Es gibt keine Netzgemeinde

Von Stefan Sasse
Kein Artikel kommt heute mehr ohne einen Verweis auf "die Netzgemeinde" mehr aus, die irgendetwas blöd findet. Wenn irgendetwas in er Welt geschieht, kann man darauf wetten, dass auch über die Rezeption auf Twitter berichtet wird, garantiert garniert mit dem Hinweis, dass ein Tweet maximal 140 Zeichen umfasst. Meistens läuft das dann unter "die Netzgemeinde", indem man irgendein Hashtag als exemplarisch herausgreift. Beispielhaft konnte man das unter #notmypresident am Fall Gauck sehen; und es dürfte nur die Blattmacher und ihre Omas selbst überraschen, dass unter einem solchen Hashtag nur Gauck-kritische Kommentare zu finden sind. Dazu sind die Dinger da; Orientierung bieten in der Welt der Millionen und Abermillionen Tweets, die jeden Tag getwittert werden. Genausogut könnte ich die Sportseiten aufschlagen und mich darüber beklagen, dass die Journalistengemeinde nur über Sportthemen schreibt. Das Niveau ist ähnlich. Nur geht es in diesem Fall um das Internet, das ist mysteriös, neu und sexy, zumindest für die Zieldemographie der Qualitätsmedien. Anders lassen sich die wilden Geschichten, die über die Nutzung der neuen Medien ständig verbreitet werden, eigentlich nicht erklären. 
Es sind vor allem zwei Narrative, die ständig in der Berichterstattung auftauchen. Das erste haben wir bereits angeschnitten: Twitter und seine Funktion als Nachrichtenmedium. Gerne wird darauf verwiesen, dass Twittermeldungen sich erwiesenermaßen schneller als Erdbebenwellen um den Globus verbreiten. Glückwunsch, Freunde, aber das gilt sogar für einen Telefonanruf. Das zweite Narrativ ist Facebook. Es wird entweder als furchtbare Bedrohung (für unsere Kinder) angesehen oder als revolutionäres Instrument (der Afrikaner und Araber). Beides ist Quatsch. Facebook ist ein soziales Netzwerk, nicht mehr, nicht weniger. Gleiches gilt eingeschränkt auch für Twitter. Die ständigen Geschichten davon, dass die Teilnehmer des arabischen Frühlings sich dieser beiden Netzwerke bedienten, um ihre Aufstände zu organisieren, beleiden die Protagonisten. Es ist nachvollziehbar, warum die Geschichte so gerne berichtet wird, denn sie ist sexy. Anstatt über Leute mit Kalashnikovs, die durch Straßen rennen und oliv uniformierte Bösewichte beschießen zu berichten - hat man schon tausendmal gehört - bekommt man hier eine ganz neue Story. Twitter und Facebook, das sind Buzzwords, die beim Leser inzwischen zuverlässig eine Reaktion auslösen. Sie haben den Geruch der weiten Welt und, was ebenfalls nicht vernachlässigt werden darf, sie sind westliche Produkte. Die Araber befreien sich durch die Segnungen westlicher Technik! Was für ein Quatsch das ist, hat zum Glück bereits Cracked.com auseinandergenommen, auf die ich an dieser Stelle gerne verweise.
Das Gerede von der Netzgemeinde ist aber auch so ärgerlich, denn es wirft eine riesige Menge Leute in einen Topf, die sich überhaupt nicht vereinen lassen. Nehmen wir alleine dieses Blog und, sagen wir, den Spiegelfechter. Obwohl unsere Ansichten und Ziele vergleichsweise identisch sind (verglichen etwa mit mit den Jungs vom Blog Red State), streiten sich Autoren und Nutzer ziemlich energisch. In einem Satz einen Konsens zu formulieren dürfte schwierig sein. Für die Autoren von Artikeln über "die Netzgemeinde" aber ist kein Problem, nicht nur den Oeffinger Freidenker und den Spiegelfechter für praktisch identisch zu erklären, sondern gleichzeitig auch noch Sprengsatz und seine deutlich konservativere Leserschaft gleich mit in den Mix zu werfen. Ist ja alles irgendwie Internet. Der große Denkfehler, und eigentlich der Einzige, der in dieser ganzen Sache gemacht wird ist, einfach die abwegige Vorstellung aufrecht zu erhalten, dass im Internet zu sein ein über die Maßen verbindendes Element darstellt. Das war vielleicht vor 15 Jahren so, als man schon stark technikaffin sein musste, um längere Zeit im Internet herumzuhängen; heute aber ist es völlig normal und kann kaum mehr als verbindendes Merkmal benutzt werden. Es ist in etwa so sinnvoll wie von der "Öffentliche-Verkehrsmittel-Gemeinde" oder der "Supermarkt-Gemeinde" zu sprechen. Niemand würde auf die Idee kommen, die politische Meinung der "Autofahrer-Gemeinde" zu Gauck aufzuschreiben. Nur beim Internet gilt diese Schwachsinnsvermeidungsregel nicht, aber das ist, wie bereits gesagt, auch neu, mysteriös und sexy. Die einzige gute Nachricht daran ist, dass solcherlei Meldungen in zehn bis fünfzehn Jahren verschwunden sein dürften, weil dann auch die letzten Fossile, die sich nicht mit dem Medium auskennen, im Ruhestand sind. Aber bis es soweit ist, dürfen wir wohl noch viele Meldungen über Twitter hören, wo man in 140 Zeichen überraschenderweise keine tiefschürfenden Diskussionen führen kann.

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