Friedrich der Große erlaubte meinem Urgroßvater mütterlicherseits als einzigem Juden in Samotschin, einer kleinen Stadt im Netzebruch, sich anzusiedeln. Mein Urgroßvater bezahlte eine Summe Geldes, dafür ward ihm der Schutzbrief eingehändigt. Auf diesen Akt war der Urenkel stolz, er sah darin Auszeichnung und adlige Erhöhung und prahlte damit vor den Schulkameraden.
Mein Urgroßvater väterlicherseits, der aus Spanien gekommen sein soll, besaß ein Gut im Westpreußischen. Von diesem Urgroßvater erzählten die Tanten, daß ihm das Essen auf goldenen Schüsseln und Tellern gereicht werden mußte und seine Pferde aus silbernen Krippen fraßen. Die Söhne verkupferten erst die Krippen, dann versilberten sie die Schüsseln und Teller. Vom sagenhaften Reichtum des Urgroßvaters träumte der Knabe: Die Pferde fraßen den alten Mann, und er sieht zu, ohne Abscheu und ohne Mitleid, eher mit einem unerklärlichen Gefühl der Befriedigung.
Auf den Dachböden des Hauses verstaubten riesige vergilbte Folianten. Sie hatte der Großvater bei Tag und oft bei Nacht studiert, während die Großmutter im Geschäft stand, die Käufer bediente, Wirtschaft und Küche versah. Dieses Geschäft übernahm mein Vater, nachdem er als Primaner und Apotheker versagt hatte.
Samotschin war eine deutsche Stadt. Darauf waren Protestanten und Juden gleich stolz. Sie sprachen mit merklicher Verachtung von jenen Städten der Provinz Posen, in denen die Polen und Katholiken, die man in einen Topf warf, den Ton angaben. Erst bei der zweiten Teilung Polens fiel die Ostmark an Preußen. Aber die Deutschen betrachteten sich als die Ureinwohner und die wahren Herren des Landes und die Polen als geduldet. Deutsche Kolonisten siedelten ringsum in den flachen Dörfern, die wie vorgeschobene Festungen sich zwischen die feindlichen polnischen Bauernhöfe und Güter keilten. Die Deutschen und Polen kämpften zäh um jeden Fußbreit Landes. Ein Deutscher, der einem Polen Land verkaufte, ward als Verräter geächtet.
Wir Kinder sprachen von den Polen als »Polacken« und glaubten, sie seien die Nachkommen Kains, der den Abel erschlug und von Gott dafür gezeichnet wurde.
Bei allen Kämpfen gegen die Polen bildeten Juden und Deutsche eine Front. Die Juden fühlten sich als Pioniere deutscher Kultur. In den kleinen Städten bildeten jüdische bürgerliche Häuser die geistigen Zentren, deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden hier mit einem Stolz, der ans Lächerliche grenzte, »gehütet und gepflegt«. Den Polen, deren Kinder in der Schule nicht die Muttersprache sprechen durften, deren Vätern der Staat das Land enteignete, warf man vor, daß sie keine Patrioten seien. Die Juden saßen an Kaisers Geburtstag mit den Reserveoffizieren, dem Kriegerverein und der Schützengilde an einer Tafel, tranken Bier und Schnaps und ließen Kaiser Wilhelm hochleben.
Ich bin am ersten Dezember 1893 geboren.
Suche ich nach Kindheitserinnerungen, werden mir diese Episoden bewußt:
Ich habe ein Kleidchen an. Ich stehe auf dem Hofe unseres Hauses an einem Leiterwagen. Er ist groß, größer als Marie, so groß wie ein Haus. Marie ist das Kindermädchen, sie trägt rote Korallen um den Hals, runde, rote Korallen. Jetzt sitzt Marie auf der Deichsel und schaukelt. Durchs Hoftor kommt Ilse mit ihrem Kindermädchen. Ilse läuft auf mich zu und reicht mir die Hand. Wir stehen eine Weile so und sehen uns neugierig an. Das fremde Kindermädchen unterhält sich mit Marie. Nun ruft sie Ilse: »Bleib da nicht stehen, das ist ein Jude.«
Ilse läßt meine Hand los und läuft fort. Ich begreife den Sinn der Worte nicht, aber ich beginne zu weinen, hemmungslos. Das fremde Mädchen ist längst mit Ilse davongegangen.
