Zwanzig durch Schusswaffe ermordete Kinder sind eine Tragödie. Es fällt schwer, sich tote Kinderleiber vorzustellen. Es scheint so unwirklich. Trost mag es für die Eltern keinen geben. Und ob sie das Trauma aus diesem Verlust je überwinden können, scheint doch sehr fraglich. Verdrängen vielleicht. Auch das wäre dann schon ein modus vivendi.
Dass man sachlich darüber berichtet wäre der journalistische Idealfall. Leider geschieht das gerade nicht. Die üblichen Medien des Boulevard überströmen ihre Leser und Zuseher mit Seelenkitsch, lassen sie ihn Tränenmeere ertrinken. Selbst sich selbst seriös schimpfende Vertreter der journalistischen Zunft sind nun larmoyant, neigen zur Rührseligkeit und betonen die Unfassbarkeit, dass da so viele Kinder aus ihrem Leben und Lachen gerissen wurden. Und alle, ausnahmslos alle, widmen sich des heulenden US-Präsidenten.
In einem solchen Augenblick mag es kleinkariert und vielleicht auch pietätlos sein, dergleichen Rührseligkeit zu kritisieren. Schlimmer noch, wenn man Vergleiche zieht. Aber um den Hype in Relation zu setzen, wieder klar zu sehen, ist eine solche Kritik notwendig.
18.000 Kinder sterben täglich an Hunger. Zum besseren Verständnis: Bevor man endgültig verhungert ist, litt man an Sichtproblemen, erblindete, war apathisch und wachstumsgehemmt, elementarste Körperfunktionen konnten nicht ausgeführt werden. 30.000 Kinder sterben pro Tag insgesamt an vermeidbaren oder behandelbaren Krankheiten. Zwar sind unter den Opfern auch Kinder, die als Hungertote zählen, aber nicht alle sind auf Mangelernährung zurückzuführen. Über die kindlichen Opfer pro Tag in Kriegsgebieten finden sich kaum Zahlen. Sie dürften allerdings nicht unwesentlich sein.
"Die Weltlandwirtschaft könnte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren. Das heißt, ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wírd ermordet", sagte Jean Ziegler vor etlichen Jahren. Kinder, die an heilbaren Krankheiten sterben, unbeachtet von den Pharmakonzernen, die die benötigten Medikamente herstellen, werden auch ermordet. Kindliche Kriegsopfer sowieso.
Sind achtzehntauend durch Hunger ermordete Kinder weniger Tragödie? Machen wir uns ein Bild über die Berge toter Kinderleiber? Kümmern uns die Eltern, die zu ausgehungert sind, um überhaupt zu trauern? Zu ausgehungert, um überhaupt ein Trauma zu entwickeln, für das sie erst die Energie hätten, wenn sie regelmäßig satt würden?
Welcher Präsident weint um diese Kinder? Welche Presse berichtet davon mit derselben skandalös-melodiösen Tonlage wie in diesem aktuellen Fall? Haben wir unseren modus vivendi mit den durch Hunger ermordeten Kindern schon gefunden? Ist es unser Modus, sie einfach zu vergessen und sie einmal jährlich mit pseudoethischen Habitus und ritueller Selbstverständlichkeit, meist zur Adventszeit, per Ablaßspendenschein abzuspeisen?
Heute Abend soll Jörg Pilawa die Springer-Spendensendung Ein Herz für Kinder leiten. Die schwerste Sendung seines Lebens, nennt er sie nun nach dieser Tragödie. Und die Tragödie die sich täglich abspielt? Kann er in ihrem Angesicht unbeschwert durchmoderieren? Oder steht sie ihm nicht im Angesicht, weil er wie alle nicht zu viel darüber wíssen möchte? Haben wir uns so sehr daran gewöhnt, dass des wohl in fernen Weiten Hungertote gibt? Mit achtzehntausend toten schwarzen und asiatischen Kindern lebt man wohl besser, als mit zwanzig Kindern aus unserer westlichen Mitte?
Die zwanzig Kinder sind ein Desaster. Man kann es nicht oft genug erwähnen. Aber spricht aus dem Umgang mit diesem Fall nicht auch eurozentristischer Dünkel? Ist es nicht auch gewissermaßen ein rassistischer Einstieg in diese Thematik? Was ist diese westliche Gesellschaft doch verlogen.