Nach mehreren Jahrzehnten, in denen sie aus religiösen Gründen ein Kopftuch trug, hat Emel Zeynelabidin im Jahr 2005 ihr Kopftuch abgelegt. Sie, die sich weiter als gläubige Muslimin versteht, hat einen Schlussstrich gezogen unter eine Lebensphase, in der das Äußerliche von enormer Bedeutung war.
Emel Zeynelabidin, Trägerin des Preises der Lutherstädte “Das unerschrockene Wort”, zieht in einem im Frühjahr 2013 erschienenen Sammelband mit verschiedenen Essays und Kommentaren aus dem Zeitraum 2004 bis 2012 eine Bilanz ihres bisherigen Lebens, beschäftigt sich ausführlich mit der Frage nach dem, was Islam in der heutigen Zeit bedeutet, und wendet sich gegen eine ausschließlich an Ritualen und an Äußerlichkeiten orientierten Religionsauffassung
Tief verwurzelt im Islam
Emel Zeynelabidin ist in der muslimischen Community in Deutschland keine unbekannte Person. Ihr Vater ist der Gründer der deutschen Sektion von Milli Görüs, sie wuchs in einer frommen Familie auf, in der Religiosität auch im Alltag gelebt wurde, ging auf ein katholisches Gymnasium, da ihr Vater sich dort mehr Verständnis für religiöse Erziehung erhoffte als auf einer öffentlichen Schule, studierte Islamwissenschaft, und war über viele Jahre in verschiedenen Funktionen in der muslimischen Community tätig, darunter als Vorsitzende des Islamischen Frauenvereins “Cemiyet-i Nisa”, setzte sich für muslimische Kindergärten, islamische Schulen und Sozialeinrichtungen ein.
Kopftuchgebot von Islamgelehrten: keine religiöse Angelegenheit
Zeynelabidins Entscheidung zum Ablegen des Kopftuchs war eine intensive Phase der Prüfung der innerhalb des Islams gegebenen Begründungen vorausgegangen, warum eine Frau ihre Haare verhüllen soll. Emel Zeynelabidin wollte aus den Tatsachen ergründen, was es mit der Bedeutung des Kopftuchgebots im Islam auf sich hatte. Ihre Erkenntnis nach gründlichem Studium: es handele sich “um eine praktische Maßnahme zur Erleichterung des Lebens” zur Zeit von Mohammed vor 1400 Jahren, die sich in zwei Bedeckungsversen des Korans niedergeschlagen habe. Die Verhüllung habe damals als optisches Unterscheidungsmerkmal gedient, damit die muslimischen Frauen nicht mehr mit Sklavinnen verwechselt und belästigt werden sollten; mit der Verhüllung der weiblichen Reize sollte zudem den Männern geholfen werden, die sich dadurch leicht ablenken ließen und dabei auch Schaden erlitten.
Es handele sich, so die Autorin, somit nicht um eine Frage der Religion, sondern um eine der Kommunikation zwischen Frauen und Männern in der damaligen Zeit, die nicht für die Beurteilung der heutigen Verhältnisse tauge. Und: seinerzeit ging es um eine Verhüllung des Körpers, die heute in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung befindliche Kopfverhüllung stammt erst aus späteren Zeiten, aus Interpretationen von Propheten-Aussagen durch ausschließlich männliche Gelehrter, wie Zeynelabidin hervorhebt.
Erfahrungen nach dem Kopftuch-Ablegen
Dass sie über Jahrzehnte in der und für die muslimische Community tätig gewesen war, führte nicht dazu, dass Zeynelabidin nach Ablegen des Kopftuches das erspart geblieben wäre, was auch denjenigen Menschen passiert, die aus christlich-religiös-konservativen, fundamentalistischen, evangelikalen Communities stammen und eigenständig zu denken beginnen: Ablehnung, Verteuflung als “Ungläubige”, Kommunikationsverweigerung, Ausgrenzung, ja Kontaktabbruch. Ihr wurde sogar unterstellt, sie sei “vom Teufel besessen”. Die religiösen Vereinfacherer gleichen sich allemal, egal welcher Religion sie angehören.
