Was ist eigentlich Literatur, diese präzise geordneten Wortketten, segmentiert in Kapitel und Textabschnitte? Welchen Zweck verfolgen sie & warum? Wollen sie nur Unterhaltung sein oder auch Zeugenschaft ablegen, von Zeitverläufen, von politischen Dynamiken, von großen Lieben & gewaltigen Grausamkeiten? Oder können sie beides verbindet, gar Unterhaltendes mit einem aufklärenden Zeitdokument verknüpfen?
Ich denke, jede Antwort ist richtig, zu groß ist der Resonanzraum, der der Literatur zur Verfügung steht, jedes Szenario ist möglich – ob nun verstörend, irreführend, belustigend oder satirisch überspitzt – die Macht der Worte scheint unbegrenzt.
Nun kann man sich dem wunderlichen Reich der Literatur auf zwei vollkommen entgegen gesetzten Arten nähern – man kann den abgrenzenden oder den integrativen Weg beschreiten, maßgeblich ausschlaggebend ist hier die Absicht des Schreibers. Eine der dominantesten Lichtgestalten der deutschen Literatur ist seit eh & je, ja dieser Hanseat mit der offensichtlichen Vorliebe für Schachtelsätze - kann man machen, aber es geht auch anders, wie Erich Kästner eindrücklich bewiesen hat.
Leider wird Kästners Werk heute hauptsächlich an seinen weltberühmten Kinderbüchern gemessen, dabei war der kritischen Autor & Journalist immer deutlich mehr als "nur" ein symphatischer Kinderbuchautor. Der dezimiert politisch argumentierende & scharfsinnig beobachtender Autor gilt für mich als einer der hellsichtigsten Chronisten deutscher Zunge.
Dabei ist Kästners Agenda am ehesten mit der seines Schweizer Zeitgenossen Dürrenmatt zu vergleichen, welcher bemüht war niemanden qua Sprachlichkeit auszuschließen. Während Mann an den bildungsbürgerlichen Horizont seiner Leser appellierte und genussvoll opulente assoziative Sprachbilder und Anspielungen zusammenfügte, deren Decodierung ein gewisses Quantum soziokultureller Bildung voraussetzt, bevorzugt Kästner eine einfachere, barrierefreiere Sprache – ohne dabei auf thematische Komplexität zu verzichten...
Die Schilderungen des hanseatischen Bürgertums begegneten jedem von uns im Deutschunterricht, von der Lebenswirklichkeit des Dresdners Kästners fehlt bisher leider jede größere Spur, dabei sind diese Erinnerungen mehr als packend. Aber scheinbar fehlt in Deutschland der Wille (oder das Interesse) sich mit einem der „verfemten Autoren“ erneut auseinanderzusetzen. Und so obliegt es dem Schweizer Atrium-Verlag die Neuedition des (Gesamt-)Werks zu betreuen.
Ich möchte euch aus dieser Auswahl zwei Bücher im speziellen vorstellen, namentlich den von Kästner persönlich betreuten Auswahlband „Bei der Durchsicht meiner Bücher“, welcher Gedichte erhält, die er bis 1932 herausgab. Diese scharfen, stilsicheren, spöttischen Sotissen weisen ihn als spitzzüngigen Propheten des herannahenden Unheils aus.
Und so ist es keine wirkliche Überraschung, dass man seine Werke im Namen der unseligen literaturpolitischen Ideologie des NS-Staats den Flammen übergab – der Vorwurf: Seine subkulturelle Literaturstudie „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ enthiele zahlreiche pornografische Sequenzen & stachele zur Unsittlichkeit an. Dass der „pornografische Kinderbuchautor“ den sich abzeichnenden Zivilisationsbruch wortgewaltig ankündigte und dass die Engstirnigkeit der nationalsozialistischen Weltsicht angeklagt wurde, blieb erwartungsgemäß unerwähnt.
In diesen kurzen Texten werden die zahlreichen Talente dieses Autors sehr deutlich – zum einen seine brillante Beobachtungsgabe, welche in der Verbindung mit seiner bissigen, humorvollen und unbequemen (nicht selten höhnische) Schreibe eine erfrischende Dynamik entwickelt und zum anderen seine kämpferische Bereitschaft sein zutiefst humanistisches Weltbild mit der Feder zu verteidigen – Kästner ist beiderlei, dezidiert engagé, nicht selten enragé & stets bereit bissigstes mit einem Augenzwinkern abzumildern. Sehr empfehlenswertes Buch!
Der zweite empfohlenen Titel sind die Kindheitserinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“ – in denen der 1899 geborene Kästner von seiner kleinbürgerlichen Vergangenheit in Dresden berichtet.
Schilderungen einer Kindheit zu Beginn des letzten Jahrhunderts - im Hinterhof einer Mietkaserne, ohne Garten, ohne große Bibliothek oder kulturaffine Familienstrukturen - bösen Zungen könnten man auch den Begriff der „bildungsferne Schichten“ in den Mund legen. Vielleicht wäre es - gerade in den Tagen der Pisamelancholie und der nicht selten herablassenden Debatte um Bildungsgutscheine - eine reizvolle Idee, aufzuzeigen, dass auch Menschen „niederer Herkunft“ zeitlose Literatur erschaffen können – auch ohne hanseatische Großbürgerlichkeiten zu bedienen.
Kurz: Es ist höchste Zeit für eine Re-Lektüre Kästners, man sollte ihn von der irreführenden Patina des harmlosen Kinderbuchautors befreien, seine wachen, soziokulturellen Studien (die überraschend aktuell wirken) genussvoll neu erleben und seine noch immer visionäre, journalistische Brillanz zu würdigen.
Kästner, der seine Kleinbürgerlichkeit nie verleugnete, sondern offenherzig thematisierte, könnte eine wohltuende, alternative Perspektive auf die deutsche Literaturlandschaft eröffnen, an der es in diesem Lande leider noch immer mangelt. Daher bekommt diese Reedition meine allerwärmste Flaneurempfehlung. Beide Bücher können hier & hier erstanden werden.