von Jens Voeller
Gleich zu Beginn eine Warnung: der folgende Beitrag hat mit der eigentlichen Ausrichtung dieses Blogs nichts zu tun. Es geht um ... Fußball! Der Text handelt nicht von Politik (und ist vielleicht trotzdem schief). Vielleicht verschafft er aber dem einen oder anderen trotzdem etwas Zerstreuung. Also los.
Boris Herrmann, offenbar Sportredakteur bei sueddeutsche.de, ist ein Zeitgeist-Surfer. Eigentlich benutze ich dieses Wort nicht, denn es ist besudelt durch den Versuch von (vermeintlichen) Konservativen, es zur Diskreditierung eines nachhaltigen Wertewandels zu missbrauchen. Aber für Herrn Herrmann mache ich eine Ausnahme, einfach weil es genau ins Schwarze trifft. Mit seinem Artikel „Leitwölfe im modernen Fußball – So zeitgemäß wie ein Stummfilm“ hat er ein besonders schlechtes (und daher auch wieder gutes, weil lehrreiches) Beispiel für einen Debatten-Beitrag abgeliefert.
Der Artikel beginnt mit einem Lobgesang auf den deutschen (Männer-)Fußball und seine derzeitigen Erfolge. Als Kronzeuge wird der spanische Weltmeister-Trainer Vicente del Bosque angeführt. Dass dessen Lobhudelei Methode haben könnte, weil Spanien als amtierender Welt- und Europameister ganz unweigerlich als Favorit in die nächsten Turniere geht und von diesem schwarzen Peter gerne etwas abgeben würde, kommt dem Autor anscheinend nicht in den Sinn. Es darf daran erinnert werden, dass vor dem letztjährigen WM-Halbfinale (nach zwei deutschen Kanter-Siegen) spanische Zeitungen martialisch-düstere Titel wie „Deutschland macht Angst“ oder „Deutschland ist eine perfekte Maschine“ ersannen, bevor diese „Maschine“ dann von Spanien stillgelegt wurde.
Im Folgenden wundert sich der Autor darüber, warum die deutsche Fußballwelt über die Rolle von Führungsspielern und „längst widerlegte Autoritätsmuster“ diskutiert, anstatt sich „ausgiebig über sich selbst [zu] freuen“. Das wirft zwei Fragen auf: Was ist passiert? Und: Gibt es wirklich Grund zur Freude?
Beginnen wir mit der Freude: Es ist unbestreitbar, dass es in den letzten Jahren eine Flut von jungen Talenten, also einen Zugewinn von spielerischer Qualität gegeben hat. Deutschland ist amtierender Vize-Europameister und WM-Dritter und bei den letzten drei Weltmeisterschaften erst gegen den späteren Titelträger ausgeschieden. Die Nationalmannschaft hat viele junge Spieler, die bereits internationale Turnier-Erfahrung haben und denen ein immer noch großes Entwicklungspotenzial bescheinigt wird. Kaum ein Land hat eine so homogen besetzte und spannende nationale Liga, wie sie die Bundesliga ist. Der Fußball hat sich überall weiter entwickelt, und wenn Deutschland in manchen Bereichen Defizite hatte, konnte es die Lücke zumeist schließen. Das weckt Erwartungen, ja, es schürt Titel-Hoffnungen.
Andererseits: von welchem Land sollte man das erwarten können, wenn nicht von Deutschland? Natürlich läuft es zur Zeit besser als noch vor zehn Jahren, aber das sollte mehr Anlass zur Erleichterung denn zur Freude sein, denn das kann doch wohl nicht der Maßstab sein. Der DFB ist der größte nationale Fußball-Verband der Welt und schöpft daher aus dem größten Talente-Fundus, und nur in wenigen Ländern wird ähnlich viel Aufwand für den Fußball betrieben wie hier, sei es an medizinischer Betreuung, Spieler-Ausbildung oder Wissens-Erwerb über kommende Gegner oder System und Taktik im Allgemeinen. Gemessen an der Ausstattung mit Ressourcen, ja, mit Produktionsfaktoren muss man sagen: wenn es auch nur ein Land gibt, dass angesichts seiner Möglichkeiten dauerhaft in die Weltspitze des Fußballs gehört, dann ist es Deutschland. Dass es da über viele Jahre nicht war, deutet auf einen relativen Defekt im Kombinationsprozess hin, den zu erforschen und abzustellen nun auch Zeit genug war. Zur Selbstzufriedenheit besteht angesichts des noch vorhandenen Rückstands auf Spanien (aber auch die Niederlande) überhaupt kein Anlass.
