Erotik und Schreiben
Heute Abend soll geschehen, was die Woche über nicht geschah. Die Arbeit des Tages, die einen einnimmt – und von der man viel zu viel mit nach Hause nimmt. Der Alltag, der einen beschäftigt. Was ist nicht alles zu tun, zu bedenken. Die Wäsche, die aufzuhängen ist. Die Böden, die gesaugt werden müssen. Und was nicht alles an einem Tag geschieht, das besprochen werden sollte, besprochen wird… Alles wichtig, aber heute, jetzt, alles nichtig, denn nun sollte es gelingen, einfach mal loszulassen. Nicht zu denken. Nichts zu tun. Jedenfalls nichts anderes, als das Eine. Und so soll es heute geschehen.
Wichtig ist, denke ich, die richtige Musik. Ein anregendes Ambiente. Vielleicht ein Glas Rotwein, der dann im Schein der Kerzen warm schimmert. Wichtig ist es, den Tag hinter sich zu lassen. Früher war dies vielleicht anders. Da geschah vieles spontan. Kopf und Herz waren nicht so angefüllt mit Dingen, die erledigt werden müssen. Da ließ man sich einfach mitreißen. Plötzlich war die richtige Stimmung da. Nichts schob sich zwischen dieses spontane Vibrieren und das es tun. Doch heute hängt man erst einmal die Wäsche auf. Erledigt wichtige Anrufe. Erledigt Dinge. Um sich den Freiraum zu schaffen, der sich schwerer nur spontan einstellt.
Doch heute. Nichts mehr zu erledigen. Alle Anrufe getätigt. Der Wein schimmert warmrot im Kerzenschein. Jetzt noch die richtige Musik auswählen. Sade ist sehr passend. Ein Mix aus ihren Stücken und Stücken von Massive Attack. Teardrop und Angel. Ja, das ist gut. Jetzt geht es los. Ich nippe an meinem Glas, der Rotwein wärmt mich. No Ordinary Love hüllt mich ein.
Dann starre ich auf die letzten Zeilen, die ich für meinen neuen Roman geschrieben habe: „Alle Erregung, die sie bis zu diesem Abend erlebt hatte, war gegen die nun ihr Haupt erhebende Gier nur ein handzahmes Schoßhündchen gewesen. Fütter mich, fütter mich! Die Lust tobte wie ein hungriges, wildes Tier zwischen ihren Schenkel. …“
Und nun? Der Kursor blinkt. Fütter mich, fütter mich.
Ich weiß, was ich schreiben möchte. Welche Stimmung ich in dieser Szene erzeugen möchte. Ja, ich sehe die Szene sogar vor mir. Er. Sie. Viele Menschen in der Nähe. Ein Fest. Doch das stört sie nicht, sie lassen sich hinreißen von ihrer Lust aufeinander.
Ich füttere den Kursor mit explizierter Gier. Es reißt mich an der Tastatur hin. Wie feucht sie ist und er hart. Wie sie sich die Jeans herunterzieht und sich beugt und spreizt und er sie nimmt und nimmt und sie sich ihm hingibt. 600 Wörter für 6 Minuten Quickie. Wow. Darauf noch ein Glas Wein.
Doch als der frisch eingeschenkte Wein warm in meinem Glas schimmert, kommen mir, während Massive Attack die dunklen, eindringlichen Klänge von Angel durch meine Boxen jagt, Zweifel. Ist es das, was ich wollte? Sah ich das wirklich vor mir? Charakterisiert diese Sexszene die beiden Hauptfiguren in meinem Roman? Nein.
Gier, ja. Aber explizit?
Ich sollte jedes sechste Wort weglassen, mindestens. Und der Ton trifft es auch nicht. Also lösche ich den Abschnitt und beginne von vorne.
„Die Lust tobte wie ein hungriges, wildes Tier zwischen ihren Schenkel. …“
Und jetzt bitte mehr Sinnlichkeit. Mitreißend. Ein ganz und gar außergewöhnliches erotisches Erlebnis. Nicht per se. Also nicht im Sinne von außergewöhnlichem Sex. Sondern ein tiefgreifendes, die beiden für alle Zeiten verbindendes Erlebnis.
Ich starre auf den Bildschirm. Versuche dieses Bild von den Beiden, dieses Gefühl, dass etwas ganz Besonderes in diesem Moment geschieht, zu fassen – die Worte zu finden, die es fassbar machen. In Gedanken wandert mein Blick zum Fenster, durch welches das helle Licht der Straßenlaterne fällt. Dann wende ich den Blick von Fenster ab und schreibe:
„Sie zog ihn weg vom Licht der Straßenlaterne hinter den erstbesten Busch. Sie…“
Das Fenster sollte auch mal wieder geputzt werden, geht es mir plötzlich durch den Kopf. Ich stehe von meinem Schreibtisch auf und öffne das Fenster. Aber nicht heute. Ich zünde mir eine Zigarette an und blicke auf die Straße hinaus. Ich wusste doch, dass ich etwas vergessen hatte. Am Straßenrand stehen die blauen Papiertonnen. Morgen ist der Abfuhrtermin. Und ich habe unsere Tonne noch nicht gerichtet…
Eine Viertelstunde später kehre ich an meinen Schreibtisch zurück. Die Tonne steht nun an der Straße, ich habe noch schnell einige Kartons eines Versandhauses zerrissen und hineingestopft, dann auf dem Rückweg die Katze gefüttert. Ich lösche den zuletzt geschriebenen Satz, versuche einen Neuen:
„Sie zog ihn weg vom Licht der Straßenlaterne hinein in die Dunkelheit hinter einen Altpapiercontainer. Schnell öffnete sie die Knöpfe ihrer Jeans, nahm seine Hand und führte sie zwischen ihre Schenkel…“
Und nun? Der Kursor blinkt. Fütter mich, fütter mich. 10 Minuten lang schaffe ich kein weiteres Wort.
