Wie wir im vergangenen Beitrag gesehen haben gibt es in der Gesellschaft ein weit verbreitetes Gefühl, dass die Mittelschicht verschwinden wird. Ganz anders als in den 1950er Jahren, als Helmut Schelsky das Schlagwort von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" prägte. Nun hatte der Krieg damals zumindest in Deutschland die Ungleichheit ein Stück weit eingeebnet. Und Schelsky war zunächst eher ein Vertreter der „alten Linken". Er stand zunächst dem DGB und der SPD nahe und wurde zu einem heftigen Kritiker der 68er Bewegung und der „neuen Linken".
Womöglich war auch in den 1950er und 1960er Jahren der Optimismus also nicht so groß wie es heute scheint. Trotzdem lohnt sich die Frage, woher das Gefühl kommt, dass die Mittelschicht eigentlich schon verschwunden ist. Wie im vergangenen Beitrag gesehen trägt die Berichterstattung dazu bei. Aber gibt es auch einen wahren Kern?
Die Reichen werden mehr
Die Mittelschicht wird statistisch unterschiedlich definiert. Wie auch bei der Armut greift man hier auf Nettoäquivalenzeinkommen zurück. Also auf Haushaltseinkommen nach Abzug von Steuern und nicht auf den individuellen Verdienst. Dabei werden große Haushalte umgerechnet, wobei die Statistik für jeder zusätzliche Erwachsene nach der Statistik 50 Prozent mehr Kosten bedeutet, jedes Kind 30 Prozent (was in meinen Augen zur Unterschätzung der Kinderarmut führt).
Oft ist die Armutsgrenze die Abgrenzung nach unten, also 50 Prozent des Medianeinkommens. In der EU üblich ist die Armutsgefährdungsgrenze, die bei 60 Prozent des Medians liegt. Nach oben ist eine mögliche Grenze der Reichtum, der bei 200 Prozent beginnt. Auch wenn Friedrich Merz die Obersicht erst dann beginnen sieht, wenn man nicht mehr arbeiten muss.
Tatsächlich zeigen die Daten des Sozioökonomischen Panels, dass immer mehr Menschen zu den Reichen gehören. Allerdings stagniert die Entwicklung seit 2005, in der Tendenz ist sie sogar leicht gesunken. Damals lag der Wert bei 8,0 Prozent, 2015 (neueste Daten) lag er bei 7,5 Prozent. Von einem dauerhaften Rückgang kann man aber auch nicht sprechen, zumal 2014 der Wert sogar mit 8,2 Prozent übertroffen wurde.
Gestiegen ist dagegen der Anteil er dauerhaft Reichen. Das ist aber eine logische Konsequenz der Definition. Als dauerhaft reich gilt, wer in zwei der drei Vorjahre (und natürlich im aktuellen Jahr) reich ist. Deshalb folgt die Kurve derjenigen der Reichen mit einem Abstand von mindestens zwei Jahren. Insgesamt machen, mit Ausnahme der Jahre 2005 und 2006, die Neureichen immer etwas über 2 Prozentpunkte aus.
Die andere Seite: Armutsgefährdung
Nun gibt es da natürlich noch eine zweite Gruppe, die nicht zur Mittelschicht gehört, nämlich die Armen, genauer gesagt die Armutsgefährdeten. Denn in der EU endet die Mittelschicht, wie gesagt, üblicherweise mit einem Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen von 60 Prozent des Medians. 2015 waren rund 16,8 Prozent der Deutschen armutsgefährdet. Und der Schein trügt nicht, zumindest nach den Daten des SOEP hat die „Unterschicht" zugenommen, nämlich von 11,6 Prozent im Jahr 1995 auf eben jene 16,8 Prozent im Jahr 2015.
Nachdem von 2005 bis 2011 die Zuwächse eher niedrig waren und es immer wieder auf und ab gegeben hatte, geht es seitdem, wieder deutlich rauf. Auch die Zahl der dauerhaft armutsgefährdeten Personen steigt. Analog zu den dauerhaft Reichen ist dauerhaft armutsgefährdet, wer im aktuellen Jahr sowie in zwei von drei Vorjahren zu dieser Gruppe gehörte.
Wer ist besonders arm dran?
Anders als BILD-Zeitung und SPD behaupten sind Rentner und Pensionäre übrigens nach wie vor seltener armutsgefährdet als der Durchschnitt, nämlich zu 14,6 Prozent gegenüber 16,8 Prozent aller Menschen in Deutschland. Die größte Risikogruppe sind Arbeitslose, sie sind zu 68,7 Prozent armutsgefährdet. Auch Alleinerziehende trifft es oft (wobei die Gruppen Alleinerziehende und Arbeitslose natürlich eine sehr große Schnittmenge haben), rund ein Drittel ist armutsgefährdet (36,5 Prozent).
Auch bei der Zunahme stehen die Rentner und Pensionäre nicht vorne. Der Anteil der armutsgefährdeten Ruheständler stieg von 1995 bis 2015 von 13,2 Prozent auf die heutigen 14,6 Prozent. Dagegen verdoppelte sich der Anteil der armutsgefährdeten an den Erwerbstätigen und an den Arbeitslosen jeweils ungefähr, nämlich von 4,4 auf 8,6 Prozent bei den Erwerbstätigen und von 34,4 auf 69,7 Prozent bei den Arbeitslosen.
