Es geht eine Runde weiter – Fantasy-Anthologie der besonderen Art

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Nun geht es eine weitere Runde weiter. Wie schon einmal auf dem Blog vom Verlagshaus el Gato und bei mir angekündigt, ist eure Stimme gefragt, die dann die 10 Geschichten mit den meisten Stimmen auswählt.
Dazu gibt es folgend nun die Geschichten mit kurzer Inhaltsangabe und Leseprobe.

Bis zum 31. Mai 2013 könnt ihr für euren Favoriten voten.
Und als kleines Dankeschön für eure Hilfe, verlost das Verlagshaus el Gato auch 3 Print-Ausgaben der Anthologie, die im September 2013 erschienen wird.
Hier die Votinglisten:

Votingliste 1 (Geschichte 1 bis 10)

Votingliste 2 (Geschichte 11 bis 16)

Geschichte 1

Das Erwachen
Melissa weiß nicht, wie ihr geschieht, als sie plötzlich anstatt in ihre Haarpracht in ein Meer von Schlangen greift, die ihr aus dem Kopf wachsen. Den Berichten im Radio von plötzlich auftauchenden Fabelwesen kann sie kaum glauben, bis sich ihr plötzlich ein gefährlicher Drache in den Weg stellt. Melissa gelingt es, sich vor dem Drachen zu verstecken, doch nur ganz langsam beginnt mit Hilfe ihres Freundes Daniel zu verstehen, was um sie herum passiert, und dass der Drache vielleicht doch nicht so böse war, wie sie anfangs glaubten.

Leseprobe:
Mit hängenden Schultern blieb sie sitzen. Die Nattern schmiegten sich tröstend an ihre Wangen. Sie züngelten aufgeregt.
„Ich bin ein Mo … Mo … onster.“, jammerte sie fassungslos.
Daniel legte ihr die Hand auf den Arm, sich vorsichtig von den zischelnden, sich ringelnden, lebenden Locken fernhaltend. „Hey, die Schlangen sehen echt cool aus. Wie Rastalocken. Sie sind nicht gefährlich, oder? Geht es deinen Fingern gut?“
Thorsten wurde es mulmig zu Mute. Gab es da nicht eine griechische Sage von einer Frau mit Schlangenhaar? Wenn er sich richtig erinnerte – aber nein, das konnte nicht sein. Es wuchsen allerdings auch niemandem Schlangen auf dem Kopf. Er musste sich vergewissern. Er stellte sich hinter Melissa und zog Daniel neben sich. Dann legte er dem Mädchen die Hände auf die Schulter. Sofort untersuchten die Schlangen seine Finger. Verflixt, die waren wirklich extrem neugierig, dachte Thorsten. „Melissa, tu mir einen Gefallen“, sagte er. „Schau mal auf deinen Teller. Schau nur auf den Teller, nirgendwo sonst hin. Versprochen?“
Melissa nickte. „Gut, mach ich. Aber wozu denn?“
Er ignorierte ihre Frage. „Gut, nicht wegschauen. Dreh auf keinen Fall den Kopf!“
Er nahm dem Mädchen die Sonnenbrille ab. Verwirrt, aber gehorsam blickte sie auf den Tisch. Ihr ungefilterter Blick fiel auf die Wespe, die über dem Teller ihre Kreise zog. Das gelb-schwarze Insekt stürzte wie vom Blitz getroffen ab und landete mit einem deutlich hörbaren „Klock“ auf dem Tisch. Thorsten ließ die Sonnenbrille wieder über Melissas Augen gleiten. Dann hob er das Tier auf. Es fühlte sich seltsam schwer an. Auf seiner Handfläche lag eine winzige Wespenskulptur, jede Einzelheit sorgfältig nachgebildet in schwarzem Obsidian und honigfarbenem Topas. Durch den Sturz war einer der durchscheinenden Kristallflügel zerbrochen, ansonsten war sie perfekt. Er pfiff beeindruckt durch die Zähne. Er zeigte Melissa das versteinerte Insekt. „Mit diesen winzigen Kunstwerken könntest du ein Vermögen verdienen“, sagte er.
Hoffentlich verlor Melissa nicht die Nerven – das könnte für sie alle tödlich enden. „Sei vorsichtig. Du darfst die Sonnenbrille nicht absetzen. Nicht, dass du mehr als Insekten in Stein verwandelst!“ warnte Thorsten.
Sie hielt die Wespe dicht vor die Sonnenbrille, ein perfektes Kunstwerk, das vor wenigen Minuten noch ein lebendiges Tier gewesen war.
„Das ist ein Alptraum. Gleich wache ich auf und es war alles nur ein Alptraum“, murmelte sie. Melissa saß so still, als wäre sie selber zu Stein geworden, dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Die Schlangen ließen ihre Köpfe hängen. Sie wirkten schlaff und leblos. Daniel hatte sich neben sie gesetzt, hielt ihre Hand und sprach leise auf sie ein. Melissa legte ihren Kopf an seine Schulter, ihre kleinen Schlangen kuschelten sich zärtlich an Daniel. Der junge Mann legte den Arm um ihre Schultern und murmelte tröstende Worte in ihr Ohr.
Mit Schaudern dachte Thorsten daran, dass ein einziger Blick genügt hatte, um aus der Wespe einen Stein zu machen. Dieses Kind war verdammt gefährlich! Aber was konnte er tun? Sie hatte sicher einen Schock, aber er konnte sie nicht einfach ins Krankenhaus bringen. Genausogut hätte er gleich die Freakshow anrufen können. Er konnte nur hoffen, dass der Spuk bald vorbei sein würde.

Geschichte 2

Usch, der große Jäger
Ziel eines jeden Jungen ist es, ein großer Jäger zu werden und Ansehen in seinem Dorf zu erlangen. Auch Usch begibt sich auf die Jagd, um sein Ziel zu erreichen. Bald gelingt es ihm, einen Yark zu töten. Doch in seinen Siegesjubel stimmt ein Gharuk ein – das größte und gefährlichste Raubtier, das es gibt. In Usch wird der Wunsch übermächtig, auch diesen Gegner zu finden und seinen Ruhm zu mehren. Bald sieht er sich mit dem gewaltigen Tier konfrontiert und gerät in Lebensgefahr. Wird es ihm gelingen, sich aus der Gefahr zu befreien und die Siegesfreude mit seinem Volk zu teilen?

Leseprobe:
Mit Besonnenheit setzte Usch einen Fuß vor den anderen. »Vergeude keine Kraft, wenn du sie nicht brauchst.« Der Lehrsatz seines Meisters lebte tief in ihm, wie alle seine Weisheiten. So stieg er bedächtig den steilen schmalen Pfad hoch zur weiten Ebene. Den ganzen Tag war er durch das Tal gelaufen, hin zu den Klippen des gelben Berges, der als mächtiges Massiv die Welt des Dorfes Ursu diesseits des braunen Flusses begrenzte. Usch war auf der Jagd. Er wollte vom Kind zum Mann werden. Dazu musste er auf dem Berg ein gefährliches Tier erjagen, am besten einen Yark.
»Hüte dich vor dem Yark. Denk an deinen Vater«, hatte Mensha, sein Lehrmeister, ihn gewarnt. Vor vielen Monden hatte ein Yark, geschmeidig und so groß wie ein Pony, zwei Mädchen aus dem Dorf angegriffen. Sie badeten an einer seichten Stelle im Fluss.
Uschs Vater Benra stürzte sich auf ihn und tötete ihn mit seinem Messer. Dabei verlor er den rechten Arm. Der Yark hatte ihn – bereits im Sterben liegend – durchgebissen. Sein Vater war nur knapp dem Tode entkommen, aber er konnte niemals mehr zur Jagd gehen. Die Bewohner der Siedlung ernährten ihn und seine Kinder Usch mit seiner kleinen Schwester Marsa aufs Vortrefflichste. Von jeder Jagd bekamen sie die schmackhaftesten Batzen ab und von den Feldern war immer reichlich Korn und Frucht für alle da. Und an jedem Feiertag erzählte der Vater beim Abendschmaus in der Dorfrunde, wie er den Yark getötet hatte. Er zwang ihn unter Wasser und dem katzenartigen Wesen gelang es nicht, nach oben zu kommen, da der weise Benra den Kopf mit den gefährlichen Zähnen unter einer Wurzel eingeklemmt hatte.
Eines Tages kamen schwarze Reiter von der Burg jenseits der Berge auf der anderen Seite des Flusses. Sie fragten nach Benra und seiner Heldentat. Sie verlangten die Waffe zu sehen, mit der sein Vater den Yark erstach. Erst als sie sicher waren, dass es sein eigener krummer Dolch war, zogen sie unter aller Ehrerbietung ab.

Geschichte 3

Der Aussiedler
Die Flucht aus seiner Heimat ist der einzige Ausweg, der dem jungen Fischer Pat bleibt, als er im Affekt einen Dieb erschlagen hat, der sich in seinem Haus herumschlich. Er lässt nicht nur seine Heimat hinter sich, sondern auch seine große Liebe Leganda. Doch kein Tag vergeht, an dem Pat nicht an seine Tat und an die Frau seines Herzens denkt. Selbst ein aberwitziges Huhn, das Freundschaft mit ihm schließt und nicht mehr von seiner Seite weicht und der monströse Tongrek können seine Gedanken nicht verwirren. Als Pat erkennt, dass seine einzige Möglichkeit, wieder mit Leganda zusammenzukommen ist, den gefährlichen Tongrek zu bezwingen, gilt es, einen schlagfertigen Plan auszuarbeiten.