Hallo Schatz, ich bin wieder da! Meine Liebste ist von ihrem Mädelsabend in Konstanz zurück. Ich lasse den Kursor blinken und begrüße sie. Natürlich hat sie einiges zu erzählen. Immerhin haben wir uns seit unserem Abschied heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit nicht gesehen. Also hole ich meinen Wein vom Schreibtisch, schenke ihr ein Glas ein und wir setzen uns an den Küchentisch. Eine Stunde später bin ich und ist sie halbwegs auf dem Laufenden, was sich Neues ereignet hat. Auf der Arbeit, bei ihr nach der Arbeit beim monatlichen Shoppen mit ihren Freundinnen und anschließendem Absacker. Und wie hat es mit dem Schreiben geklappt?, fragt sie mich, der ich mich seit einigen Minuten im Geiste vom Küchentisch langsam wieder zum Schreibtisch bewege. Diese Szene in meinem neuen Roman liegt mir schließlich schon seit Tagen auf dem Herzen.
Doch bevor ich antworten oder mich Richtung Schreibtisch verabschieden kann, fällt ihr noch etwas ein: Ich habe mir doch ein Kleid gekauft!, strahlt sie mich an, Das muss ich dir doch zeigen! Und da sage ich natürlich nicht nein. Ich liebe Kleider an ihr. Und das neue Kleid – und sie im neuen Kleid – ist wirklich eine weibliche Wucht.
Kleider… ob sie im Roman nicht Jeans, sondern ein Kleid tragen sollte? Einen Moment bin ich hin- und hergerissen zwischen dem Anblick vor mir und dem inneren Bild der Szene aus meinem Roman. Sie nimmt ihn an der Hand, lässt ihn dann los – lehnt sich an den Altpapiercontainer, hebt den Saum ihres Kleides über ihre Knie, höher und höher… Einen Moment. Dann lächelt mich meine Liebste an – auf diese ganz spezielle Weise. Dreht sich um ihre eigene Achse. Gefalle ich Dir in diesem Kleid?, fragt sie. Und: Oh ja!, antworte ich. Denke ich. Fühle ich. Tue ich. Während nebenan der Kursor blinkt. Plötzlich ist vergessen, was am heutigen Freitagabend geschehen sollte. Es zählt nur noch, was geschieht.
„Die Lust tobte wie ein hungriges, wildes Tier zwischen meinen Schenkel. …“
An jenem Abend kehre ich nicht mehr zu meinem Roman zurück. Später in der Nacht, meine Liebste schläft schon, lösche ich die zuletzt geschriebenen Worte und schließe die Datei, fahre den Rechner herunter. Dann gehe ich zu Bett. Warm strahlt unter der Decke zwischen uns die Zärtlichkeit der besonderen Nähe. Lächelnd schlafe ich ein.
Und am nächsten Morgen geschieht es. Früh erwache ich. Wochenende. Das Lächeln beim Aufwachen war ein Echo der Küsse meiner Liebsten. Leise stehe ich auf. Während das Wasser für den ersten Kaffee zu kochen beginnt, spült ich noch schnell die Gläser vom Vorabend. Dann füttere ich die Katze. Leise, um meine Frau nicht wecken, gehe ich mit der Tasse Kaffee in der Hand in mein Arbeitszimmer, fahre den Rechner hoch und öffne meine Romandatei – und dann geschieht es. Keine Musik spielt. Keine Kerzen lassen warm den Wein schimmern. Der heiße Kaffee dampft in der Tasse.
Sie trägt kein Kleid. Ich brauche keine 600 Wörter.
„Sie konnte nicht mehr warten, zog ihn weg vom Licht der Straßenlaterne, zog ihn aus der Menge in die Dunkelheit eines Hinterhofes hinein. Es war eine Offenbarung im Stehen, mit bis zu den Knien heruntergelassenen Jeans. Er gab der Bestie Futter, bis sie sich fürs Erste wohlig gesättigt auf den Rücken drehte, um sich sanft den Bauch kraulen zu lassen.“
Ein guter Anfang für das, was noch kommen soll. Dann gehe ich Frühstück für meine Liebste und mich richten.
Und hier eine Leseprobe, was wie es aktuell mit dem hier in der Entstehung beschriebenen Kapitel steht…