Erst wenn es allen schlechter geht, geht es allen schlechter

Es soll Leute geben, und jeder von uns kennt wohl solche Leute, die der festen Überzeugung sind, dass erst dann gesellschaftliche Veränderung vollzogen werden kann, wenn es möglichst vielen Menschen, denen es jetzt noch gut oder wenigstens nicht ungut geht, schlechter, viel schlechter ginge. Die Not, so wollen sie damit zum Ausdruck bringen, verschmelze die Menschen und mache sie zu einer revolutionären Masse. Je schlimmer das Elend, desto fester zieht man an einem Strang. Der Kummer und die Verzweiflung als Schmiede der Harmonie. So eine romantische Vorstellung! Und wohl so eine falsche Vorstellung.

Wenn es allen schlechter geht, dann kommt das große Umdenken, dann gehen die Menschen auf die Straße. Das klingt schlüssig und irgendwie tröstend, denn wann es allen endlich schlechter geht, weiß man ja nicht ganz genau. Dieses Szenario gleicht insofern den Beteuerungen alter Sozialisten, die sich im wilhelminischen Deutschland oder dem Frankreich der Dritten Republik niederließen und auf die Revolution verwiesen, die dann bald kommen möge und derentwegen man nun ein wenig bürgerlich tat, Mandate annahm und es sich im Parlamentarismus gemütlich machte. So wie die Revolution ein Irrtum war, weil sie vom institutionalisierten Sozialismus gar nicht real, sondern nur als Wunschbild erbeten wurde, so ist auch die Annahme, es würde alles besser, wenn es allen schlechter ginge, eine fatale Fehleinschätzung.

Wenn es allen schlechter geht, geht es allen schlechter. Das ist die einfache Wahrheit, die sich hinter solchen Parolen verbirgt. Die Hoffnung auf massenweise Verschlechterung der Lebensumstände, sie ist nur eine Scheinhoffnung. In Wirklichkeit ist sie eine Tautologie des Elends. Wenn es allen schlechter geht, geht es allen schlechter, geht es allen schlechter. Eine Gesellschaft, in die die Not einbricht, wird nicht von gefühlvollen, mitfühlenden Einzelnen geprägt. In so einer Gesellschaft ist man sich schnell selbst der Nächste. Da regiert Hunger - da dominieren eigene Sorgen - da amtieren Rechnungen, die man nicht bezahlen kann - da herrscht Existenzangst - da gebieten die Erwartungen, um die man betrogen wurde. Manchmal blitzt freilich auch Mitmenschlichkeit auf - aber die ist keine Konstante, nicht die unsichtbare Hand des Elends. Sie schimmert trotzdem manchmal durch, ist ein Dennoch, kein Deswegen. Jedenfalls ist sie seltener Gast an Tafeln, die üppig mit Leere gedeckt sind.

Jorge Semprún beschreibt in "Die große Reise" seine Gefangenschaft. Als Widerstandskämpfer in Frankreich wurde er von den Nazis inhaftiert und im Gefängnis waren sie alle ins Elend gestoßen. Da gab es Widerständler und solche, die für Dissidenten gehalten wurden, aus allen gesellschaftlichen Schichten. Und da gab es einen Mann, der Ramaillet hieß. Während Semprún nur die dünne Suppe löffelte, die die Gefängnisküche täglich ausgab, erhielt dieser Ramaillet stets feine Fresspakete von der Außenwelt. Wenigstens hatte er in der Not zu fressen. Aber teilen wollte er nicht, denn das wäre ungerecht, meinte Ramaillet, wenn man sein Fresspaket unter drei Männern - es war noch ein dritter Mann in die Zelle gestoßen worden - aufteilte. Denn Semprún erhielt ja gar nichts, würde sich aber an ihm, an seinen Paketen schadlos halten, obwohl er nichts für die Allgemeinheit tut.