Manch einer mag jetzt fragen, warum sich die Armutsgefährdungsquote nicht auch annähernd verdoppelt hat, wo doch Pensionäre und Rentner eine Verdopplung bei den anderen beiden Gruppen nicht stoppen konnten. Die Antwort liegt im Will-Rogers-Phänomen. Die Verdoppelung der Amutsgefährdung bei den Erwerbstätigen ist nicht die Folge eines Absturzes in die Armut von bisher wohlhabenden Menschen. Vielmehr haben in den vergangene 20 Jahren viele Menschen Arbeit gefunden, die vorher arbeitslos waren. Oft ist die Arbeit aber schlecht bezahlt, die Menschen blieben also armutsgefährdet, wurden jetzt statistisch aber bei den Erwerbstätigen mitgezählt und erhöhten dort den Anteil der armutsgefährdeten.
Müsste dann nicht der Anteil der Armutsgefährdeten bei den Arbeitslosen sinken? Nein, wenn die jetzt arbeitenden ehemaligen Arbeitslosen alle genauso oft armutsgefährdet wären wie ihre Kollegen, hätte sich die Quote gar nicht verändert. In der Realität aber dürfte es sich vor allem um besonders viele Arbeitslose gehandelt haben, die noch nicht so lang arbeitslos waren und deshalb auch öfter nicht armutsgefährdet. Bei den Arbeitslosen dürfte am stärksten aber ein realer Effekt hinzugekommen sein, dass nämlich bisherige Arbeitslosenhilfeempfänger weniger Arbeitslosengeld II bekamen als vorher Arbeitslosenhilfe und deshalb armutsgefährdet wurden. Allerdings entfällt ein Großteil des Anstieges schon auf die Jahre 1995 bis 2000, also die Zeit vor dem SGB II, außerdem auf die Jahre 2008 und 2009. Mit der Wirtschaftskrise ab 2009 sank der Anteil der armutsgefährdeten Arbeitslosen an allen Arbeitslosen wieder. Warum? Weil viele Menschen arbeitslos wurden, die zunächst das höhere Arbeitslosengeld bekamen und nicht armutsgefährdet waren. 2012 und 2015 stieg der Anteil dann wieder an.
Keine gefühlte Wahrheit: Die Mittelschicht wird kleiner
Wenn 16,8 Prozent armutsgefährdet und 7,5 Prozent reich sind, bleiben logischerweise 75,7 Prozent, die zur Mittelschicht gehören. Das sind tatsächlich deutlich weniger als die 82,4 Prozent, die sowohl im Jahr 1995 als auch im Jahr 2000 noch zur Mitte gehörten.
Manch einem wird auffallen, dass es in der Grafik keine dauerhafte Mittelschicht gibt. Das liegt daran, dass ich die Daten selbst berechnet habe, indem ich von 100 Prozent die Reichen und die Armutsgefährdeten abgezogen habe. Das könnte man auch mit den dauerhaft Reichen und dauerhaft Armutsgefährdeten machen, bekommt dann aber keineswegs die dauerhafte Mittelschicht. Stattdessen sieht man dann alle, die innerhalb von vier Jahren mindestens ein Jahr zu Mittelschicht gehört habe. Und diese Zahl ist auch spannender als die dauerhafte Mittelschicht.
Demnach gehörten 85,5 Prozent in den Jahren 2012 bis 2015 mindestens ein Jahr zur Mittelschicht. Auch dieser Wert ist allerdings gesunken, 1995 lag er noch bei 91,1 Prozent, im Jahr 2000 bis 90,3 Prozent.
Der Wohlstand steigt nur langsam
Insgesamt ist das mediane Nettoäquivalenzeinkommen in der gleichen Zeit aber ebenfalls gestiegen, zumindest nominal. Für eine realen Einkommensentwicklung, also die Entwicklung der Kaufkraft, müssten wir die Inflation gegenrechnen. Das mediane Nettoäquivalenzeinkommen stieg von 1995 bis 2015 von 1.221 auf 1.810 Prozent, also um rund 50 Prozent. Allerdings steigen die Preise bei einer Inflation von 2,0 Prozent im Jahr im gleichen Zeitraum ebenfalls um fast 50 Prozent (48,6 Prozent). Nachdem die Preissteigerung aber meist unter 2,0 Prozent lag, dürfte real ein bisschen was übrig bleiben, allerdings nicht sehr viel. Das dürfte mit zum Gefühl des Niedergangs beigetragen haben, schließlich haben wir uns an ordentliche Wohlstandssteigerungen gewöhnt - und brauchen die auch, weil ständig neue Produkte auf den Markt kommen, die wir kaufen wollen.
Fazit
Die Entwicklung der Jahre von 1995 bis 2015 war für die Mittelschicht tatsächlich keine Erfolgsgeschichte. Das mediane Nettoäquivalenzeinkommen ist nur wenig stärker gestiegen als die Inflation. Außerdem sank der Anteil der Bürger, die zur Mittelschicht gehören von 1995 bis 2015 von 82,4 auf 75,7 Prozent. Verglichen mit den Horrorgeschichten nicht nur der Boulevardzeitungen ist die Mittelschicht aber immer noch sehr groß. Rund drei von vier Einwohnern Deutschlands gehörten ihr 2015 an, weitere 9,8 Prozent gehörten zwar im Jahr 2015 nicht mehr dazu, haben ihr in den Jahren 2012 bis 2014 mindestens ein Jahr angehört, so dass 85,5 Prozent zwischen 2012 und 2015 mindestens ein Jahr Mittelschicht waren.
Die Wahrheit liegt also zwischen „Die Mittelschicht ist verschwunden" und „Alles falsch". Die Mittelschicht wird kleiner, aber nur langsam. Würde sie auch in Zukunft alle 20 Jahre 6,7 Prozentpunkte kleiner, so wie 1995 bis 2015, dann würden in 100 Jahren immer noch fast 50 Prozent zur Mittelschicht gehören. Allerdings sind solche Verlängerungen als Trends reine Gedankenspiele, als seriöse Prognose sind sie ungeeignet.