werbung, soll helfen, den Makel des Schattens zu verbergen.
Wenn Du dieses Lifestyle-Produkt erwirbst, wirst Du anerkannt und geliebt werden und gehörst dazu. Doch der Selbstwert kann nicht durch äußere Dinge oder Leistungen erworben werden.
Doch es gibt eine Kraft, die durch den Schatten verborgen wird. Die stärker ist als Ihre Bedenken, wie andere Sie wohl finden oder beurteilen.
Und das ist die Kraft des Selbstausdrucks.
- Bei kleinen Kindern können Sie sie oft wahrnehmen. Frei und ausgelassen drücken sie sich aus.
- Oder Sie sprechen über eine Sache, von der Sie total überzeugt oder begeistert sind.
- Oder Sie gehen in einer Sache total auf, vergessen die Umwelt und sind völlig eins mit dem, was Sie tun.
In solchen Situationen sind Sie nicht vom Beifall der anderen abhängig. Sie sind ganz Sie selbst - und bringen das auf authentische Weise zum Ausdruck. Doch wenn Sie unsicher oder gehemmt vor anderen sich fühlen, ist das alles weg. Denn Sie sind innerlich nur damit beschäftigt, Ihren Schatten zu verbergen.
Das Tool "Innere Autorität".
Dafür brauchen Sie Ihren Schatten. In der ersten Übung haben Sie ihn ja schon einmal visualisiert. Probieren Sie das noch mal. Sie müssen den Schatten nicht wirklich sehen, entscheidend ist, dass sie eine reale Präsenz vor sich spüren. Üben Sie das, bis Sie es erreicht haben.
Stellen Sie sich jetzt vor, dass Sie vor einem Publikum stehen, das Sie unsicher macht. Und sehen Sie neben sich auf der Seite Ihren Schatten stehen, der Sie anschaut.
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit von Publikum weg auf Ihren Schatten und konzentrieren Sie sich auf ihn. Spüren Sie das Band, das Sie beide unzertrennlich seit Jahren verbindet. Gemeinsam sind Sie furchtlos.
Wenden Sie sich jetzt gemeinsam mit Ihrem Schatten entschlossen zum Publikum und befehlen Sie im Stillen: "Zuhören!"
Spüren Sie die Autorität, die sich zeigt, wenn Sie und Ihr Schatten mit einer Stimme sprechen.
Dieses Tool ist ein Hammer.
Etliche Klienten, die ihre anfängliche Skepsis, als ich es ihnen erklärte, überwanden und das Tool regelmäßig anwendeten, sind überrascht und fassungslos, wie ihre jahrelange Angst vor anderen einer neuen Stärke und Selbstsicherheit weicht.
Der Grund liegt darin, dass Sie keine Energie mehr verschwenden, um ihren Schatten zu verstecken. Sondern den Schatten als Teil, der zu Ihnen gehört auf die Bühne des Lebens holen.
Ich vergleiche es mal mit jemand der schwul ist und das niemanden verraten hat. Seinen Eltern gibt er auf ihre Fragen nach einer Freundin lahme Erklärungen. Wenn zwei im Büro miteinander flüstern, denkt er, sie reden über ihn. Anlässe, seine Arbeit vor einem größeren Publikum zu präsentieren, lehnt er aus Angst ab, weil er glaubt, dass man an seiner Gestik seine Homosexualität erkennen könnte.
Der Ausweg ist das Coming-Out: "Hört alle her - ich bin schwul! Oder wie es Berlins Bürgermeister Wowereit ausdrückte: "Ich bin schwul und das ist gut so." Und die meisten Leute reagieren mit einem "Aha". Mehr nicht.
Das Tool "Innere Autorität" kann Ihr Coming-Out werden. Und das Gute ist: Sie machen es ganz still für sich, im Inneren.
Wann brauchen Sie das Tool?
Immer dann, wenn Sie spüren, dass Sie unter Leistungsdruck stehen. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie etwas beweisen müssen. Das kann ein Arbeitsgespräch sein, eine Verkaufstagung, eine Präsentation, eine Geburtstagsrede oder das erste Rendezvous.
Probieren Sie dann das Tool aus, vor allem um den inneren Druck abzubauen und Ihr Selbst frei zum Ausdruck bringen. Beginnen Sie mit kleineren Anlässen, wo Ihre Angst nicht allzu groß ist.
Das Tool "Innere Autorität kann Ihnen außerdem helfen:
- Ihre Verletzlichkeit und Ihre Bedürfnisse besser auszudrücken.
Vor allem Männer haben dabei Angst, als Weichei zu gelten und den Respekt anderer Männer zu verlieren. Aber das Aufrechterhalten einer Fassade kostet viel Kraft und wird auch leicht als Unnahbarkeit und Arroganz erlebt. - Gefühlvoller mit Ihrer Familie umzugehen.
In der Kommunikation kommt es oft mehr darauf, wie wir etwas sagen als das, was wir sagen. Vielen Menschen fällt es schwer, persönlich zu werden, selbst mit den eigenen Kindern oder dem Partner. Das Verstecken des Schattens bewirkt oft, dass wir allzu sachlich oder vernünftig reagieren, obwohl wir das nicht wollen und hinterher bedauern. - Berufliche Selbstsabotage abzubauen.
Einige meiner Coaching-Klienten waren fachlich top und in entscheidenden Verhandlungen vermasselten sie alles. In der gemeinsamen Arbeit kam heraus, dass sie unbewusst das SCheitern provozierten, weil sie überzeugt waren, dass es ihnen ohnehin drohte.
Mein Fazit:
Wir alle verschwenden immer wieder eine ungeheure Energie darauf, den eigenen Schatten zu verbergen. Wir glauben zu wissen, was uns fehlt oder was mit uns nicht stimmt.
Ein paar Kilo Übergewicht, Falten, unser Bildungsniveau, unser Partner, der zu geringe Verdienst, unsere Intelligenz usw. Aber die Ursache der meisten Hemmungen liegt nicht in diesen Äußerlichkeiten.
Es ist vielmehr der Schatten. Die Verkörperung all der negativen Eigenschaften, die Sie an sich ablehnen. Und Ihre Furcht, jemand könnte das entdecken, was Sie zu verbergen suchen.
Hören Sie auf mit diesem vergeblichen Versuch. Entdecken Sie Ihren Schatten. Nur mit ihm gemeinsam sind Sie stark.
Wie gehen Sie mit Lampenfieber um?
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Ich habe alle Methoden aus dem Buch "The Tools" auf diesem Blog vorgestellt.
Hier die Links dazu: 2. Tool, 3. Tool, 4. Tool, 5. Tool.
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