Großteil der Muslime kennt die Herkunft des Kopftuchgebotes nicht
Nach der intensiven Befassung mit dem Islam und aufgrund ihrer Kenntnis der Religionspraxis in Deutschland weiß Zeynelabidin: die meisten Muslime wissen überhaupt nicht, woher das Kopftuchgebot kommt, vermuten lediglich, es stamme von Mohammed bzw. aus dem Koran. Kenntnisse über die beiden Bedeckungsverse des Korans und deren historische Bedeutung hat so gut wie niemand; ebenso wenig ist bekannt, dass die Vorschriften darüber, welche Körperteile zu bedecken seien, von islamischen Gelehrten erst nach Mohammeds Tod aufgestellt worden sind. Eigentlich, so ihre Beobachtung, interessiert es die meisten Muslime aber auch gar nicht genauer. Denn – und da sieht sie den Kern des Problems – : “Eigenständiges Forschen, Infragestellung von Überlieferungen sowie kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist unter Muslimen ungewöhnlich und wird im traditionellen Hierarchiedenken nicht gefördert.”
Diskriminierung muslimischer Frauen ohne Kopftuch
Emel Zeynelabidin weist auf einige wichtige Aspekte hin, die von denen, die über “Selbstbestimmung” von Frauen im Zusammenhang mit dem Kopftuch schwadronieren, völlig ausgeblendet werden: unter Muslimen gelte heute, dass das Kopftuch eine Frau zu einer “besseren Gläubigen” mache, wobei mit dieser auf ein reine Äußerlichkeit setzenden Betrachtung alle anderen (muslimischen) Frauen, die kein Kopftuch tragen, diskriminiert würden. Eine Diskriminierung, die sich verstärkt dann zeige, wenn eine Frau ihren Glauben neu definiere und das Kopftuch ablegen wolle: “Ich kenne keine, die dabei nicht auf massiven Widerstand aus den eigenen Reihen stößt und mit Verleumdungen diskriminiert wird.”
Zwang bei jungen Mädchen – Missbrauch der Religion
Das Dilemma beginne schon sehr früh, schreibt sie, dann nämlich bereits, “wenn kleine Mädchen in der Familie zum Tragen eines Kopftuchs gezwungen werden, zwar aus erzieherischen Gründen, um sich so früh wie möglich zu gewöhnen. Es handelt sich hierbei um einen Missbrauch im Namen der Religion.” Der Körper der jungen Mädchen gehöre nicht mehr ihnen selbst, sondern “der Familie und den gesellschaftlichen Interessen.” Es beginne eine Gewöhnung, die die Identitätsentwicklung des Mädchens und der jungen Frau massiv beschädige. Nicht nur die verinnerlichte Definition “mit Kopftuch = gut”, und “ohne Kopftuch = schlecht” mitsamt dem dazugehörenden Druck der Gemeinschaft wird von Zeynelabidin kritisch thematisiert, sondern auch die (theologisch begründete) Indoktrination, die jeweilige Frau sei für die von ihr ausgehende Sünde verantwortlich.
Unwillkürlich wird man an die entsprechenden Aussagen christlicher Kirchen zur Frau und deren Rolle beim “Sündenfall” erinnert, wenn Zeynelabidin ausführt: “Ich hatte gelernt, dass ich dafür verantwortlich sei, wenn meinetwegen der sexuelle Trieb eines Mannes geweckt wird. Und das galt als Sünde, für mich und den Mann.”