Leseprobe:
Seine Schuhe waren nass, Jacke und Hose zerfetzt, als er sich in der Morgendämmerung in eine Bretterbude im Wald schleppte und sich schwer atmend auf einen Stein setzte. Die Bretterbude hatte keine Fenster. Nur durch die Ritzen schimmerte ein wenig Licht. Pat wusste nicht, wo er sich befand, und wie lange er schon unterwegs war.
Hinter ihm knarrte es. Erschrocken drehte er sich um. Aber nur ein paar Mäuse krabbelten über das nasse Holz, wie er in der Dämmerung ausmachen konnte. Pat schlotterte vor Hunger Angst und Kälte, aber die Furcht vor den unbekannten Häschern war größer. Er musste weiter.
Langsam hinkte er zum Ausgang der Hütte. Draußen blickte er sich unsicher um. Kein Mensch war zu sehen. Der Wald war wegen seiner Unzugänglichkeit Zufluchtsort für mancherlei Gelichter. Hier wurde nur gefunden, wer gefunden werden wollte. Rechtschaffene Menschen mieden diesen Ort. „An dieser Stelle gehen seltsame Dinge vor,“ hatte ihm sein Vater erzählt. „Des Nachts gaukeln grüne Flämmchen über den Wassern, und die Geister der unerlösten heulen. Sie sind Wesen zwischen Mensch und Tier, so sagen die, die sie gesehen haben, und lebend davon gekommen sind.“ Pat meinte, seines Vaters Stimme zu hören, und sah sich erschrocken um. Aber da war nichts auszumachen. Die Tannen reckten ihre mächtigen Äste in die aufsteigenden grauen Nebelschwaden, und das Rauschen des Windes in den Baumkronen klang wie der Singsang eines unerlösten Geistes.
Pat ging weiter, über raschelndes braunes Laub horchte, sah sich nochmals um. Er atmete erleichtert auf, als er den Waldrand erreicht hatte.
Herbstbraun dehnte sich die weite Ebene vom großen wild rauschenden Fluss in zwei Hälften geteilt vor Pat. Entschlossen ging er weiter, dorthin wo Menschen waren. Außer sich selbst hatte er nichtsmehr zu verlieren so dachte er. Aber wenn er ehrlich zu sich war, wusste er, das stimmte nicht. Da war noch Leganda. Leganda lebte mit ihren Eltern, die ebenfalls Fischer waren in einer Hütte, nicht weit von Pats Häuschen entfernt. Ihr blondes Haar, das ihr in Locken bis auf die Schultern fiel, glänzte wie der Sonnenschein auf einem Tautropfen. Ihre Augen waren so blau wie die Blüte einer Vergissmeinnicht und ihr Gesichtszüge waren zart und fein wie die einer Prinzessin. Sie hatte Pat hin und wieder in seiner Hütte besucht, war mit ihm auf den See hinausgefahren und hatte ihm beim Fischen geholfen. Die beiden waren sich näher gekommen. Pat hatte ihre Hand gestreichelt und Leganda lächelte ihm zu und sagte: „Es wäre schön, wenn wir uns öfters sehen könnten.“ Was sollte nun aus ihrer kaum begonnenen Liebschaft werden? Aber er musste weg. Entschlossen ging Pat weiter. Er versuchte, die Gedanken an Leganda zu verdrängen.

Geschichte 4

Das Spiel von Licht und Schatten
Jaguar und Kojote verbindet seit ihren frühsten Tagen eine innige Freundschaft, ein Leben ohne den anderen scheint undenkbar. Doch schnell wird ihnen das Leben im Tempelbezirk des Sonnengottes zu langweilig – Hymnen auswendig lernen, Helferpositionen ausfüllen – da muss es doch mehr geben. Jaguar und Kojote entwickeln sich zu Meisterdieben und träumen bald davon, dem Sonnengott das Sonnenfeuer zu stehlen, um selbst zu Göttern zu werden. Als Jaguar mit einer wichtigen Aufgabe betraut wird, sieht Kojote ihre Gelegenheit gekommen: Er entwendet das Sonnenfeuer. Jaguar muss erkennen, dass der Zeitpunkt gekommen ist, der ihre Freundschaft vor die Zerreisprobe stellt.

Leseprobe:

»Du und ich wie Schatten und Licht: Zusammen nur, alleine nicht.«

 Es war ihr Wahlspruch, seit Jaguar denken konnte. Er musste ihnen irgendwann einmal in den Sinn gekommen sein, als sie beide, noch klein und tapsig, auf der oberen Plattform der Sonnenpyramide gespielt hatten: Fangen oder Verstecken, das blieb sich gleich, solange es nur schnell genug ging.
Jaguar blinzelte träge, während er sich der wohligen Wärme der Nachmittagssonne überließ, die sein Fell zum Leuchten brachte und von den Steinquadern der Pyramide zurückgeworfen wurde.
»Er wird aus der Haut fahren, wenn er es merkt«, murmelte Kojote neben ihm. Jaguar musste nicht einmal den Kopf drehen, um zu wissen, dass sein Freund grinste.
»Ich denke, wir werden ihn fluchen hören«, bestätigte er. Das Scheppern von weit unten drang nur Wimpernschläge später zu ihnen herauf. Jaguar blieb ruhig liegen, aber Kojote hob den Kopf und lauschte mit gespitzten Ohren. Der Schalk leuchtete aus seinen bernsteingelben Augen, und seine buschige Rute zuckte.
»Kreaturen der Unterwelt! Ich sollte euch den Hals umdrehen! Ihr neunmal verfluchten Mistbiester!« Die Stimme des Hohepriesters drohte sich zu überschlagen. Kojote stieß Jaguar verschwörerisch an. »Er hat noch nie so lange gebraucht, um es zu merken«, flüsterte er.
»Wir werden eben immer besser«, wisperte Jaguar zurück und stimmte in das leise Lachen mit ein.
»Und dabei sind wir bereits die Besten.« Kojote hatte recht. Sie waren die gewieftesten und geschicktesten Diebe im ganzen Tempelbezirk – hier wie auf der Seite der Götter. Lautlos wie Licht, flink wie huschende Schatten. Und obwohl der Hohepriester genau wusste, wer drei Truthähne aus der Vorratskammer des Tempels gestohlen hatte, konnte er nur lauthals wettern und schimpfen. Gegen die Übeltäter konnte er nichts tun.

Geschichte 5

Die falsche Vergangenheit
Svenja wacht aus einem verwirrenden Traum auf, der einen faden Beigeschmack hinterlässt: Irgendwie fühlt sie sich in Gefahr, am falschen Ort. Und plötzlich steht sie einem Mann gegenüber, von dem sie weiß, dass sie ihn noch nie gesehen hat, der ihr aber trotzdem mehr als bekannt vorkommt. Als auch noch die Gesichtszüge eines Mädchens entgleisen und sich zu einer erschreckenden Maske verformen, wird Svenja klar: Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Als Svenja von einem Fremden angegriffen wird, drängt sich die Notwendigkeit, Licht in die Dunkelheit zu bringen, immer mehr auf. Dabei erhält Svenja Hilfe von unerwarteter Seite.

Leseprobe:
Svenja war zutiefst erschöpft. Unter ihren braunen Augen lagen dunkle Schatten, ihr langes Haar klebte an ihrem Hals. Die Nadel, die in ihrer Hand steckte, um ihren Körper mit Flüssigkeit zu versorgen, juckte schrecklich. Gerne hätte sie geschlafen. Den Blick von dem kleinen Bündel in ihren Armen abzuwenden, war ihr jedoch unmöglich. Sie hatte das Krankenhausbett aufgerichtet und ihre Tochter im Arm gebettet. Die Kleine schlief und ihre Wimpern zauberten zarte Schatten auf ihre Wangen. Ob sie das gleiche dunkle Haar wie Svenja oder die hellen Haare ihres Vaters erbte? Auf jeden Fall sollte sie die strahlend blauen Augen ihres Mannes bekommen. Tobias war vor ein paar Stunden nach Hause gefahren. Er hatte schrecklich ausgesehen und brauchte dringend Schlaf. Er war die letzten achtundzwanzig Stunden nicht von ihrer Seite gewichen. Langsam senkte sich der Nebel des Schlafes über Svenjas Geist. Aus dem Augenwinkel nahm sie noch war, dass die Tür zu ihrem Einzelzimmer geöffnet wurde. War es schon wieder Zeit die Kleine zu wickeln? Svenja konnte noch nicht aufstehen und so übernahmen diese Aufgabe die Schwestern der Station. Ein Arzt näherte sich dem Bett. Es war nicht ihr Arzt. Dieser Mann war deutlich jünger als Doktor Brauneisen und sehr attraktiv. Die Schwestern und Ärztinnen des Krankenhauses mussten ihm reihenweise zu Füßen liegen. Unter dem langen Kittel trug er einen eleganten schwarzen Pullover. Sein Haar war dunkel und ordentlich frisiert.
„Wir müssen ein paar Tests mit“ er schaute auf die rosafarbene Karte am Bettgestell „Emma machen.“
Svenja erschien dieser Arzt seltsam. Was denn für Tests? Sollte man sie nicht vorher informieren, wenn ärztliche Untersuchungen anstanden?
Dies sind reine Routineuntersuchungen“ schien er ihre Gedanken zu erraten. Er beugte sich vor um ihr das Baby aus den Armen zu nehmen. Als die Fingerspitzen des Mannes Emmas Arm streiften, schrie er auf, als hätte er sich verbrannt. Svenja zuckte zusammen. Ihr Blick huschte von ihrer Tochter zu dem Arzt. Seine Gesichtszüge verzerrten sich unnatürlich. Svenja keuchte auf. Der Mann entblößte mehrere Reihen spitzer Zähne, ähnlich einem Haifischgebiss. Svenja rutschte mit dem Kind an den Rand des Bettes. Das entstellte Monster, dessen Augen nichts Weißes mehr erkennen ließen, machte keinen weiteren Versuch ihr das Baby abzunehmen. Aus seinem Mund schnellte eine gespaltene Zunge hervor und er stieß Wörter aus die nur noch entfernt menschlich klangen. Die Worte legten sich klebrig auf Svenjas Bewusstsein. Das Zimmer um sie herum schien sich zu verflüssigen und langsam aufzulösen. Panik überkam Svenja und sie drückte ihre Tochter enger an sich. Ein gleißend helles Licht ließ sie die Augen zusammenkneifen.
Licht blendete Svenja durch die geschlossenen Lieder. Sie schlug die Augen auf. Ein beklemmendes Gefühl begleitete sie bis in die Realität. Die Reste eines schrecklichen Albtraums vernebelten ihren Verstand. An Einzelheiten konnte sie sich nicht mehr erinnerte. Sie rutschte an das Kopfende des Bettes und richtete sich auf. Ihre langen Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Der Traum wollte sie nicht loslassen.