Marie spricht auf mich ein, sie nimmt mich auf den Arm, sie zeigt mir die Korallen, ich mag nicht die Korallen, ich zerreiße die Kette.
Der Sohn des Nachtwächters ist mein Freund. Wenn die anderen »Polack« schreien, schreie ich auch »Polack«, er ist trotzdem mein Freund. Die Polacken hassen die Deutschen, ich weiß es von Stanislaus.
Auf dem Marktplatz wird das Pflaster aufgebrochen, Gräben werden geschaufelt. Es ist Feierabend, die Arbeiter haben Spaten und Hacken in einen kleinen Schuppen getan, aus rohen Brettern gezimmert. Sie sind in die Kneipe gegangen, einen heben. Stanislaus und ich sitzen im Graben. Unser Versteck ist ein schmaler Schacht, mit Pfählen verschalt.
Stanislaus zielt und spuckt.
»Heute nacht wird ein Arbeiter sterben«, sagt Stanislaus, »zur Strafe. Sie dürfen hier nicht graben, es ist polnische Erde. Die Deutschen haben sie gestohlen. Aber laß sie nur graben, hier unten, wo sie graben, hundert Meter tief, wartet der polnische König. Im Stall steht sein weißes Pferd, dagegen ist das Pferd vom Herrn Rittmeister ein Ziegenbock. Wenn es soweit ist, setzt sich der König aufs Pferd, reitet nach oben und verjagt euch. Euch alle. Dich auch.«
Ich möchte Stanislaus fragen, wann es »soweit« ist, Stanislaus weiß mehr als ich, sein Vater ist Nachtwächter, aber die Lippen von Stanislaus pressen sich, und sein Mund wird hart und abweisend.
»Spuck jetzt, einen Murmel als Einsatz!«
Ich spucke und verliere. Nachts träume ich, daß Stanislaus auf dem Markt steht und auf dem Horn seines Vaters bläst. Aus unserm Schacht springt im Galopp ein weißes Pferd, auf dem braunen Sattel, rechts und links, oben und unten, sitzen Kaiserbilder. Jetzt ist es »soweit«, denke ich.
Ich sammle Kaiserbilder. Im Geschäft meiner Eltern gibt es viele verlockende Dinge, Bindfaden und Bonbons, Limonaden und Rosinen, große und kleine Nägel, aber am schönsten sind die Kaiserbilder. Wenn auch am schwersten zu stehlen. In jeder Tafel Schokolade liegt eins. Der Schokoladenschrank ist verschlossen, der Schlüssel hängt an einem Bund, den Mutter an ihrer blaugewürfelten Umhängeschürze trägt. Früh, wenn ich aufwache, arbeitet Mutter. Sie arbeitet im Laden, sie arbeitet im Getreidespeicher, sie arbeitet in der Wirtschaft, sie schickt den Armen Essen und lädt die Bettler zum Mittag, und wenn der Knecht aufs Feld geht, den Acker zu pflügen und das Korn zu säen, mißt sie ihm das Korn zu. Abends liest sie bis tief in die Nacht, oft schläft sie ein über einem Buch, und wenn ich sie wecke, bittet sie:
»Laß mich lesen, Kind, es ist meine einzige Freude.«
»Warum arbeitest du immer, Mutter?«
»Weil du essen willst, Kind.«
Wenn Mutter nicht achtgibt, stehle ich erst die Schlüssel, dann aus den Schokoladentafeln die Bilder, Schokolade nur nebenbei. Schön sind die Bilder der alten Germanen, sie tragen Felle und Keulen, auf die sie sich stützen, ihre Weiber kauern auf der Erde und müssen die Schilde scheuern. Stanislaus meint, sie gebrauchten dazu ihre blonden Haare, die aussehen wie um den Kopf gelegte Bettvorhänge aus Stroh. In den meisten Tafeln liegen Bilder von unserem Kaiser, er hat sich einen Mantel von rotem Samt auf seine Schultern gelegt, in der einen Hand hält er eine Kugel, in der anderen einen goldenen Feuerhaken.
Wenn ich morgens in meinem Bett liege und die vielen Kaiserbilder ansehe, frage ich mich: Geht ein Kaiser auch aufs Klo? Die Frage beschäftigt mich sehr, und ich laufe zur Mutter. »Du wirst noch ins Gefängnis kommen«, sagt Mutter. Also geht er nicht aufs Klo.
