Noch nach jeder der letzten vier verlorenen Bundestagswahlen wurden Forderungen der Basis nach Erneuerung laut. Und jedes Mal gelang es der Parteiführung, diese Rufe aufzunehmen, und sie in eigener Regie ins Leere laufen zu lassen. Unter „Verantwortung übernehmen!“ verstanden die Parteioberen immer, nichts aus dem Ruder laufen zu lassen. Und das hieß, jeden möglichen Schwenk nach links zu verhindern und am Schröder’schen Erfolgskurs des Sozialstaatsabbaus festzuhalten, was zwar die Chance auf zukünftige Ministerposten sicherte, aber der Partei den kontinuierlichen Weg in die politische Bedeutungslosigkeit bescherte.
Agendaarchitekt und Wahlverlierer Steinmeier griff noch am Wahlabend 2009 nach dem Fraktionsvorsitz, was man ihm auch durchgehen ließ. Martin Schulz dagegen sah am Wahlabend seine Verantwortung unter frenetischem Beifall darin, die Partei zu erneuern und in die Opposition zu führen. Das allerdings schien rasch vergessen, als ihm der Bundespräsident die Chance bot, staatspolitische Verantwortung für sich selbst neu zu definieren, und, wie kolportiert wird, als glühender Europäer, erfolgreich verbissen um das Amt des Außenministers zu feilschen.
Was wird nun nach Abgang von Schulz aus der versprochenen Erneuerung? Bedenken von Delegierten auf dem Bonner Parteitag, wie sich denn die Partei unter den Bedingungen einer Regierungsbeteiligung erneuern könne, wurden versucht zu zerstreuen. Schließlich verbürge Opposition keineswegs eine Garantie auf Erneuerung. Eine bittere aber wahre Erkenntnis, wenn man sich an die Zeit Steinmeier’scher Oppositionsführerschaft erinnert! Völlig verfehlt aber dann der Verweis auf Willy Brandt, der es doch aus dem Außenministerium unter Altnazi Kiesinger CDU) ins Kanzleramt geschafft hätte. Welch ein Hohn, die heutige Situation mit der damaligen vergleichen zu wollen! Brandt hatte durch seine authentische, integre Persönlichkeit und seine klare politische Haltung für seinen Wahlkampf große Teile der Gewerkschaftsbewegung und breite Kreise der Intelligenz, darunter viele Künstler, begeistern können. Sein Wahlsieg und das Motto „Mehr Demokratie wagen“ durften als Zeichen eines geistigen Aufbruchs im Land und in der Partei selbst verstanden werden und führten zu einer historischen Erneuerung in Politik und Gesellschaft. Die mit dem Nobelpreis gewürdigte „Neue Ostpolitik“ wurde nicht erreicht durch einen Kuschelkurs mit den Restposten der Adenauer-Ära, sondern im erbitterten Widerstand gegen die Hardliner von CDU/CSU!
Auffallend ist allerdings, dass, wenn heute die Rede auf Erneuerung kommt, auf Parteivorstandsebene eine große Sprachlosigkeit herrscht, wenn man von Hinweisen auf struktuelle Probleme absieht. Keine Andeutungen auf mögliche Richtungen einer inhaltlichen Erneuerung. Kein Wunder bei der von Spiegeljournalist Markus Feldenkirchen bei „hart aber fair“ zu Recht diagnostizierten „totalen inhaltlichen Entleerung“ als Hauptkriterium der Krise der SPD. Wenn die SPD behaupten kann, der Koalitionsvertrag trüge zu siebzig, ja achtzig Prozent sozialdemokratische Handschrift, die CSU hochzufrieden mit dem Ergebnis ist, und die Kanzlerin pflichtgemäß nur das verlorene Finanzministerium schmerzlich vermisst und stolz ist, allen sozialdemokratischen „Irrwegen“ einen Riegel vorgeschoben zu haben, dann kann das doch nur bedeuten, dass die Handschriften verwechselbar sind, ja, dass man von Handschrift, geschweige denn von sozialdemokratischer eher schweigen sollte! „Sozialdemokratisch“, zu einer Worthülse verkommen, bedeutet denn auch aus dem Mund von Parteiprominenten derzeit nicht mehr als eine hohle Phrase.
„Seeheimer“ Olaf Scholz forderte in seinem umfangreichen Profilierungspapier: „Keine Ausflüchte“, „schonungslose Betrachtung der Lage“. Was da versprochen, wird nicht eingelöst. Im Gegenteil – Scholz produziert statt Aufklärung allenthalben Nebelkerzen, und die vom Leser zu gewinnende Erkenntnis, er wäre der bessere Kandidat gewesen. Auch andere beklagen wie er, der Begriff, „Soziale Gerechtigkeit“ würde überstrapaziert, und es reiche nicht, die hart oder überhaupt nicht arbeitenden Menschen in den Fokus zu nehmen. Und damit ist eigentlich schon alles gesagt.
Schulz seinerseits holte noch schnell Lars Klingbeil als Generalsekretär an Bord. Auch dieser Mitglied des konservativen Seeheimer Kreises, womit wohl garantiert ist, in welche Richtung eine programmatische Erneuerung nicht gehen soll.