Geschichte 6

Der Succubus
Die mit einem mysteriösen Zeichen versehene Leiche des jungen Adeligen Gioanni Fieramosca führen Bruder Mirandola und Hauptmann Hector Fieramosca in das Rotlichtviertel Bolognas. Während die Ermittlungen des ungleichen Duos immer weitere Details zu Tage fördern, die in keiner Beziehung zu stehen scheinen, gerät Mirandola in die Fänge der Bordellbesitzerin Meridiana. Noch weiß er nicht, dass die attraktive Frau in einem engen Zusammenhang mit Gioanni Fieramsocas Tod steht. Während Mirandolas Gedanken um sein sündiges Verhalten kreisen, erschließen sich Hector Fieramosca weitere Einzelheiten. Doch nur mit vereinten Kräften kann es den beiden Männern gelingen, das Geheimnis des Succubus zu lüften.

Leseprobe:
Sie leugneten. Da stand ich nun, hatte alle Beweise vorgetragen, alle Indizien in Zusammenhang gebracht, so dass jedem Menschen, welcher das Geschenk der Vernunft empfangen hatte gar nicht anders konnte als zu gestehen. Und sie standen da vor ihren Richtern, am Boden festgekettet mit schwerem Eisen, hier in diesem dunklen Verlies fern aller Hoffnung, und leugneten ihre Verbrechen gegen Gott und die heilige Mutter Kirche. Der Großinquisitor hatte den Blick längst von den Ketzern abgewandt und auf mich gerichtet, voller Zorn auf mich, seinen Untergebenen, der das in ihn gesetzte Vertrauen verspielt hatte und dem es nicht gelungen war, ein einfaches Geständnis von drei kümmerlichen Waldensern zu erhalten.
Da stand ich nun, Pico de la Mirandola, vielleicht der erste Mönch, der es gewagt hatte, ein Verfahren vor dem hohen Inquisitionsgericht ohne den Einsatz der Folter zu führen, ich, der ich versucht hatte durch logische Schlussfolgerungen und an den Verstand appelierenden Herleitungen das zu erreichen, für das finstere Gemüter einfach ein glühendes Eisen oder ein Paar Daumenschrauben hinzuholen. Und das alles vergeblich, nur weil diese Narren, zwei Männer und eine Frau, sich trotz der überwältigenden Beweisleist weigerten, ihre Schuld einzugestehen. Und dieses Geständnis braucht es, so steht es in den Gesetzbüchern: ohne ein Geständnis keine Verurteilung. Hätten sich die Ketzer doch nicht geweiegert! Alles könnte vorbei sein für sie, ein einziges mal in das Feuer gehen und danach gereinigt ins Paradies eintreten. Doch nun würde der Großinquisitor sie an dieses Scheußal Bartolomeo übergeben, diese hagere, blasse, kahle Schlange in Menschengestalt, und oh! Er wird sein Geständnis bekommen, das Geständnis, das ich nicht  liefern konnte, und es würde ihm Freude bereiten – auch, weil er mir damit einmal mehr zeigen kann, wessen Methoden die richtigen sind.
Nachdem die drei Inquisitoren die Weiterführung des Prozesses zur Wahrheitsfindung verfügt haben werden die drei Delinquenten von den Wachenin die tieferen Verliese geführt werden, gefolgt von Bartolomeo, der mich höhnisch angrinst. Ich wollte nurnoch weg, raus aus diesem von dicken seelenlosen Mauern umrahmten Gerichtssaal, vorbei an meinen spottenden Ordensbrüdern, nurnoch zurück in meine Kammer, wieder zu meinen Büchern und Abhandlungen. Zu meinem geliebten Aristoteles und zu Platon und , dorthin also, wo alles Sinn ergibt und Ordnung hat, ganz anders als in dieser obskuren Welt hier draußen.
Doch als ich gerade dabei war, das Casa santa zu verlassen, hielt mich ein Bote auf. Ich solle mich unverzüglich zur Residenz von Kardinal Calandrini begeben, er hätte wichtiges mit mir zu besprechen. Beinahe wäre mir das Herz in der Brust stehen geblieben. Konnte der Kardinal etwa schon von meinem Versagen erfahren haben?

Geschichte 7

Frei wie ein Vogel
Avis lebt in Coloterra, einer Region, in der die Menschen lateinische Farbbezeichungen als Namen führen, die sie charakterisieren. Nur Avis, die als junges Mädchen in ein Waisenhaus kam, bildet mit ihrem Namen eine Ausnahme, denn Avis bedeutet Vogel. Zusammen mit ihrer Freundin Lilialba hofft sie, bald dem freudlosen, dunkelgrünen Waisenhaus zu entkommen, da wird Avis tatsächlich als Dienstmädchen im königlichen Palast angestellt. Jedoch verlässt Avis das Waisenhaus mit einem brisanten Geheimnis, denn sie ist in den Besitz eines magischen Steins gekommen, der in ihr eine geheimnisvolle Metamorphose auslöst.

Leseprobe:
Der aufgewirbelte Staub der Straße stieg bis zum offenen Fenster hinauf. Über den Dächern der Stadt ging die Sonne schon langsam unter, malte mit den Wolken ein faszinierendes Farbspiel an den Himmel. Sie ließ die Schatten länger und die Gemüter ruhig und zufrieden werden. Da waren das seidenweiße Fell eines Pferdes, das Funkeln eines Schwertes in der Schmiede gegenüber, flatternde Gewänder eiliger Handwerker, das dumpfe Geräusch von zwei Bierkrügen, die aneinander gestoßen wurden, das Plätschern vom Wasser aus dem Brunnen und das quälend langsame Gehen eines alten Mannes, der Schriftrollen trug. Der warme Wind, der in diesem Sommer außergewöhnlich stark war, fegte dem alten Mann eine der Schriftrollen aus den Armen. Der Magd, die Wasser aus dem Brunnen geholt hatte, kippte der Eimer um und die Straßensteine färbten sich dunkelgrau. Jeder ging seinen Tätigkeiten nach, Tag für Tag.
So wie ich.
Ich strich gedankenverloren mit meinen rauen Fingern über das steinerne Fensterbrett, sah nach draußen, blickte in die teils verdeckten Gesichter der Menschen und fragte mich, was sie wohl dachten. Fragte mich, ob diese Menschen wohl frei waren, oder ob sie genauso gefesselt an ihr Tun und Sein waren wie ich selbst. Ich überlegte weiter, was Freiheit wohl sein könnte. Oft stellte ich mir diese Frage, und kam jedes Mal zu dem gleichen Gedanken: Vögel waren frei. Fast alle Tiere, aber besonders Vögel.
Mein Name war Avis. Es war ein außergewöhnlicher Name, denn die Leute hier waren in der lateinischen Sprache nach Farben benannt. Deshalb wurde der Teil der Welt, in dem ich lebte, Coloterra genannt. Die meisten Menschen konnten Latein, aber sprachen es nicht, und waren nach ihrer Augenfarbe oder der Farbe ihrer Haare benannt. Dabei wurde genau der Farbton beschrieben, zum Beispiel Muscanus, das war Mausgrau, oder Fuscaguttatus, was Braungesprenkelt hieß, oder Lilialba, dies war meine beste Freundin, die nach ihren lilienweißen Haaren benannt wurde. Farben waren in Coloterra sehr wichtig. Haare und Augen hatten hier verschiedenste Farben, die manchmal typisch für einen bestimmten Charakterzug waren. So war mein Name sehr ungewöhnlich, denn Avis bedeutet Vogel. Zu diesem Namen kam ich, weil meine Finder, als sie mich vor dem Waisenhaus abgestellt hatten, mich als „Vögelchen“ bezeichnet hatten. Wenn sie dies nicht getan hätten, würde ich vielleicht Carbomorula, für Kohleschwarz als Beschreibung meiner lockigen Haare, oder passend zu meinen Augen Flavaurata, Gelb mit Gold durchzogen, heißen.
Die verhasste schrille Glocke klingelte durchs Haus, um die Waisenkinder an die Arbeit zu rufen. Ich rutschte vom Sessel am Fenster hinunter, nahm das lange, graue Band von der Sessellehne und band mein Kleid- das eigentlich ein Fetzen von grobem Leinen mit Löchern an den nötigen Stellen war- damit um die Taille fest. Ich rannte aus dem Zimmer und durch das Treppenhaus hinunter in die große Halle des Waisenhauses. Dort nahm ich, wie die vierzehn älteren – die verwaisten Babys hier mussten natürlich noch nicht arbeiten- Waisenkinder in dem Haus auch, meinen Platz in der Reihe ein, um weitere Befehle anzuhören.
Da kam sie auch schon, Planuscana- Glattgrau -, die Herrin des Hauses. Sie war groß, hager und trug nie Kleidung einer anderen Farbe als dunkelgrün und schwarz. Unter der dunkelgrünen Haube lugten immer glatte Strähnen grauen Haares hervor, was sie mit den fahlen Augen ihm Gesamtbild hässlich, kalt und schlecht gelaunt aussehen ließ. Es war alles in dem Waisenhaus mit dunkelgrünen Möbeln und Wänden ausgestattet, was jedem dort Lebenden ungemein auf die Nerven ging, außer ihr selbst. Planuscana kam herein, mit strengem Gesicht, und beäugte jeden einzelnen von uns, so wie sie es öfter zu tun pflegte. Sie hatte einen äußerst unangenehmen Blick, dem man sich kaum zu entziehen vermochte.
„Mädchen“, herablassend und hoch kam ihre Stimme ans Ohr, „Wir bekommen in zwei Tagen Besuch. Ein hoher Gast. Die Wichtigkeit dieses Kommens könnt ihr womöglich nur erahnen. Die oberste Hausfrau des königlichen Palastes hat ihr Kommen angekündigt, um drei von euch als Dienstmädchen im Palast einzustellen.“
Die Überraschung war groß. Alle waren aufgeregt, sehr erfreut erwarteten wir die nächsten Worte von Planuscana.
„Ihr werdet das gesamte Haus putzen, vor allem natürlich diese Halle. Dies tut ihr heute und morgen bis zur Mittagsstunde. Dann werdet ihr euch gründlich waschen, damit ihr am folgenden Tag möglichst  ansehnlich vorzuführen seid. Auf, auf!“

