Peter Overbeck – Santiago, 11. September.
Erinnerungen an Chile
Es kommt immer wieder vor, dass ich, wenn ich durch die verschiedenen sozialen Netzwerke streife, Kommentare oder Postings von Leuten (oft aus dem libertären Spektrum) lese, die das Regime des chilenischen Diktators Augusto Pinochet verherrlichen. Dabei frage ich mich, wie ein einigermaßen vernünftig denkender Mensch, den Putsch und die Zeit danach als gut darstellen kann. Meist werden hier Argumente wie die seit Pinochet herrschende Freiheit des Marktes genannt. Ja, kein anderes Land hat die Lehre des reinen Marktes so konsequent angewendet wie Chile. Neoliberalismus in Reinstform. Was auch immer man vom chilenischen Wirtschaftssystem nach Allende halten mag, wie kann man es gut finden, wenn politisch Andersdenkende aus Helikoptern ins offene Meer und damit in den sicheren Tod geworfen werden?
“Fast zwanzig Jahre lang, solange die Militärdiktatur andauerte und noch darüber hinaus, herrschte in Chile massive Arbeitslosigkeit. Die Preise der Grundnahrungsmittel hatten sich verdoppelt, mache verdreifacht. Das Schulwesen und die medizinische Versorgung wurden privatisiert. Die staatlichen Ausgaben für Bildung wurden auf ein Drittel gesenkt. Vielleicht verheerender noch war die systematische Zerstörung des Gewebes sozialer Strukturen und Organisationen…”
Es mag richtig sein, dass Chile unter Pinochet große Modernisierungen erlebt hat. Doch gleichzeitig wurde neben der alltäglichen Gewalt eines der unsozialsten Wirtschaftssysteme geschaffen. Auch fällt in der Rückschau die Bilanz für die Chicago Boys, die Milton Friedman-Schüler, die Chiles Wirtschaft umkrempelten, ernüchternd aus. 30 Jahre nach dem gewaltsamen Umsturz der demokratisch gewählten Regierung Chiles schrieb der Spiegel: “Das durchschnittliche Wachstum zwischen 1973 und 1990 lag bei mageren 2,9 Prozent – nicht besser als der weltweite Durchschnitt. Damit nicht genug: Der Durchschnittslohn sank während der Pinochet-Ära, und der Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze stieg dramatisch von 20 auf 44 Prozent.”
Wie war Chile in der Zeit vor dem Putsch 1973?
Peter Overbeck, der aus Deutschland stammende Kameramann und politische Aktivist, kam 1971 über Brasilien, wo er im Widerstand gegen die Militärdiktatur aktiv gewesen war, nach Chile. Seine Erinnerungen an die Zeit nach dem Wahlsieg der Unidad Popular und während der Präsidentschaft Salvador Allendes beschreibt er in dem bei der Edition Nautilus erschienenen Buch Santiago, 11. September – Erinnerungen an Chile. Am 4. September 1971 hatte Allende als weltweit erster sozialistischer Präsidentschaftskandidat demokratische Wahlen gewonnen und begann das Land im Rahmen der verfassungsmäßigen Möglichkeiten zu verändern. Dabei blieben sowohl die Meinungsfreiheit als auch die Parteienvielfalt erhalten. Zu diesen Veränderungen gehörte auch die Verstaatlichung der Bodenschätze und verschiedener Industriezweige, die damals vor allem US-amerikanischen Unternehmen Profit brachten. Das führte erwartungsgemäß zu großen Spannungen mit dem Bürgertum, aber auch innerhalb des Parteienbündnisses um Allende. Overbeck beschreibt sehr anschaulich die verschiedenen Strömungen und Widersprüche innerhalb der Unidad Popular – aber auch die Verbesserungen für weite Teile der Bevölkerung durch Allendes Politik. Dennoch kam es in Chile zu ernsthaften Versorgungsproblemen, hervorgerufen durch das Embargo der Amerikaner und diverse Sabotageakte – etwa der Streik der Transportunternehmen, der – finanziert vom US-Unternehmen ITT – im Juli / August das Land nahezu lahmlegte.
Chiles 11. September
Am 11. September schließlich fuhr das Militär Panzer in der Hauptstadt auf, bombardierte den Regierungspalast und verhaftete Tausende von Menschen, die gefoltert, ermordet oder verschwunden gelassen wurden. Jeglicher Widerstand wurde brutal von der Übermacht des Militärs unterdrückt. Pinochet ernannte sich zum obersten Machthaber. Mit der Unterstützung von Amnesty International und des Bischofs Helmut Frenz gelang Overbeck und seiner späteren Frau Ruth im Oktober 1973 die Flucht nach Deutschland. Zahlreiche Menschen verließen in den Jahren der Diktatur ihre Heimat oder wurden Opfer von Verfolgung und Gewalt.
Overbeck gelingt es, die Aufbruchstimmung während der Regierungszeit Allendes und der demokratischen, gewaltfreien Revolution sachlich und doch emotional zu beschreiben. Als Leser werden wir Zeuge einer Zeit der Hoffnung, die ihr jähes Ende fand in einem Verbrechen, das nie vollends geahndet wurde.
Trotz dieser Enttäuschung und vieler anderer Ernüchterungen bin ich davon überzeugt, dass es sich nach wie vor lohnt, für eine gerechtere Gesellschaft zu streiten.
¡Venceremos!
Peter Overbeck
Santiago, 11. September.
Erinnerungen an Chile
Edition Nautilus
Hamburg 2008
255 Seiten
19,90 EUR
Titelbild: flickr / Rafael Olea (http://www.rafaelolea.cl/)