Vom Marktplatz zu den Kirchhöfen führt die Totenstraße. Die Menschen, die dort wohnen, finden nichts dabei, daß ihre Straße »Totenstraße« heißt, sie stehen vor den Türen und schwatzen, sie schimpfen auf den Bürgermeister, weil das Trottoir, auf das alle Leute in der Stadt stolz sind, mitten in der Straße aufhört. »Wie abrasiert«, sagt Kaufmann Fischer. Ich möchte nicht in der Totenstraße wohnen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen, nur Schädel und Knochen, die haben Arbeiter gefunden, als sie neben der Mühle einen Brunnen gruben. Stanislaus und ich spielen Ball mit Schädeln, die Knochen dienen als Abschlaghölzer, Stanislaus gibt den Schädeln Fußtritte.
»Warum tust du das?«
»Großmutter hat gesagt, es sind böse Menschen gewesen, Gute bleiben nicht im Grab, Engel holen sie und fliegen mit ihnen in den Himmel zum lieben Gott.«
»Was tun sie da?«
»Pellkartoffeln fressen sie nicht.«
Ich esse Pellkartoffeln sehr gerne, zu Hause nicht, ich esse sie lieber bei Stanislaus. Seine Großmutter, seine Mutter, sein Vater, drei Schwestern und vier Brüder wohnen in der Dorfstraße, in einem kleinen Haus aus Lehm, oben deckt es ein Strohdach, alle schlafen in einer Stube, und gekocht wird darin auch. In der Dorfstraße fehlt das Trottoir, aber niemand schimpft auf den Bürgermeister. Immer, wenn ich um die Mittagszeit Stanislaus besuche, essen sie Pellkartoffeln und Grützsuppe oder Pellkartoffeln und Hering, ich stehe in einer Ecke, und das Wasser läuft mir im Mund zusammen.
»Lang zu«, sagt endlich Stanislaus‘ Mutter, »essen elf sich satt, wird es auch für zwölf reichen.«
Stanislaus pufft mich in die Seite:
»Braten und Gebackenes kannst du dir malen.«
»Wir essen auch nicht jeden Tag Braten und Gebackenes,« »Ihr könntet so fressen, wenn ihr wolltet.«
Ich nehme meine Mütze und renne nach Haus.
»Was mußt du dort zu Mittag bleiben«, schilt mich Mutter, »du ißt den armen Leuten ihr bißchen Brot weg.«
»Warum haben sie so wenig?«
»Weil der liebe Gott es so will.«
Die Totenstraße ist sehr lang, ich denke mir, wegen der Toten, sie wollen noch ein bißchen spazierenfahren, ehe sie ins Grab gelegt werden und es sich entscheidet, ob sie darin bleiben oder in den Himmel fliegen.
Neulich ist Onkel M. gestorben. Ob er ein guter Mensch war? Ich stehe an der Friedhofsmauer. Von einer Weide breche ich mir eine Gerte und spitze sie an, ich klettere über die Mauer, laufe zum Grab und bohre, der Friedhofswärter überrascht mich, ich mache mich aus dem Staub.
Auf dem Nachhauseweg denke ich: ›Was ist ein guter Mensch?‹
Draußen krachen Türen. Im Zimmer ist es dunkel. Dort schläft Vater, dort Mutter. Es ist gar nicht dunkel. Und die Betten von Vater und Mutter sind leer. Haben Räuber sie überfallen? Von draußen blinkt es rötlich. Ein Horn bläst, immer den gleichen heulenden Ton. Ich springe aus dem Bett, reiße die Tür auf, renne auf die Straße, drüben, auf der anderen Seite des Marktes, brennt ein Haus, rot und grün und schwarz, Feuerwehrleute mit glänzenden Helmen auf dem Kopf rennen wild umher, und die Menschen stellen sich auf die Zehenspitzen. Jule, unsere Köchin, sieht mich und jagt mich ins Bett zurück.
»Warum brennt es, Jule?«
»Weil Gott strafen will.«
»Warum will Gott strafen?«
»Weil kleine Kinder zuviel fragen.«
Ich fürchte mich, ich kann nicht mehr einschlafen, es riecht nach Rauch, es riecht nach Versengtem, es riecht nach dem lieben Gott. Am andern Morgen stehe ich vor verkohlten Balken und Steinen, sie sind noch heiß.