Geschichte 8

Isfrenors Fluch
Isfrenor ist wild entschlossen, die Drachin Daffnur endgültig zu töten, die schon lange eine gefährliche Feindin seines Dorfes ist. Um den Gegner zu besiegen, fliegt Isfrenor über die Wälder, Berge und Täler, denn er ist ein Flügelmensch. Doch muss er nicht nur erkennen, dass die Drachin sich immer wieder erfolgreich seinen Angriffen entzieht. Obendrein muss er sich auch noch mit dem vorlauten Nachtalb Trogul um den Drachen streiten. Für die kleine Kreatur ist die Tötung Daffnurs eine Initiationsprüfung mit einem unabsehbaren Ausgang.

Leseprobe:
Krachend splitterten und knickten junge Bäume, als der große Lindwurm sich hastig das Tal hinab wälzte. Immer wieder verschwand er unter der Vegetation oder hinter steilen Felsnadeln. Isfrenor schlug aufgerichtet mit seinen Schwingen auf der Stelle, um die Flucht besser beobachten zu können. Den ganzen Tag hatte er Daffnur schon verfolgt und auf seine Gelegenheit gehofft, der alten verschlagenen Drachin an die Kehle gehen zu können. Doch immer wieder war sie ihm entwischt. Mit ihrem grünen Feuer wäre es ihr fast gelungen Isfrenors rote Schwungfedern in Brand zu stecken. Seine roten langen Haare rochen angesengt und auch sein einfaches, sandfarbenes Hemd und seine Hose sahen schon reichlich mitgenommen aus. Gut, dass Sabueichen nicht so leicht brannten. Der ganze Wald stünde in Flammen. Die Drachin war ein alter Feind seines Dorfes. Zu oft schon grub sie ihre Zähne in ihr Vieh oder unvorsichtige Kinder und Frauen, die sie sich aus den Bäumen griff und gierig verschlang. Das machte dem alten Dämon Spaß! Doch damit würde nun ein für alle Mal Schluss sein. Das hatte sich Isfrenor geschworen, als er am Morgen zufällig ihren Weg gekreuzt hatte. Sicher wollte Daffnur das Tal durchqueren! Indem er sich nach vorne beugte, begab sich Isfrenor in einen Sturzflug, um der Bestie den Weg abzuschneiden. Doch plötzlich war die Drachin zwischen Büschen und Bäumen verschwunden. Erneut in der Luft stehen bleibend, suchten Isfrenors rote Augen nach dem listenreichen Feind. Kein Knacken, kein Rascheln war zu vernehmen, wenn der zwanzig Schritt lange Feuerwurm sich einen Baum emporwand, um dann blitzschnell seine mit spitzen Zähnen bewaffneten Kiefer um sein Opfer zu schließen. Eine ebensolche Totenstille herrschte nun. Die Luft anhaltend drehte sich Isfrenor mit kräftigem Flügelschlag mehrfach um sich selbst. Er befand sich gerade eben über den Wipfeln der alten Bäume. Ein kleines Felsplateau ragte, einem Wachturm gleich, aus dem grünen Meer. Nichts drang in seine Ohren als das Rauschen des Windes unter seinen Flügeln. Nichts war zu riechen, als die süße Würze der Romuschblüten, nichts zu sehen, als das üppige Grün des Waldes und die Felsnadeln, die in dieser Gegend blau und weiß gebändert in den letzten Strahlen der tiefstehenden Sonne glitzerten. Isfrenors Finger schlossen sich fester um den breiten Griff seines langen, gebogenen Säbeldolches. Ein großer, blauer Konkäfer brummte schwerfällig an ihm vorbei und lenkte für den Bruchteil einer Sekunde seine Aufmerksamkeit ab.

Geschichte 9

Das Schattentor
Bei ihrer Flucht nimmt Ilena, Braut von Cathal, ein besonderes wertvolles Schmuckstück mit sich: das heilige Medaillon. Nicht seine Beschaffenheit macht den Anhänger so begehrt, sondern seine Eigenschaft, durch die die Bestien der Tiefe im Dämmerschlaf gehalten werden. Durch den Diebstahl erwachen die Bestien zu neuem Leben und Cathal sieht sich die Gefährlichen Aufgabe gegenüber, seine Braut aufzuhalten und die Bestien davon abzuhalten, das Schattentor zu erreichen. Wird es ihm gelingen, den Untergang Kin’ghays zu verhindern?

Leseprobe:
Als Cathal auf den Balkon trat, tauchten die Zwillingssonnen über den Gipfeln des Aldtas Gebirgszugs auf. Kühle Luft fuhr unter seinen Wollumhang und ließ ihn frösteln. Laute Rufe, Hufgetrappel und Stiefelschritte hallten zu Cathal hinauf. Das leise Rascheln hinter ihm ging fast darin unter.
„Wie viele Wachen hat sie getötet?“, fragte er, ohne sich umzudrehen.
„Fünf, mein Prinz, und den Stallburschen. Er war erst sieben Jahre alt.“ Die Stimme des befehlshabenden Offiziers verriet unterdrückte Wut.
Cathal schloss die Augen und kämpfte für ein paar Augenblicke mit seinen Gefühlen. Noch vor einer Stunde lag er träumend im Bett. Ein verliebter Narr, dessen Sehnsucht viel zu glückliche Bilder einer Zukunft malte, die nun mit Blut hinfort gewaschen worden war. Seiner Dummheit fielen sechs unschuldige Menschen zum Opfer. Auch wenn er nicht das Messer geführt hatte, er hatte der Mörderin die Tür geöffnet.
Fest presste er die Zähne aufeinander, bis der Unterkiefer schmerzte. Cathals Finger krallten sich um das Schwertheft. Für einen Herzschlag schlich sich ein Lächeln in sein Gesicht. Er benötigte keinen Spiegel, um zu wissen, dass es kalt wirkte. Der Gedanke, wessen Blut die Klinge als Erstes kosten würde, dämpfte für einen Moment Cathals Zorn. Mochte es eine Ironie des Schicksals sein, dass seine Braut ihm das Schwert gestern schenkte und nun durch ihr eigenes Geschenk den Tod finden würde.
„Sie ist mit einem Pferd geflohen?“, fragte er leise und öffnete die Augen. Seine Stimme klang gelassen, verriet nichts von der Wut in seinen Adern, die mit jedem Herzschlag durch seinen Körper gepumpt wurde.
„Nein, sie hat eins der kleineren Luftschiffe genommen, ein Zweites wird ebenfalls vermisst. Sie wollte nur …“
Bitter lachte er auf. „Lass mich raten. Sie wollte das Zaumzeug und den Sattel meines Hengstes.
„Ja, mein Prinz.“
Cathal runzelte die Stirn und hob die linke Hand. Als er die Finger öffnete, spiegelte sich die Morgensonne auf dem Diamantcollier wider, das eigentlich in drei Tagen den Hals seine Braut hatte zieren sollen.
Nachdenklich kniff Cathal die Augen zusammen. Warum stahl Ilena Zaum und Sattel seines Rappen? Als zukünftige Königin erwartete sie neben Macht unvergleichlicher Reichtum. Auch wenn das Leder punziert und mit Goldauflagen verziert war, so entsprach beides lange nicht dem Wert, den die Schatzkammer des Schlosses beherbergte.
Jäh fröstelte es Cathal.
„Was hat sie noch gestohlen?“
Hinter ihm atmete Hinas tief ein. „Den Schmuck Eurer kleinen Schwester und … das heilige Medaillon.“
„Sie hat was?“, brüllte Cathal und wirbelte herum. Jeder in Kin’ghay wusste, dass kein weibliches Wesen das Schmuckstück berühren durfte. Es war nicht geschaffen worden, um das Dekolleté einer Dame zu verschönern, sondern um die Bestien der Tiefe in ihrem seit Jahrhunderten anhaltenden Dämmerungsschlaf zu halten.

Geschichte 10

Ranya und Lucien von Sallestra
Hoch oben in den Drachenbergen liegt Sallestra, ein Ort, an welchem die Gesellschaft von Frauen regiert wird. Dort werden sich Geschichten erzählt, die von den Wilden handeln und sowohl Erwachsene wie auch Kinder erschrecken. Demnach herrschen bei den Wilden, die tief im Wald leben, die Männer und unterdrücken die Frauen mit Brutalität und Barbarei. Doch stimmen diese Berichte und trennt die Völker wirklich ein so großer Abgrund? Und wie reagieren die Sallestraner, wenn eine ihrer angesehensten Frauen ein Kind erwartet – von einem Wilden?