“Trennendes Menschenbild”
Emel Zeynelabidin erörtert viele weitere höchstinteressante Gesichtspunkte, wie etwa den, was eigentlich für eine Gottesvorstellung hinter der Auffassung stehe, ein auf Rituale und Äußerlichkeiten orientiertes Verhalten sei gottgefällig, wie etwa den weiteren, warum im heutigen Islam auf eine Verweigerung der Kommunikation von Mann und Frau, auf Abgrenzung, gesetzt werde, wo doch die von Mohammed propagierte Religion nicht der Abgrenzung gedient habe. Sie, so schreibt sie, sei zu dem Ergebnis gelangt (nach Studium der theologischen Quellen und ihren Betrachtungen aus der neugewonnenen Perspektive), dass “von einem Religionsverständnis, das mit Sünde und Strafe, mit Verboten und Erlaubten arbeitet, ein trennendes Menschenbild transportiert wird.”
Persönlicher Weg der Selbsterkenntnis
Die Autorin bekennt sich zu einem “ganz persönlichen Weg der Selbsterkenntnis”: “Glauben ist für mich zu einer inneren Angelegenheit des geistigen Wachstums und der Reife geworden, die sich im Verhalten sich selbst und anderen gegenüber äußert und keine Frage von Äußerlichkeiten sein darf.” Der Koran, so führt sie aus, müsse im historischen Kontext verstanden werden, und es dürfe keine Unterwerfung unter ein Gruppendenken geben, das “einem Schöpfer mit Ritualen begegnet.”
Emel Zeynelabidin beleuchtet aktuelle Probleme der muslimischen Community (in Deutschland) aus der Perspektive einer Insiderin und äußert vehemente Kritik an einer auf einen reinen Buchstabenglauben gerichteten Religiosität. Ihre Ausführungen sind ein glänzendes Plädoyer gegen alle Religionen und religiösen Vereinigungen, ob sie muslimisch, christlich, jüdisch oder was auch immer sein mögen, bei denen Rituale, Äußerlichkeiten und Abgrenzung gegenüber den Anderen, den “Ungläubigen” Programm sind. Auch deshalb sind die Artikel des Sammelbands äußerst lesenswert, geben sie doch vieles für die Auseinandersetzung mit Dogmatikern jeglicher Couleur her.
Erste Menses: von einer Frau zu einer “muslimischen Frau”
Mit dem Titel des Sammelbandes “Erwachsen wird man nur im Diesseits” bezieht sich Zeynelabidin, wie sie ausführt, auf ihren persönlichen Entwicklungsprozess im Kontext ihrer eigenen Biographie. Hierzu seien zwei Textstellen zitiert, die die persönliche Biographie der Autorin beleuchten, aber auch als symptomatisch für viele Mädchen und junge Frauen, die in streng muslimischen Familien heranwachsen, und als symptomatisch für Strenggläubige bezeichnet werden können.
Sie beschreibt ihre Entwicklung als junges Mädchen, bei der die angeblichen Forderungen Gottes maßgeblich waren: “Ich bin nun 52 Jahre alt und hole viele Erfahrungen sowie persönliche Lebenswünsche als ‘Unverhüllte’ nach. Erfahrungen, die etwas zu tun haben mit dem Erwachsen- werden und dies besonders in meiner Rolle als Frau. Mit zwölf Jahren bekam ich meine 1. Mensis und sollte dann gemäß den religiösen Empfehlungen meine weiblichen Reize mit dem Kopftuch bedecken, Reize, die ich aber damals noch gar nicht kannte. Denn es hieß, Gott bestimme mit Seinen Erlaubnissen und Verboten, wie ich mich kleiden und mit dem anderen Geschlecht kommunizieren solle. Mit der ersten Regelblutung war ich von einem Moment zum anderen eine muslimische Frau geworden.