»Nicht einen Knochen hat man gefunden, die arme Frau ist in ihrem Bett verbrannt.«
Ich drehe mich jäh um, der Mann, der es sagte, ist weitergegangen.
Ich laufe nach Haus, setze mich in eine Ecke, der Stock, mit dem ich in der Asche gestochert habe, klebt in meiner Hand.
Herr Levi kommt. Er lacht.
»Schöne Sachen machst du.«
Ich rühre mich nicht.
»Alle in der Stadt wissen es, du hast Eichstädts Haus angesteckt.«
Herr Levi steckt sich eine Zigarre an und geht davon. Erst meinte Jule, ich sei schuld, nun sagt es Herr Levi.
Ich verkrieche mich auf dem Boden und bleibe dort bis zum Abend.
War es anders gestern? Ich hatte mich ausgezogen, mich gewaschen, ins Bett gelegt und geschlafen, gewaschen habe ich mich nicht, nur Mutter vorgeredet, ich hätte es getan, also gelogen. Darum das Feuer? Darum diese schreckliche Strafe? Ist Gott so streng? Ich denke an die Pellkartoffeln, an die verbrannte Frau Eichstädt.
Im Zimmer ist es dunkel. Ich liege und horche. Rechts von der Tür hängt ein rundes längliches Glasröhrchen, an das zu rühren mir verboten ist, das Stubenmädchen Anna bekreuzigt sich, bevor sie es abstaubt.
»Da wohnt der Juden ihr Gott drin«, brummt sie.
Mein Herz klopft. Noch wage ich es nicht. Wenn »Er« nun aus der Rolle herausspringt und schreit: »Ich bin der liebe Gott! Zur Strafe, daß du gelogen hast...« Ich lasse mir nicht länger Angst einjagen, und vor Pellkartoffeln fürchte ich mich auch nicht, mit einem Satz bin ich an der Tür, klettere auf die Kommode, reiße den »lieben Gott« herunter. Ich zerschlage das Glasröhrchen. »Er« rührt sich nicht. Ich werfe das Röhrchen auf den Boden. »Er« rührt sich nicht. Ich spucke es an, ich nehme meine Schuhe und schlage drauf los. »Er« rührt sich nicht. Vielleicht ist »Er« schon tot. Mir ist leicht zumute. Ich packe Glas- und Papierfetzen, stopfe sie in die Sofafalte zwischen Lehne und Polster, morgen werde ich den »lieben Gott« begraben.
Fröhlich lege ich mich ins Bett, mögen alle wissen, daß ich den »lieben Gott« totgeschlagen habe.
Ich habe geglaubt, alle Jungen und Mädchen gehen zusammen in eine Schule. Ilse und Paul gehen in die »evangelische«, Stanislaus in die »katholische«, ich in die »jüdische«. Dabei lernen sie lesen und schreiben wie ich, und die Schulhäuser sehen eins aus wie das andere.
Der Lehrer heißt Herr Senger. Wenn er morgens die Türe aufreißt, rufen wir: »Guten Morgen, Herr Senger.« Er setzt sich aufs Katheder und legt den Rohrstock neben sich. Wer seine Aufgabe nicht gelernt hat, muß seine Hände vorstrecken, dann schlägt Herr Senger mit dem Rohrstock darauf, »zur Strafe«, sagt er. Wer seine Aufgaben gelernt hat, den nimmt Herr Senger auf die Knie, er muß seine Backe an die Backe von Herrn Senger legen, die ist stachlig, und Herr Senger reibt sich daran, »zur Belohnung«, sagt er.
In der Pause zeigen wir uns die Frühstücksstullen.
»Ich habe Fleisch.«
»Ich habe Käse.«
»Was hast du drauf?«
»Er hat gar nichts drauf.«
Kurt will seine leere Stulle verstecken, wir lassen es nicht zu, wir lachen ihn aus, Kurt ruft: »Ich werde es meiner Mutter erzählen«, wir rufen: »Petzer«, Kurt wirft sein Brot in den Sand und weint.