Leseprobe:
Diese Geschichte, die du im Folgenden lesen wirst, ist alles andere als erfreulich. Ich schnappte sie bei einer meiner unzähligen Reisen durch die magischen Lande auf und wollte sie nun, da ich wohl nicht mehr lange zu leben habe, niederschreiben, damit auch die Nachwelt am Schicksal der Leute, die darin vorkommen, Teil haben kann. Natürlich kann es bei solchen Nacherzählungen immer sein, dass einiges dazu erfunden oder Dinge verfälscht wurden, dennoch enthält diese Geschichte viele wahre Ereignisse, die ich selbst, getrieben von Neugier und meinem unersättlichen Wissensdrang, nachprüfte.
Das Land, die Städte, die Personen und vor allem auch die Schlachten hat es vor mehreren Jahrhunderten wirklich gegeben, gerieten jedoch nach vielen aufeinanderfolgenden Unglücken und Missgeschicken in Vergessenheit. Nur diese eine seltsame, fesselnde und tragische Liebesgeschichte, die blieb vielen Wesen, die ich in dieser Umgebung, die man einst Sallestra nannte, traf, in Erinnerung.
Nun, ich möchte nicht mehr all zu viel dazu sagen, denn es kann für die Leser äußerst nervtötend sein, ein ellenlanges oder gar tausend-seitiges Vorwort zu lesen. Nur eins noch: Wer diese Geschichte hören, beziehungsweise lesen will, braucht starke Nerven und Verständnis für die damalige Zeit und deren Bräuche und Sitten.
Kurz um: Wer jetzt schon keine Lust mehr hat, wer weiß, dass er nach zehn Seiten nicht mehr kann oder wem schon das Frühstück, Mittagessen, etc. hochkommt, der hört jetzt besser auf! Allen anderen, die noch den Mut haben, weiterzulesen, wünsche ich viel Spaß, auch wenn das in diesem Fall eher nicht zutrifft, es sei denn, man erfreut sich gerne am Unglück Anderer, und verabschiede mich hiermit.

 Herzlichst,
Lucinda Knauzer-Buckl

 PS: Ich entschuldige mich schon jetzt dafür, dass ich viel zu viele Informationen einfach so einwerfe, sie auslasse oder zu spät hinzufüge, aber das Alter macht einen nun mal vergesslich… Diejenigen, die jetzt verständnisvoll mit dem Kopf nicken, die wissen ganz bestimmt, wie das manchmal so ist, wenn man älter und schusseliger wird.

 PPS: Für die, die mich nicht kennen, könnte es etwas schwierig sein, dies hier zu lesen, da ich die unangenehme Eigenschaft habe, viel zu lange Sätze zu machen. Es tut mir leid, aber so ist das nun mal bei mir…

 Um die eigentliche Geschichte zu erzählen, muss ich ein wenig früher ansetzen, da du sie sonst vermutlich irgendwann nicht verstehen würdest.
Also, alles beginnt auf einem weiten Felsplateau hoch oben in den Drachenbergen, die es leider nicht mehr wirklich gibt, aber dazu später mehr.
Dort auf der Ebene kämpften zwei in Rüstungen gekleidete Wesen mit blankpolierten Waffen, die, immer wenn sie aufeinanderprallten, laut Klirrten, so dass es von den Bergwänden und Felssäulen, die weit in den strahlend blauen Himmel ragten, widerhallte und es sich für einen Blinden oder für jemanden, der mit geschlossenen Augen durch die vielen kleinen Täler rings um die Berge herum wanderte, so anhörte, als würden dort oben ganze Heerscharen die Klingen kreuzen.
Jeden Tag konnte man den beiden Kämpfern bei ihrem eisernen Training, das schon sehr früh vor Sonnenaufgang begann, zusehen und zuhören. Manchmal kamen andere Soldaten hinzu, um es den beiden gleich zu tun, doch eigentlich waren sie immer allein dort oben. Der Boden des Plateaus bestand zum größten Teil aus Geröll und Staub, nur vereinzelt spitze mal ein kleines Pflänzchen aus dem steinigen Boden, das, wenn es Pech hatte, von den Füßen der Krieger zertrampelt wurde. Schon immer, so heißt es in einigen uralten noch erhaltenen Schriftstücken, sollen dort oben zwei Wesen gemeinsam für einen Kampf trainiert haben, der für die beiden, um die es gerade eben ging, noch in weiter Ferne zu sein schien. Dennoch machten sie sich jeden Tag auf den Weg dort hinauf und übten und übten und übten. Nur Mittags, kurz bevor sie wieder hinunter stiegen, um anderen wichtigen Verpflichtungen nach zu gehen, machten sie eine Pause. So auch zu diesem besagten Tage.

Geschichte 11

Oswald
Nach eine heftigen Streit mit seiner zielstrebigen Freundin Sabina nimmt sich der idealistische Oswald eine kleine Holzfigur zu Herzen, die er kurz zuvor auf einem Flohmarkt erstanden hat. Nur einen einzigen Wunsch möchte er aussprechen; endlich in Frieden und Geborgenheit zu leben, an einem Platz ohne Ärger. Auf seinen Gedanken folgt ein abrupter Ortswechsel und Oswald meint, sich eben in diesem Paradies wiederzufinden. Als Oswald auf die zarte Waldfrau Mirnai trifft, scheint sein Glück perfekt. Bald beginnt er aber, sich nach seiner Heimat zu sehen, doch der Rückweg gestaltet sich keineswegs so leicht und ungefährlich wie gedacht.

Leseprobe:
Oswald fluchte leise vor sich hin, obwohl er für gewöhnlich ein äußerst geduldiger Mensch war. Sich an diesem verregneten Morgen auf Einkaufstour zu befinden, das war wirklich kein Vergnügen!
In den Läden drängten die Hausfrauen. Sie verwickelten sich in Gespräche, damit sie nicht so schnell gezwungen waren, wieder nach draußen in den Nieselregen treten zu müssen. In jedem Geschäft mußte er darauf warten, bedient zu werden, nur weil eine Kundin vor ihm sich über das Wetter ausließ, oder darüber, ob sie besser Schnitzel oder Kotelett zu Mittag kochen solle. Oswald legte seiner Ungeduld Zügel an. In der Metzgerei, bei der Gemüsefrau, an der Kasse des kleinen aber feinen Supermarktes. In der Bäckerei dann wurde der zögerliche Versuch, sich vorzudrängen, von einer fülligen Hausfrau resolut vereitelt: „Junger Mann, ich bin noch nicht fertig mit meiner Bestellung! Würden Sie vielleicht solange warten, bis Sie an die Reihe kommen?“
Betroffen zog er sich zurück und wartete, bis er nach seinen Wünschen gefragt wurde. Glücklicherweise war die Bäckerei das letzte Geschäft, das er aufsuchen wollte. Alles andere, was er für ein gemütliches und ausgefallenes Abendessen mit seiner Freundin benötigte, hatte er bereits eingekauft. Den Fisch, das Gemüse – in drei Geschäften hatte er nachfragen müssen, bis er endlich den Fenchel gefunden hatte, den er als Beilage servieren wollte. Handverlesene Biokartoffeln aus seinem Stammlädchen befanden sich im Korb und eine Flasche guten Rotweins, der das Essen abrunden sollte.
Oswald freute sich auf den Abend, denn er hoffte, seine Freundin endlich auf andere Gedanken bringen zu können. Seit Wochen sprach Sabina nur noch über ihre Arbeit und ihre Karriere. Ihm dagegen schwebte vor, ihr vorzuschlagen, mal wieder einen Urlaub ihm Süden zu machen. In Italien vielleicht, oder in Griechenland. Die Seele an einem sonnigen Strand baumeln zu lassen, und sich zwischendurch, wenn es zu langweilig wurde, altes Gemäuer anzusehen oder ein Museum zu besuchen. So wie früher eben.
Während er darauf wartete, bedient zu werden, hing er Erinnerungen an die Zeit nach, in der sie beide die Länder rund ums Mittelmeer durchstreift hatten. Aber das war lang her und ob Sabina heute ihre Bankfiliale, in der sie nach dem Posten des Abteilungsleiters – Entschuldigung, Abteilungsleiterin – strebte, auch nur für eine Woche eingeschobenen Kurzurlaub verlassen wollte? Der Zweifel daran trübte Oswalds Stimmung.
Dann war er an der Reihe, erstand seine Baguette und machte sich auf den Heimweg.
Der klebrige Dauerregen hatte inzwischen eine Pause eingelegt, und die Straße füllte sich mit Menschen. Auch auf dem kleinen Platz, den Oswald überqueren musste, quirlten Leute herum, denn diesem Morgen fand, wie regelmäßig an diesem Wochentag, ein Flohmarkt statt. Und da es so aussah, als könnte sogar die Sonne ein wenig herauskommen, hatten die Händler ihre Plastikplanen von den Auslagen entfernt, um ihren Kunden freien Blick auf die Waren gewähren zu können. Oswald verfiel ins Schlendern. Zum einen, weil die Einkäufe ihr Gewicht hatten, zum anderen, weil ihn die Ansammlung von alten Haushaltsgegenständen, verstaubten Büchern und Pseudoantiquitäten gerade dieses Marktes jedes Mal aufs Neue faszinierte.

Geschichte 12

Das Zwischenreich
Gerade noch in der Burgruine der von Gleichaus, finden sich die Jugendlichen Holger, Maria und Nilas nun als Gefangene in einer Wüstenlandschaft wieder, die sie für Feinde halten. Doch schon bald erkennen die Krieger, dass die Jugendlichen nicht aus dem verfeindeten Land des Eises stammen, sondern aus einer anderen Welt kommen. Bald wird Nilas zum Gefangenen der Eiskriegerinnen, wird es seinen Freunden gelingen, ihn zu retten, oder geht die Gefahr gar nicht vom Eisvolk aus?

