Das kurze 20. Jahrhundert
Er war einer der einflussreichsten Historiker unserer Zeit. Begriffe wie das „kurze 20. Jahrhundert“ oder die „Erfindung der Tradition“ gehen auf ihn zurück. Bis zuletzt blieb er überzeugter Marxist und Vertreter der britischen Linken. Am 1. Oktober 2012 starb Eric Hobsbawm 95-jährig in London. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Darmstadt hat kürzlich die beiden Werke Das Zeitalter der Extreme und Gefährliche Zeiten des Ausnahmehistorikers in einem Doppelband veröffentlicht.
“Wie können wir dem ‘Kurzen 20. Jahrhundert’ einen Sinn abgewinnen, also den Jahren vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, die, wie wir heute im Rückblick erkennen können, eine kohärente historische Periode bildeten, welche nun beendet ist? Wir wissen nicht, was als nächstes kommt und wie das dritte Jahrtausend aussehen wird, aber wir können sicher sein, dass es vom Kurzen 20. Jahrhundert geprägt sein wird.”
Das 20. Jahrhundert war von Extremen geprägt. Ebenso prägten diese Extreme das Leben des Eric Hobsbawm, dessen Nachname übrigens auf eine Anglifizierung des Namens Obstbaum zurückgeht.
Geboren wurde er 1917 im ägyptischen Alexandria als Sohn eines polnisch-
jüdischen Vaters und einer österreichisch-jüdischen Mutter, die zwei Jahre zuvor in Zürich geheiratet hatten. Aufgewachsen ist er in Wien. Nach dem frühen Tod seiner Eltern nahmen Verwandte in Berlin den Jungen 1931 zu sich. Hier kam er auch das erste Mal in Kontakt mit dem Marxismus und erlebte das Emporkommen der Nationalsozialisten, nach deren Machtübernahme er nach London auswanderte. Mit einem Stipendium studierte er später in Cambridge.
Neue Schule marxistischer Historiker
Nach dem Zweiten Weltkrieg begründete Hobsbawm zusammen mit Thompson und Hill eine neue marxistische historische Schule. Nicht die großen Staatsmänner standen mehr im Mittelpunkt der historischen Betrachtung, sondern die Unterdrückten. Die soziale Ungerechtigkeit und die Suche nach einem Weg, diese zu überwinden, wurden zu Hobsbawms zentralem Thema. Bis zum Schluss blieb er Mitglied der Kommunistischen
Partei, bis zuletzt verteidigte er den Marxismus.
Sein bedeutendstes Werk
Das erstmals 1994 erschienene Buch Das Zeitalter der Extreme gilt als Hobsbawms bedeutendstes Werk. Es beginnt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und endet mit dem Untergang der Sowjetunion. Auch wenn er als Kommunist scharfe Kritik an den Zuständen und Praktiken in der UdSSR übte, sah er in ihr einen Gegenpol zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Hobsbawm schrieb über das kurze 20. Jahrhundert, weil er es für beendet ansah. Während die drei Jahrzehnte von 1914 bis 1945 durch die Weltkriege bestimmt wurden, folgte ein sogenanntes Goldenes Zeitalter, das bis Mitte der 1970er Jahre andauerte. Hier gab es trotz der Konfrontationen zwischen den großen Ideologien, zwischen Ost und West, keinen weiteren Großkrieg mehr und vor allem in Amerika und Europa wuchs der Wohlstand. Die Revolte der Jugend und der Studenten um 1968, aber auch die Ölkrise markierten einen Wendepunkt und leiteten eine Zeit ein, die schließlich mit dem Untergang der Sowjetunion 1990 endete.
Nicht überrascht von der Finanzkrise
Hobsbawm war ein herausragender Historiker und weitsichtiger Denker. Die 2008 durch den Zusammenbruch der Lehman Bank ausgelöste Finanzkrise etwa überraschte Hobsbawm wenig. In einem Interview mit dem Stern sagte er dazu, die Banker haben sich „absolut systemimmanent verhalten. Profit. Gewinn. Maximales Wirtschaftswachstum. Die marktradikalen Theorien sind ja wunderbar – wenn man von der Wirklichkeit absieht. Man konstruiert sich ein System, nennt es Freiheit, und in der Theorie funktioniert es: Jedermann, jeder Mensch, jede Firma sucht für sich den Vorteil, den rational kalkulierbaren Vorteil, und der Markt, jenseits des menschlichen Urteils, regelt alles zum Guten. Eine primitive Ideologie.“
Die Krise als solche war für ihn voraussehbar. Marx hatte sie 150 Jahre zuvor vorausgesagt. Hobsbawm schrieb dazu über das Kommunistische Manifest:
„Was 1848 einem unvoreingenommenen Leser als revolutionäre Rhetorik oder bestenfalls als plausible Prognose erscheinen mochte, kann heute als eine knappe Beschreibung des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts gelesen werden.“
Das Ende des Kapitalismus hat Hobsbawm zwar nicht miterleben können, dennoch bleibt der dieser nie das letzte Wort.
Das Kurze 20. Jahrhundert
Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert
wbg Theiss
1260 Seiten
58,00 EUR