Da ging es allen schlechter als vorher - und die Folge? Nichts Neues, denn es zog nicht Harmonie und Zusammenhalt ein, nicht mal Solidarität im Geiste, denn Ramaillet gab die Schuld seiner Haft solchen Leuten wie Semprún, sie hätten ihn, den unbescholtenen Bürger, das Leben versaut; was sich einstellte war Egoismus, Gier, Gleichgültigkeit. Da ging es allen schlechter als vorher, nur damit es nachher allen schlechter als vorher ging. Gleicht das nicht dem, was man so liest, wie das Leben unter Obdachlosen wütet? Die bestehlen sich, die belauern sich. Das kann man ihnen nicht mal ankreiden. Wer nichts hat, der will sich auch das Nichts des Habenichts' aneignen, der neben ihm in Einkaufspassagen nächtigt. Nichts und Nichts, vielleicht gibt das was! Wie Minus und Minus ja gleichfalls Plus ergibt! Aber am Ende gesellt sich zur Armut auch noch Angst, Angst um die eigene spärliche Habe, Angst vor demjenigen, der im gleichen lecken Boot hockt, wie man selbst. Armut für alle ist keine Erlösung, es ist Lähmung und Misstrauen.

Einwände könnten nun sein, dass in französischen Gefängnissen unter deutscher Führung oder unter Obdachlosen, Sonderkonditionen gelten. Das seien Extremerfahrungen und das Elend, es sei ja nur das Elend einer Gruppe, einer Gesellschaftsschicht alleine, nicht das Elend der Gesellschaft schlechthin oder der Mittelschicht, die stückchenweise in die Not hinabrutscht. Aber dieser Einwand greift zu kurz, denn es kentert niemals eine Gesellschaft oder eine ganze Schicht vom Ausmaß der Mitte, in die Armut oder ins Elend. Es sind immer einzelne unterprivilegierte Gruppen und Schichten, die diesen schweren Gang antreten. Wer heute meint, dass wenn es allen schlechter geht, gehe es bald wieder bergauf, der meint gar nicht Alle. Der meint einige, diejenigen, die gerade noch ein anständiges Leben führen können. Die können doch ernsthaft nicht den Typen meinen, der seit Jahren fünfstellig verdient und fünfstellig lebt. Selbst wenn es so einem mal etwas schlechter geht, dann geht es ihm noch gut. In solchen gesellschaftlichen Sphären stimmt die Losung halbwegs. Zwar geht es nicht bergauf, wenn es denen alle schlechter ginge, aber es geht immerhin nicht bergab. Zu viel Substanz. Zu viel Rücklagen. Zu viel Beziehungen, um aus dem Sumpf, der gar kein Sumpf, sondern eine drei Millimeter tiefe Pfütze ist, zu entsteigen.

Und was ist das überhaupt für eine Parole, ja für ein Weltbild, das die Not vieler vieler Menschen bevorzugt, um irgendwann einmal Resultate zu zeitigen? Wenn soziale Errungenschaften abgebaut werden, womit es vielen Leuten existenziell an den Kragen ginge, dann stößt diese Prekarisierung vielleicht Unmut an. Nur abgebaute soziale Errungenschaften werden wohl kaum erneut von denen wiedererweckt, die sie abbauten. Und selbst wenn, was hat denn der Fünfzigjährige davon, der plötzlich keinen Kündigungsschutz mehr hatte, wenn nach seiner Entlassung der Kündigungsschutz wieder eingesetzt würde? Wird alles besser, wenn es allen schlechter geht? Gerechtigkeit schaffen durch zunächst entstandene Ungerechtigkeit? Als List der Vernunft, wie Hegel seinen Trick nannte, nachdem er erkannte, dass die Welt kein fortwährender Prozess der Verbesserung, des Fortschritts ist?

Wenn es allen erstmal schlechter geht, und das wäre die eigentliche Einsicht, zu der man gelangen sollte, dann ist es zu spät. Wen man die Butter vom Brot stahl, der kämpft in der Regel nicht mehr dafür, nochmal ein Stückchen Butter zu bekommen - er kämpft darum, seinen Kanten Brot nicht auch noch abtreten zu müssen.


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