Leseprobe:
„Holger, sollen wir über den Zaun klettern? Das ist doch ein Einbruch?“ Maria blickte nach allen Seiten und strich sich durch ihre schulterlangen braunen Haare. Holger grinste breit: „Du hast die Alte gehört. In dem Eiskeller wartet ein Geheimnis auf uns.“ Nun mischte sich Nilas ein: „Und weil eine Hexe das behauptet, verübst Du ein Verbrechen?“
Statt einer Antwort zwickte Holger mit einer Zange ein Loch in den verrosteten Zaun und bog das Gitter zur Seite. Er zwängte sich durch die Öffnung: „Kommt ihr jetzt? Sonst könnt ihr abhauen.“ Mit einem leichten Seufzer drückte sich Maria hindurch und Nilas folgte ihr. Geduckt huschten die drei Schüler der Abiturklasse zu dem roh gemauerten Bauwerk. Über den Baumwipfeln thronten die Reste der Burg derer von Gleichau. „Weshalb ist die Tür angelehnt?“ Mit verstellter Stimme nuschelte Holger: „Das war der Geist des alten Herzogs.“ Ohne zu zögern stiegen die Jugendlichen die Stufen nach unten. Nilas rutschte aus und schrammte sich die Hand an der Wand auf. Sie erreichten einen quadratischen Raum mit zwei Türen. Holger riss die rechte Tür auf: „Mensch, das ist ja eine Kugel!“ Nilas lächelte: „Das ist ein Zylinder. Genauer gesagt: ein gerader Kreiszylinder.“ Holger explodierte: „Wen interessiert dieser Mist?“ Maria legte ihre Hand auf Holgers Schulter: „Beruhige Dich. In Mathe schreibe ich von Nilas ab.“
Holger brummte: „Wen interessiert die blöde Schule.“ „Manche schon“, lächelte Nilas, „was soll hier so Besonderes sein?“ Drei Taschenlampen tauchten den Raum in gespenstisches Licht. Maria wiegte den Kopf: „Nur zwei alte Flaschen. Trotzdem gefällt es mir hier.“ Ein großer Schritt und Holger stand bei den Glasbehältern: „Du genießt es, mit zwei Männern hier zu sein?“ Marias Lächeln fror ein. Holger fügte hinzu: „Alleine mit zwei Mädels, würde mir auch gefallen.“ Nilas meinte kühl: „Claudia und Andrea?“ Holger lachte: „Niemals. Die schnappen sich jeden Typen, der nicht bei drei auf den Bäumen ist. Zwei Blondinen halt.“ Nilas brummte: „Wenn Du in der Schule nur halb so erfolgreich wärst wie bei den Frauen, hättest Du keine zwei Ehrenrunden gedreht.“ Maria griff Holgers Hand: „Lass Dich nicht ärgern. Da spricht die Eifersucht.“ Statt einer Antwort ergriff Holger die Flaschen. Nilas schrie: „Vorsicht. Die Dinger sind alt.“ Zu spät. Die Glasbehälter zerbrachen in tausend Scherben. Blaue und gelbe Flüssigkeiten vermischten sich und Grüner Rauch erfüllte den Raum. Die Drei sanken benommen auf den kühlen Boden.

„Aufwachen. Faules Pack. Ihr habt lange genug geschlafen.“
Nilas schlug die Augen auf. Sie lagen auf sandigem Boden. Wo waren sie denn gelandet? Vor ihnen bauten sich mehrere Frauen und Männer auf, gekleidet in leichte Rüstungen. Holger erhob sich und griff einer Kriegerin an den Lederrock: „Nettes Kostüm. Was ist das für eine Mottoparty?“ Die Frau schlug ihm hart auf die Hand. Alle Krieger richteten ihre Speere auf die Drei. „Mitkommen.“
Die Kämpfer führten sie durch eine Wüste. Maria sprang zur Seite. Vor ihr richtete sich ein Skorpion auf, mit einer Länge von mindestens 50 Zentimetern. Ohne mit der Wimper zu zucken, rammte ein Krieger seinen Speer durch das Tier. Es zappelte einen Moment, dann war es tot. Lässig hielt er den Speer mit dem Skorpion vor Marias Gesicht. Lässig streifte er den Kadaver ab. Dankbar lächelte Maria den Krieger an. „War mir eine Ehre. Mein Name ist Erg.“
Maria versuchte, sich an Erg zu drücken, streichelte seine Armmuskeln. Selbst Holger war nun Luft für sie. Die Hitze presste den Schweiß aus den Jugendlichen. Zum Glück breitete sich ein grüner Streifen am Horizont aus. Eine Oase! Die Drei atmeten tief durch. Die Qual hatte ein Ende. Sie wurden durch mehrere Reihen von Rundhütten geführt. Auf einem achteckigen Platz waren Käfige aufgebaut. Maria stupste Erg an: „Welche Tiere haltet ihr?“ Der Krieger antwortete: „Euch.“
Die Türen schlossen sich hinter den Jugendlichen. Nilas war verzweifelt: „Was habt ihr mit uns vor? Wir sind friedlich.“
Eine Kriegerin richtete ihren Speer auf Nilas: „In Zeiten des Krieges ist jeder Fremde ein Feind. Wir holen unsere Zauberin. Die sagt uns, was wir mit Euch tun sollen.“
Die Minuten zogen sich zäh wie warmer Asphalt. Die Sonne verbrannte die Haut der Gefangenen, die sich auf den Boden kauerten.

Geschichte 13

Die Wette
Es sind höhere Kräfte am Werk: die Hoffnung und das Glück schließen eine Wette ab. Tim, ein junger Mann von 21 Jahren, soll von seinem baldigen Tod verschont werden, falls es der Hoffnung gelingt, ihn zur Bewältigung zahlreicher Probleme und Aufgaben anzuspornen. Dafür muss die Hoffnung Tim zunächst einmal seine Selbstmordabsichten ausreden, die der melancholische und liebeskranke Tim hegt. Doch auch mit neu gewonnener Zuversicht wird Tim eine ganze Menge Hoffnung und Glück brauchen, um gegen mächtige Gefahren wie etwa den Tigergreif Xero zu bestehen.

Leseprobe:
Anno 2012 im Nirgendwo bangte die Hoffnung um ihren Einfluss auf die Irdischen. Zum wiederholten Mal hatte sie eins ihrer Sorgenkinder an den Sensenmann verloren. Er triumphierte und verspottete die Hoffnung, dass sie unfähig sei, um den Verzweifelten auch nur den Hauch einer Perspektive einzuimpfen. Er riet ihr sogar abzudanken. Davon wollte die Hoffnung nichts wissen und wandte sich an das Glück: „Offenbare wenigstens Tim seine wahre Begabung, die du ihm verliehen hast! Statt sie zu begreifen, löst er sich eher aus Schwermut vom Leben.“
„Warum sollte ich das tun?“ wies das Glück den Wunsch der Hoffnung ab und hielt ihr vor: „Er ist ständig unzufrieden, missachtet alle Herrlichkeit auf Erden, tyrannisiert seine Freundin mit seiner Eifersucht, und zweifelt an mir.“
„Mit einundzwanzig ist er für den Sensenmann doch noch zu jung. Sei nicht so unbelehrbar und lass uns Verbündete werden!“, beschwor die Hoffnung es. Nachdenklich und auch ein wenig skeptisch blickte das Glück sie an. Schließlich erwiderte es: „Na, gut. Wenn er alle Übel, die ich ihm aufbürde, bezwingt und endlich meine Gabe nutzt, mit der ich ihn beschenkt habe, dann erfülle ich deinen Wunsch. Wetten, dass du ihn nicht dazu anspornen kannst?“ „Topp, die Wette gilt!“, stimmte die Hoffnung erfreut dem Vorschlag zu, denn sie wollte Tim nicht aufgeben und überhörte die Sticheleien des Sensenmanns. Sogleich begab sich sie zu ihrem
Schützling, der im Morgengrauen auf einer Brücke stand und nichts von dem Abkommen ahnte.
Seit der Trennung von Julia versank Tim immer mehr im Trübsinn. Er fühlte sich vor Sehnen krank und dürstete ungeliebt in die lächelnde Welt, denn mit Julia wollte er zur Sonnenseite aufbrechen. Mitunter hörte er aus der Ferne ihre glockenhelle Stimme, verzehrte sich nach ihrer Zärtlichkeit und verfluchte seinen Traum vom Glück mit ihr. Seitdem schaute er nur noch hoch zum Himmelszelt, wenn die Sterne im Zwielicht verblassten und sein Sehnsuchtsland am Himmelsufer vom Morgenrot übergossen glühte. Seinen Aufbruch dorthin quälte allein der Seelenschmerz um die, die er immer noch liebte. Würde auch sie ihn verdammen? Und all die anderen, die vorgaben, ihn samt seiner melancholischen Sehnsucht, seinen zermürbenden Zweifeln, seinen unerklärbaren Träumen aufrichtig zugetan zu sein? Sie redeten Liebesworte und wussten selbst nicht, dass sie logen. Allein Julia fühlte deutlich, dass seine Seele weinte, wenn sein Mund lachte. Ein einziges Mal hatte Tim ihr seine Ängste offenbart und begriff zu spät, dass dadurch ihre Liebe zu ihm im Betrug verdorrte. Nun war sein Blick traumverloren und ohne Ziel. Noch einmal spürte er flüchtig die Dornen, die Nacht und das Weh, und dann war alles fort, was er je gelitten hatte. Gelassen schweifte sein Blick übers Land, und langsam löschte Tim in sich alle Lichter aus und setzte seinen Fuß auf jene Schwelle, über die keiner gehen kann, der die Absicht hatte, wiederzukehren.
„Halt!”, prasselte es auf einmal von irgendwoher als dreifaches Echo auf ihn nieder. Erschrocken hielt er inne und forschte: „Wer verlangt das?“
„Die Hoffnung. Irgendwo erwartet dich dein Glück. Suche es!