Als Jugendliche konnte ich die Welt der Männer nur durch die Augen meiner Mutter sehen. Für meine Mutter war es eine Frage des Anstands, keine Freundschaften mit Jungs zu haben. Auch jeglicher Körperkontakt mit ihnen war mir nicht erlaubt. Mein damaliges Leben zeichnete sich durch gedanklich kontrollierte Geschlechtertrennung aus, was mich bis in mein Innerstes tief geprägt hat. Die menschliche und vielfältige Gefühls- und Gedankenwelt von Männern, vor denen ich mich mit meiner Verhüllung schützen sollte, blieb mir deshalb weitgehend verschlossen. Meine uniformartigen, reizneutralen und den ganzen Körper rundum verhüllenden Gewänder entwickelten sich mit der Zeit zu einem festen Bestandteil meines Alltags und dienten als praktischer Distanzhalter zum anderen Geschlecht. Was war das für ein fataler Irrtum, der sich auf meine Entwicklung auswirken musste.“
Verantwortung für das eigene Leben
Emel Zeynelabidin fordert die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben, die Erarbeitung von “Problemlösungen in Eigenverantwortung” und eine Abkehr von der bei Religiösen verbreiteten Praxis, anstelle einer Eigenverantwortung Gottes Eingreifen zu beschwören oder den Teufel zum Sündenbock zu machen: “…im Kern des Erwachsenseins, so wage ich zu behaupten, steht für jeden das Erlangen einer Verantwortung für sich selbst, um seine Freuden und Sorgen mit anderen teilen zu können und nicht etwa andere dafür verantwortlich machen zu müssen. Erwachsensein bedeutet für mich, das permanente Streben nach Reife, die zu Selbstverantwortung und größtmöglicher Unabhängigkeit führt. Einen Erwachsenen macht aus, dass er seine Probleme ernst nehmen und nach Ursachen forschen kann. Bei der Vielfalt an Möglichkeiten, die in unserem Zeitalter diesbezüglich geboten werden, wundere ich mich deshalb darüber, dass solche Erwachsene, die sich stark über ihre Religionszugehörigkeit definieren, bei Konflikten immer wieder Zuflucht bei Gott als Richter, oder beim Teufel als Sündenbock suchen. Wir sollten unsere Probleme in Eigenverantwortung selber lösen, wenn wir uns entwickeln und erwachsen werden wollen!”
Lesenswert sind auch die Überlegungen von Emel Zeynelabidin zur Ausgestaltung eines islamischen Religionsunterrichts, denen zugrunde liegt, dass sie die Vorstellung eines strafenden Gottes ablehnt. Sie plädiert für eine “Klärung des Gottesbildes”.
Religionen sollen Verantwortung für psychische Schäden übernehmen
Von herausragender Bedeutung aber ist ihre Forderung: “Es wird Zeit, dass Erwachsene für die psychischen Schäden, die sie mit dem Bild eines strafenden Gottes angerichtet haben, Verantwortung übernehmen.”
Emel Zeynelabidin orientiert damit – auf dem Hintergrund ihres Gottesbildes, wonach Gott “Barmherzige Intelligenz in Vollkommenheit” ist –, jenseits der in den letzten Jahren bekanntgewordenen und mit körperlicher Einwirkung einhergegangenen Missbrauchsfälle, auf die Bekämpfung der einer Religion bereits aufgrund der Drohungen mit Hölle, Strafe, Vergeltung oder ewiger Gottesferne inhärenten menschenzerstörenden Potentiale. Es ist von Bedeutung, dass eine solche Forderung erhoben wird, die nicht nur auf eine Religion zielt und mit der das Missbrauchsverhalten aufgrund religiöser Indoktrination gegenüber Kindern und Heranwachsenden thematisiert wird. Es ist Zeit, sich hiermit auch öffentlich auseinander zu setzen. Bislang haben die aufgrund religiöser Indoktrination psychisch beeinträchtigten Menschen in Deutschland keine Stimme und keine Lobby.
Die Ausführungen und Überlegungen von Emel Zeynelabidin haben eine Bedeutung über die muslimische Community hinaus. Sie sind es wert, in jeglicher Debatte über Religion und deren Bedeutung in der modernen deutschen Gesellschaft reflektiert zu werden.