Kennt Ihr den Proust-Effekt? Dieses Phänomen ist nach dem französischen Schriftsteller Marcel Proust benannt, der in einem seiner Romane beschreibt, wie beim Hauptdarsteller nur durch den Geruch frischgebackener Madeleines plötzlich längst verloren geglaubte Kindheitserinnerungen wieder aufgetaucht sind.
Es war allerdings weder ein Gebäck noch direkt ein Geruch, sondern ganz einfach nur der Anblick eines Brünneli, der kürzlich bei mir eine Kettenreaktion an Erinnerungen ausgelöst hat: eines dieser alten, schweren, riesigen weissen Lavabos mit einem rauen schwarzen Rand, das viel mehr an einen Viehtrog erinnert. Habt Ihr es vor Augen? Als ich kürzlich vor dem Abholen des Kleinen aus der Gitarrenstunde das Meitli-WC im altehrwürdigen Triemli-Schulhaus aufsuchte, erlebte ich ein regelrechtes Flashback: Als ich meine Hände wusch und das Wasser vom viel zu hoch platzierten Wasserhahn laut und dumpf und auf alle Seiten spritzend ins Becken schoss, war ich schlagartig wieder 8 Jahre alt und besuchte anno 1972 die 2. Klasse beim Frölein Kilchherr.
Im Meitli-WC roch es süsssauer nach Schule, nach starken Putzmitteln, nach billiger Handseife, nach kratzendem WC-Papier, nach mürrischem Schulhausabwart und natürlich nach Kindern. Das permanent aufgeklappte Fenster konnte diesen ganz speziellen Duft, der sich in meinen Kopf eingebrannt hat, nicht mildern. Zudem führte es nur dazu, dass es im Meitli-WC im Winter immer so grausam kalt war und im Sommer der von draussen dringende Lärm von Motorsägen oder Rasenmähern einen daran erinnerte, dass man selber im Schulhaus drinnen gefangen war.
40 Jahre später sieht die Welt in vielerlei Hinsicht anders aus, doch einiges fühlt sich immer noch genau gleich an wie damals in dieser cremefarbig geplättelten Toilette mit schwarz-weiss gesprenkeltem Plättliboden. Sucht Euch doch auch einmal eines der vielen alten und schönen Schulhäuser in der Stadt aus und steht kurz in die Toilette – welche Kindheitserinnerungen werden bei Euch wach?
immer mittwochs im Tagblatt der Stadt Zürich