Geschichte 14

Aus dem Schatten heraus
Sophie trifft wenige Tage vor ihrer Vermählung auf einen geheimnisvollen Mann, der sie sofort mit seinem Charme betört. Was sie nicht weiß; er ist einer der mächtigsten Schattenvampire und nur an ihrem Blut interessiert. Sie überlebt den Biss und wird zur Abtrünnigen. Ein Vampir, der Vampire jagt. An einem schicksalhaften Tag erhält sie mit einmal unerwartet Hilfe von einem jungen Krieger der Nuskuanhänger. Aber dessen Mentor hat sich auf einmal mit dem Bösen verbündet.

Leseprobe:
Stöhnend schloss Sophie ihre Augen. Sie gab sich der wachsenden Leidenschaft mit all ihren Sinnen hin. Sanfte Lippen liebkosten ihre rosigen Wangen, den zierlichen Mund und wanderten, eine heiße Spur hinterlassend, am Hals langsam hinab zu ihren nackten Brüsten. Keuchend bäumte Sophie sich auf und lauschte auf den immer schneller werdenden Rhythmus ihres Herzens. Starke Hände massierten ihren Körper, entlockten ihrer Kehle Laute des Glücks. Ihr Bettgespiele trug sie mit seinen zärtlichen Berührungen auf dem flammenden Schweif des Liebesspiels immer höher und höher hinauf auf den Vulkan der ungezügelten Lust.
Während seine Hände unverschämt zwischen ihrem Schritt innehielten, glaubte sie sich nicht mehr länger beherrschen zu können. Sie wollte ihn spüren, mehr noch, sie wollte ihn verschlingen, ihn lieben, wie sie niemals zuvor einen Mann geliebt hatte. Dabei kannte sie nicht einmal seinen Namen. Aber wer brauchte schon einen Namen, wenn ein heißblütiger Liebhaber ihr die kalte Nacht versüßte.
Plötzlich änderten sich seine Berührungen. Er streichelte sie nicht mehr liebevoll, er packte sie schroff an den Schultern und blies ihr seinen heißem Atem, der nach Rotwein roch, ins Gesicht. Verwirrt riss Sophie die Augen und starrte mitten in die groteske Maske eines plötzlichen Albtraums.
Seine warmen und attraktiven Gesichtszüge waren unerwartet etwas Dunklem und Bösem gewichen. Etwas, dass sie nicht mehr als menschlich bezeichnete. Die blasse Haut glänzte im Kerzenlicht auf einmal grau, fast schon schwarz. Zwei blutrote Augen beobachteten sie erregt. Sie besaßen keine Pupillen, doch in ihnen funkelten der Tod und eine befremdliche Heiterkeit. Im gleichen Augenblick legte sich die unsichtbare Schlinge des Todesengels um ihren Hals.
Hektisch schnappte sie nach Luft. Ihr Herz hämmerte vor Angst wie wild in ihrer Brust. Sie war wie gelähmt. Die Leidenschaft und der unwiderliche Charme, mit dem sie ihrem Bettgespielen eben im Paradies der Lust frönte, waren verschwunden. Sie zitterte am ganzen Leib. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie auf seine bläulichen Lippen, die zu einem boshaften Lächeln verzogen waren und zwei scharfe Eckzähne entblößten. Er hatte alles von seiner bemerkenswerten Attraktivität verloren, nun blickte sie ins Antlitz eines Ungeheuers.
Sophie wollte um Hilfe rufen, aber die Stimmbänder versagten kläglich ihren Dienst. Es war, als hätte sie keine Stimme mehr, nur ein leises Wimmern brach hervor.
„Meine schöne Blume“, flüsterte er heiser. „Du bist meines Blutes würdig. Lebe mit mir ein Leben im Schatten und niemals wieder werden dich Krankheiten oder Nöte heimsuchen. Die Jahre werden an dir vorüberziehen, aber du wirst immer diese wunderschöne weiße Lilie sein.“
Bestürzt und argwöhnisch sah sie ihn an.
Was hatten diese Worte zu bedeuten? Plötzlich ahnte Sophie, mit wem sie ihr Schlafgemach teilte, obwohl ihr Verstand es nicht wahrhaben wollte. Es schien lächerlich. Aber sie träumte nicht. Ihr Liebhaber war eines jener Monster, die einem Menschen nachts das Blut aussaugten, so wie es in den alten Legenden immer erzählt wurde. Ein dummes Ammenmärchen war zum Leben erwacht.
Hilflos war Sophie dem Vampir ausgeliefert. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, aber sterben wollte sie auch nicht. Daher nahm sie all ihren Mut zusammen und presste zwischen ihren bebenden Lippen hervor: „Wer … wer bist du? Was hast du vor? Wenn du mich töten willst, dann tu es, jetzt. Ich … ich bin … bereit.“
Als Antwort lachte er und ließ von Sophie ab. „Niemand ist jemals für den Tod bereit. Er schleicht sich widerwärtig und feige von hinten an seine Opfer heran und raubt ihnen die Seele.“ Er lachte wieder. „Hätte ich dich töten wollen, meine weiße Lilie, hätte ich mir dein Blut schon längst genommen. Ich möchte dich lebend. Deine Schönheit ist viel zu kostbar, um sie verwelken zu lassen. Also frage ich dich ein letztes Mal, möchtest du mit mir leben und den Staub des Menschseins vergessen?“
„W … w … was?“, stammelte sie und klammerte sich verzweifelt am Bettlaken fest. Dass sie nackt war und er sie mit einem seltsamen Blick musterte, der nach Hunger und Gier lechzte, interessierte sie nicht. „Wer bist du?“ Mehr brachte sie nicht heraus.
Der Vampir grinste dämonisch, was ihn attraktiver erscheinen ließ, anstatt abschreckend zu wirken. Seelenruhig stand er auf und zog sich die schwarze Lederhose, sein weißes Seidenhemd und die dunkelbraunen Lederstiefel an. Da der lustvolle Moment schon seit Minuten verflogen war, lauschte er dabei aufmerksam Sophies Gedanken, die sich vor panischer Angst überschlugen. Sie war bereit für den nächsten Schritt seines Planes.
Sophie Linney war kein wahllos ausgesuchtes Opfer. Sie stellte für ihn eine große Gefahr dar und musste um jeden Preis ausgeschaltet werden. Sein Vorteil war, dass er schneller gewesen war als seine Nemesis, während sie so unwissend war wie ein kleines Kind. Er konnte sich glücklich schätzen, Sophie rechtzeitig gefunden zu haben.
„Nun, deine Entscheidung scheint gefallen zu sein“, sagte er schließlich triumphierend und wandte sich der strohblonden Schönheit zu. Sie lag reglos im Bett und stierte ihn immer noch konsterniert und ängstlich an. „Keine Angst“, beschwichtigte er sie ruhig. Ich kann deine Gedanken genauso gut hören, als würdest du sie laut aussprechen. Freue dich auf dein neues Leben im Schatten. Deine Wahl war die Richtige.“
Kaum war das letzte Wort ausgesprochen, überbrückte er die kurze Distanz zwischen Sophie und sich. Wie ein jagender Tiger stürzte er sich auf sie und vergrub seine spitzen Eckzähne im zarten Fleisch ihres schmalen Halses.
Sophie schrie. Sie schrie vor Angst, Schmerz und Verzweiflung. Und endlich konnte sie sich wieder bewegen. Die Starre fiel von ihr ab. Mit Händen und Füßen versuchte sie den Vampir abzuwehren, ihn von sich zu stoßen. Er wiederum besaß unglaubliche Stärke und ignorierte ihren Überlebenskampf. Und plötzlich wurde es Sophie schwindlig, ihre Kräfte verließen sie und nach und nach hörte sie auf um sich zu schlagen und das Blutmonster zu bekämpfen. Ein trüber Schleier vernebelte ihren Blick, dann wurde alles schwarz um sie herum. Mit einem leisen Seufzer glitt sie in eine tiefe Ohnmacht.

Geschichte 15

Liebe ist (k) eine Hexerei
Die 22-jährige Mona ist Hexe und Jungfrau. Sie beschließt, den Zustand der Jungfräulichkeit zu beenden. Dazu muss ein Übungsmann her, denn an einer echten Beziehung ist Mona nicht interessiert. Also zaubert sie ein bisschen, bis sie tatsächlich im Zauberland auf ihren Übungsmann trifft. Die Übungen verlaufen erfolgreich. Mona ist bereit für einen echten Mann, den sie alsbald in Form des äußerst charmanten und erfolgreichen Peter trifft. Kurz vor der Hochzeit jedoch läuft alles aus dem Ruder.