Wie wir von der Schule nach Haus gehen, sagt Max: »Meine Eltern erlauben nicht, daß ich mit Kurt spiele, seine Mutter wäscht bei uns jede Woche, alle armen Leute sind schmutzig und haben Flöhe.«
Ich spiele mit Stanislaus. Ich habe eine Eisenbahn geschenkt bekommen. Ich bin der Lokomotivführer. Stanislaus ist Weichensteller. Mitten in der Fahrt bremse ich.
»Weiterfahren«, ruft Stanislaus, er steckt zwei Finger in den Mund und pfeift schrill.
»Hast du Flöhe?«
»Fahr weiter.«
»Bist du schmutzig?«
Stanislaus tritt mit seinem Fuß auf die Eisenbahn und zerbiegt das schöne Spielzeug zu einem Haufen Blech.
»Wenn Max doch sagt, daß alle armen Leute schmutzig sind und Flöhe haben. Jetzt hast du meine Eisenbahn kaputt gemacht, und du willst mein Freund sein?«
»Ich bin nicht dein Freund. Ich hasse euch.«
Auf der Straße schreien die Kinder: »Jude, hep, hep!« Ich habe es früher nie gehört. Nur Stanislaus schreit nicht, ich frage Stanislaus, warum die anderen so schreien.
»Die Juden haben in Konitz einen Christenjungen geschlachtet und das Blut in die Mazzen gebacken.«
»Das ist nicht wahr!«
»Daß wir schmutzig sind und Flöhe haben, das ist wohl wahr, wie?«
Lehrer Senger geht über den Marktplatz. Ein Junge läuft hinter ihm her und singt:
»Jiddchen, Jiddchen, schillemachei,
reißt dem Juden sein Rock entzwei,
der Rock ist zerrissen,
der Jud hat geschissen.«
Lehrer Senger geht, ohne sich umzudrehen, weiter. Der Junge ruft: »Konitz, hep, hep! Konitz, hep, hep!«
»Glaubst du wirklich«, fragte ich Stanislaus, »daß die Juden in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben? Ich werde nie mehr Mazzen essen.«
»Quatsch! Gib sie mir.«
»Warum rufen die Jungen Jude, hep, hep?«
»Rufst du nicht auch Polack?«
»Das ist etwas anderes.«
»Ein Dreck! Wenn du‘s wissen willst, Großmutter sagt, die Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen.«
Ich laufe in die Scheune, verkrieche mich im Stroh und leide bitterlich. Ich kenne den Heiland, er hängt bei Stanislaus in der Stube, aus den Augen rinnen rote Tränen, das Herz trägt er offen auf der Brust, und es blutet. »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, steht darunter. Wenn ich bei Stanislaus bin und niemand aufpaßt, gehe ich zum Heiland und bete.
»Bitte, lieber Heiland, verzeih mir, daß die Juden dich totgeschlagen haben.«
Abends im Bett frage ich Mutter:
»Warum sind wir Juden?«
»Schlaf, Kind, und frag nicht so töricht.«
Ich schlafe nicht. Ich möchte kein Jude sein. Ich möchte nicht, daß die Kinder hinter mir herlaufen und »Jude« rufen.
Auf dem Hof des Tischlers Schmidt steht ein Schuppen. Dort versammeln sich die »Wahren Christen«. Sie blasen Posaune und singen Haleluja, sie knien sich hin und schreien: »Dein Reich ist nahe, o Zion!« Sie umarmen sich und küssen sich und blasen wieder Posaune. Ich will auch ein wahrer Christ werden, darum gehe ich in den Schuppen. Der Herr Vorleser streichelt mich, schenkt mir Zucker und sagt, ich sei »auf dem rechten Wege«.
»Wir werden alle in Liebe und Eintracht das heilige Weihnachtsfest feiern«, sagt er.
»Ja«, sage ich.
»Und du, mein Kind, wirst dieses Weihnachtsgedicht aufsagen.«
Ich bin selig, ich bin kein Jude mehr, ich werde ein Weihnachtsgedicht aufsagen, keiner darf mir mehr »Jude, hep, hep!« nachrufen. Ich nehme meine Trompete und blase wie er die Posaune, dann spreche ich mit lauter, feierlicher Stimme das Weihnachtsgedicht. Am andern Tag sagt mir der Herr Vorleser, es täte ihm leid, aber dem Herrn Heiland sei es angenehmer, wenn Franz das Gedicht aufsage.