Was wäre schließlich von der designierten Parteivorsitzenden im Erneuerungsprozess zu erwarten? Nachdem Andrea Nahles ehrlicherweise ihren linken Ambitionen als Jusochefin unter Lafontaine und als Gründungsvorsitzende des Forums Demokratische Linke 21 abgeschworen hat, wohl kaum etwasin diese Richtung. Sie wird als Vorsitzende und Zuchtmeisterin ihrer Fraktion Seit‘ an Seit‘ mit Kauder (CDU) für den Koalitionsfrieden sorgen, sich kämpferisch an Linksfraktion und AfD abarbeiten und hin und wieder eine dann nicht so gemeinte Verbalattacke gegen Merkel reiten. Für einen Aufbruch der SPD zu neuen Ufern, zu stürmisch wachsender Wählergunst, zu einem Wahlsieg bei den nächsten Bundestagswahlen mit krönender sozialdemokratischer Kanzlerschaft, wovon führende GenossInnen schon heftig träumen, wird es da kaum Spielraum geben.
Die SPD hat eine lange Geschichte, die sie, wollte sie sich erneuern, ehrlich aufarbeiten müsste. Von ungebrochenem Stolz müsste sie sich dann allerdings verabschieden.
Seit die SPD parlamentarisch im Reichstag und in Landtagen verankert war, entspann und verhärtete sich ein Kampf, in dem es um die Ausrichtung, um die drohende Entwicklung einer revolutionären zu einer Reformpartei ging, die davon träumte, durch friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus, das kapitalistische Ausbeutungssystem überwinden zu können. Übriggeblieben ist ihr Selbstverständnis als Reparaturbetrieb, das Drehen an kleinen Stellschrauben, „um das Leben der Menschen täglich ein bisschen besser zu machen“, wie man es letzthin auf den Werbeveranstaltungen für den Koalitionsvertrag in den schönsten Variationen hören konnte.
Schon 1898, auf dem Stuttgarter Parteitag, mahnte August Bebel: „eine Partei die kämpft, eine Partei die bestimmte Ziele erreichen will, die muss auch ein Endziel haben Wenn man dieses aber pragmatisch ad acta legen wolle, „dann hören wir auch auf Sozialdemokraten zu sein.“* Ein anderer Delegierter ergänzte: dann „kann uns mit Recht gesagt werden: Ihr seid National-Soziale, Ihr seid Christlich-Soziale, Ihr seid Sozial-Liberale, aber bei Leibe keine Sozialdemokraten.“* Das klingt nicht unzeitgemäß. Geht es heute auch nicht mehr um den gleichen Klassenkampf und Sozialismus von vor hundertzwanzig Jahren, so doch um eine Vision, verbunden mit dem wachsenden Bewusstsein der Notwendigkeit einer neuen Systemalternative. Denn immer deutlicher wir, der moderne neoliberale Kapitalismus ist zu keiner einzigen wirklichen Lösung der drängendsten Probleme der Menschheit fähig, schon allein aufgrund seiner inneren Notwendigkeit, Wachstum und Profit unter heute immer schwieriger werdenden Bedingungen zu generieren.
Und hier könnte eine erneuerte SPD ihren unverwechselbaren Platz finden. Nebenbei: auch in Zeiten von Fake News gilt: „Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat.“ Nur wer der Wahrheit dient, hat das Recht von Freiheit und Demokratie zu sprechen. Die Lobeshymnen auf den Koalitionsvertrag zeigen, wie weit die Parteiführung diesem Anspruch nicht gerecht wird.
Allen vagen Erneuerungsversprechen sei entgegnet: Die Erneuerung der SPD wird nur dann wirklich gelingen, wenn sie den modernen, ernst zu nehmenden gesellschafts- und wirtschaftstheoretischen Diskurs aufnimmt, in dem nicht zu unrecht die Marxsche Kapitalismuskritik eine prägnante Rolle spielt. Die Erneuerung wird nur dann gelingen, wenn sie zurück zu ihren Wurzeln findet und sich, frei nach Albert Camus, nicht in den Dienst derer“ stellt, „die die Wirtschaft leiten, sondern „in den Dienst derer, die sie erleiden.“ Sie muss aufhören, mit immer neuen ideologischen Konstruktionen und Umdeutungen ihrer Werte zu versuchen, den klaren Blick auf die unsozialen Wirklichkeiten mit all ihren Gefahren zu verkleistern! Zur Erneuerung gehört auch, sich von einer bedenklichen Technologiegläubigkeit zu trennen. Technologie, die vielbeschworene Digitalisierung eingeschlossen, verändert Lebens- und Arbeitswelt unerbittlich und rasant. Aber: weder werden Technik an sich noch die Träumereien einer entsprechend allumfassenden Bildungsinitiative innerhalb des gegenwärtigen Systems zu Garanten für soziale Gerechtigkeit. Diese muss nach wie vor erkämpft werden. Es gibt in unseren Breiten zwar nicht mehr das bis aufs Blut ausgebeutete Industrieproletariat, aber an seine Stelle ist ein ständig wachsendes Heer raffiniert prekarisierter Menschen getreten. Sich deren Schicksal nicht nur halbherzig anzunehmen, sondern die gesellschaftlichen Ursachen über den nationalen Rahmen hinaus zu bekämpfen, machte den Unterschied und muss zur Kernaufgabe einer erneuerten SPD werden. Nur dann trüge sie ihren Namen zurecht! Die deutsche und internationale Sozialdemokratie wird sich nur dann erneuern können, wenn sie wieder in Theorie und Praxis, ganz gleich ob in Regierungsverantwortung oder Opposition, ihren Horizont über die bestehenden Verhältnisse hinaus erweitert.
*zitiert nach A. Laschitza, „Im Lebensrausch, trotz alledem“ S. 101 Aufbau-Verlag