Leseprobe:
Erst Gestöhne und dann Geschrei. Sie war versucht, hinüberzugehen und zu klingeln, um ihre Nachbarn über die korrekte Reihenfolge aufzuklären: Für gewöhnlich folgte auf Streit heftiger Versöhnungssex.
Nicht, dass sie besonders erfahren war, was solche Sachen anging. Ihr Wissen stützte sich im Wesentlichen auf die Lektüre von Liebesromanen und Beziehungsratgebern. Seit ihrer Teenagerzeit las sie solche Sachen und es hatte sie nicht gerade dazu ermutigt, selbst eine Beziehung einzugehen.
Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, bewohnte ihre eigene Wohnung und verdiente ihr Geld als Verkäuferin in einer angesagten Boutique. Sie konnte also mit Recht behaupten, erwachsen zu sein. Nur einen richtigen Freund hatte sie noch nie gehabt.
Nicht, dass es ihr an Gelegenheiten gemangelt hätte, doch es fehlte ihr stets der Mut. Einen nach dem anderen hatte sie abblitzen lassen. Anfangs hatte sie sich einfach noch zu jung gefühlt, nun aber hemmte sie ihre mangelnde Erfahrung. Jeder halbwegs akzeptable Mann würde denken, mit ihr stimmte irgendetwas nicht, wenn er erführe, dass sie noch Jungfrau war.
Lange hatte sie über dieses Dilemma nachgedacht, bis sie eine Lösung ersonnen hatte: Was sie brauchte, war ein Übungs-Mann; einen, der sie in die Geheimnisse der Liebe einweihte, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Da ihr Herz nicht an ihm hängen würde, wären etwaige Peinlichkeiten vollkommen egal. Sobald er seine Aufgabe erledigt hatte, würde sie ihn wieder aus ihrem Leben verschwinden lassen.
Sie wusste wohl, dass sich kein Mann wissentlich auf ein solches Arrangement einlassen würde; abgesehen von der Sorte, die dafür bezahlt wurden.
Wäre sie eine gewöhnliche Frau gewesen, sie hätte entweder einen Callboy bezahlen oder einen Mann unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Falle locken müssen. Glücklicherweise war Mona aber keine gewöhnliche Frau, auch wenn sie nach außen ein ganz und gar gewöhnliches Leben führte.
Mona war eine Hexe. Nicht, dass sie auf Besen ritt, spitze Hüte trug und eine Katze auf ihrem Rücken sitzen hatte, aber zaubern, das konnte sie. Allerdings gab es wohl keine Hexe, die dem Klischee entsprach, all jene, die aussahen wie Hexen, waren gewiss keine. Wahre Hexen waren Meisterinnen der Anpassung. Ganz gleich, in welcher Zeit sie auch lebten, ein jeder hielt sie stets für gewöhnliche Menschen. Alle diese Aussagen galten im Übrigen auch für Hexer. Nicht einmal untereinander konnten sie einander erkennen. Daher gab es auch keine zuverlässigen Angaben über ihre Anzahl.
Mona selbst kannte nur eine einzige andere Hexe und das war ihre Mutter. Allerdings war diese keine besonders gute Vertreterin ihrer Art, ständig schlugen ihre Zauber fehl. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab, ihre Kräfte immer wieder einzusetzen. Monas Ausbildung in Zauberei hatte darin bestanden, die Fehler ihrer Mutter wieder auszubügeln. Bei so viel Übung war es nicht weiter verwunderlich, dass eine ganz passable Hexe aus ihr geworden war. Daher traute sie sich durchaus zu, sich einen Mann herbeizuhexen.
Dennoch war ihr die Entscheidung dazu nicht leichtgefallen. Der Zauber war kompliziert und gerne hätte sie sich der Unterstützung einer erfahrenen Hexe versichert, doch ihre Mutter konnte sie nicht fragen. Selbst wenn diese eine bessere Hexe gewesen wäre, so war das Thema Männersuche dennoch nichts, was man mit seiner Mutter besprach. Also hatte sie sich mit dem Rat ihres Zauberbuches begnügen müssen.

Geschichte 16

Feuer und Mond
Die Feuerelfe Gewndolyn kann nach dem Tod ihrer Schwester Kinia, die in ihr wohnenden Feuerbrünste nicht mehr kontrollieren, da sich die Seele ihrer Schwester in ihrem Körper versteckt hat. Der Elf Alatan will Gewndolyn töten, um Kinia aus dem Körper zu befreien. Er übersieht jedoch, dass Kinia nicht befreit werden möchte, war ihr Tod doch unabänderlich. Gwendolyn flieht und wird von Elfen-Kriegern unerbittlich gejagt. Unvermittelt trifft sie auf Cyrian. Er scheint ein schwacher und einfacher Mensch zu sein. Doch der Schein trügt.

Leseprobe:
Die Sonne stand schon seit vielen Stunden am Himmel, doch ihr Antlitz hatte sie hinter dichten Wolken verborgen, als würde sie den Blick auf das zerstörte Dorf scheuen. Feine Rauchfäden stiegen von den Trümmern auf.
Die Elfe stand reglos da und betrachtete das Bild des Todes. Rotes Haar ergoss sich weit über ihren Rücken, zwei Zöpfe umrahmten ihr Gesicht. Ihr schwarzer Mantel war staubig und streifte über den Boden, auch die Stiefel verrieten, dass sie schon eine lange Zeit unterwegs war. Ein Bogen lag in ihrer Hand und der Köcher auf ihrem Rücken war voller Pfeile. An dem ledernen Gürtel, hing ein langes Messer. Der Wind strich über sie hinweg und trug den Geruch des schwellenden Feuers zu ihr hinüber. Das Dorf war verloren. Ebenso wie seine Bewohner. Und doch …
Ohne zu wissen warum, lenkte die schlanke Gestalt ihre Schritte auf das Dorf zu.
Lautlos schritt sie zwischen den Ruinen hindurch und sah sich um. Der Geruch des Todes tränkte die Luft. Kein Laut war zu hören, als würde die ganze Welt den Atem anhalten, angesichts dieser Zerstörung. Sie sah die Leichen von Kindern und ein Anflug von Zorn wallte in ihr hoch. Was hatten diese Menschen getan, dass sie so bestraft wurden?
Plötzlich war da ein Geräusch. Augenblicklich duckte sie sich hinter einen halb zerfallenen Karren und lauschte. Einen Moment später erklang das Wimmern wieder und führte sie zu einem noch halbwegs gut erhaltenen Gebäude, das die Kirche dieses Dorfs gewesen zu sein schien. Mit katzenhafter Geschwindigkeit schlich sie heran, jederzeit bereit zu fliehen.
Das Wimmern ertönte erneut und gleich darauf ein beruhigendes Murmeln. Kurz entschlossen trat sie in den Eingang der Kirche. Das Wimmern wurde zu einem erschrockenen Keuchen.
Ihre scharfen Augen erspähten einen Mann, der sich bei ihrem Anblick aufrichtete, ein Schwert blitzte in seiner Hand auf. Seine Augen bohrten sich in die ihren. Sie waren von einem wunderschönen blau, dass sie an den Himmel, jenseits dieser Berge denken lies. Da wo noch Frieden herrschte.
Sie zwang ihre Gedanken zurück und sah auf die Frau, die am Boden lag. Der Bogen in ihrer Hand, auf dem schon ein Pfeil lag, sank langsam. Sie duckte sich unter der Tür hindurch und kniete wortlos neben der Frau nieder. Ihre Augen waren vor Schmerz halb geschlossen. Ihr Körper war grausam verletzt und schweißnass. Hier gab es keine Hoffnung. Wieder stieß sie ein schmerzvolles Wimmern aus und der Mann, der sich bis dahin nicht bewegte hatte, lies das Schwer zurück in die Schatten sinken und beugte sich erneut über sie. Mit beruhigendem Murmeln strich er ihr mit einem nassen Tuch über die Stirn.
Sie betrachtete ihn. Dunkelblonde Locken fielen in ein sonnengebräuntes Gesicht von fast überirdischer Schönheit. Die Züge waren weich und doch stark gezeichnet, die Lippen voll und die Nase gerade. Seine Kleidung war schlicht aber sauber, der Körper darunter muskulös.
„Weißt du wer das getan hat?“ Seine Stimme war tief und weich, doch eine unverhohlene Anspannung lag darin. Sie schnitt durch sie hindurch und raubte ihr den Atem. Sie verfluchte ihre Entscheidung dieses verdammte Dorf betreten zu haben und schüttelte stumm den Kopf. Seine Augen musterten sie und sie hatte das Gefühl dass er in ihr Innerstes sehen konnte. Doch was dort lauerte, würde ihm nicht gefallen. Eilig stand sie auf.
„Ich sehe nach, ob ich noch jemanden finden kann.“ Schon trat sie zurück ins Freie und rang nach Atem. Sie hatte nicht vor nach Überlebenden zu suchen, doch sie musste aus dieser Kirche raus, weg von ihm und dieser Frau, die dem Tod so nahe war, dass man seine Schatten schon auf ihr sehen konnte. Sie schritt durch die Trümmer und fragte sich warum sie nicht einfach die Flucht ergriff. Was hielt sie hier? Als eine Stimme in ihren Gedanken zu flüstern begann drängte sie sie hastig fort. Nicht jetzt! Sie zwang ihre Aufmerksamkeit zurück und durchsuchte das Dorf. Asche knirschte unter ihren Stiefeln. Hier gab es kein Leben mehr. Die Frau war die Einzige und selbst sie, würde nicht mehr lange am Leben sein. Sie tauchte in den Schatten eines halbwegs gut erhaltenen Hauses ein und spähte durch die zerborstene Tür. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Was tat sie eigentlich hier? Sie musste weiter.
Ein Geräusch in ihrem Rücken lies sie herumwirbeln. Ihre Hand streifte einen Balken, Schmerz schoss durch sie hindurch. Etwas flammte in ihr auf, bereit den Angreifer zu vernichten.
Es war der Fremde der jetzt einen Schritt zurück trat und die Hände ausbreitete. „Ich bin’s nur.“
Sie nickte knapp und sah sich um. „Ist es dein Dorf?“ Warum fragte sie das, es war nicht wichtig.
Er schüttelte den Kopf. „Ich war in der Gegend und hab den Rauch gesehen. Es ist nicht das erste Dorf.“ Erneut trat er einen Schritt auf sie zu und sie wich vor ihm zurück. „Ich tu dir nichts.“ Sagte er sanft und  wies auf ihre Hand, von der rotes Blut tropfte. „Lass mich mal sehen.“
Seine Stimme weckte Vertrauen in ihr, doch alles in ihr schrie danach zu fliehen. Als er in die Hosentasche griff zuckte sie zusammen, doch er holte nur ein sauberes Tuch hervor.
„Allein wirst du es nicht hinkriegen.“ Sagte er leise. „Lass mich dir helfen. Ich schwöre du hast vor mir nichts zu befürchten.“
Es kostete sie eine gewaltige Überwindung, die Hand auszustrecken. Er gab sich Mühe sie nicht zur berühren, als er den Stoff sanft um ihre Hand band. Als er fertig war, zog sie die Hand rasch zurück und drückte sie an ihre Brust. „Danke.“ Das Wort schmeckte wie Asche in ihrem Mund.
Er nickte. „Mein Name ist Cyrian. “

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