Zur anderen Frage: Was ist passiert? Oliver Kahn hat jetzt ein Blog und in einem Eintrag einen Mangel an Führungsspielern, an Leitwölfen beklagt, und zwar insbesondere beim FC Bayern. Damit scheint er einen Nerv getroffen zu haben, denn alle deutsche Fußballprominenz sah sich zu Stellungnahmen veranlasst, zu ablehnenden aber auch zustimmenden. Was wir von Herrn Herrmann leider nicht erfahren: vor einigen Wochen hat sich Matthias Sammer in einem Rundumschlag in ähnlicher Weise, nur etwas grundsätzlicher dazu geäußert, dass man bei aller Modernitäts-Euphorie nicht die traditionellen eigenen Stärken aus dem Blick verlieren sollte. Tenor: irgendwann werden wir Spanien schlagen, aber wir werden sie nie und nimmer an die Wand spielen.
Für Boris Herrmann ist dagegen die Sache klar: es gibt nur noch Kollektiv- und System-Fußball mit flachen Hierarchien und „ganz unabhängig von der historisch belasteten Wortwahl“ (!?) sei der Ruf nach einer Führungsfigur so zeitgemäß wie ein Stummfilm. Im Übrigen handele es sich um einen Generationenkonflikt – Kahn und seine Mitstreiter seien alle ehemalige Leitwölfe, die den eigenen Bedeutungsverlust fürchteten. Aaaha. Das ist natürlich hanebüchener Unsinn, denn ihren Platz in der Hall of Fame haben die ehemaligen Leitwölfe sicher, ganz egal wohin sich der Fußball entwickelt; im Gegenteil, wenn er keine neuen Leitwölfe mehr hervorbringt, haben die alten ihren herausgehobenen Platz in der Geschichte noch exklusiver. Zudem ist die Selbstsucht-These eine unverschämte Unterstellung und ein klassisches argumentum ad hominem, ein logischer Fehlschluss – könnten die ehemaligen Leitwölfe doch trotz der vermuteten Selbstsucht richtig liegen. Und überhaupt sei, so Herrmann, die ganze Debatte typisch deutsch (läuft es erstmal rund, fängt einer Streit an, kennt man ja...). Nun, typisch für die deutsche Presseberichterstattung in Fußballfragen ist jedenfalls sein Standpunkt, nämlich in seiner kritik- und distanzlosen Glorifizierung und Überhöhung des momentan erfolgreichen Modells.
Als Beweis für die Überlegenheit des „antiautoritären Jugendstils“ werden uns neben der Nationalelf noch der FC Barcelona und das „Gesamtkunstwerk Borussia Dortmund“ präsentiert, dass „an guten Tagen“ ähnlich wie Barcelona funktioniere. Nun gibt es aber nicht nur gute Tage. Es ist wohl unverzichtbar, ein System zu haben, aber was, wenn es mal nicht funktioniert? In einer Liga ist das kein Problem, da kann man sieben schlechte Spiele mit 27 guten ausgleichen. Aber wenn es insgesamt nur sechs Spiele gibt (wie in der Europa League) oder gar nur eines (wie im DFB-Pokal), muss schneller eine Lösung her. Dass das Gesamtkunstwerk unter solchen Umständen Probleme bekommen kann, haben wir letztes Jahr gesehen. Wenn mal das System nicht greift, kann es nicht schaden, einen Spieler dabei zu haben, der eine Idee zur Verbesserung hat und diese Kraft seiner Autorität schnell kommunizieren und durchsetzen kann. Barcelona hat so jemanden, nämlich Xavi, den Herr Herrmann als Anti-Leitwolf darstellt. Dabei dürfte der Unterschied zu den Führungsspielern vergangener Tage eher ein stilistischer sein, nicht einer der Autorität. Es kann für Mannschaften sinnvoll sein, ihre hierarchische Struktur zu verbergen (als Geschäftsgeheimnis) und aus dem gleichen Grund, nämlich dem Gegner wettbewerbsrelevante Informationen vorzuenthalten, auch Führungssignale auf dem Platz möglichst unauffällig zu äußern. Ob und wen Xavi (oder jemand anders) in der Kabine oder im Mannschaftsbus instruiert, ist von außen eben kaum zu beurteilen.
Nicht eingegangen wird leider auf die Tatsache, dass bei der diesjährigen Fußball-WM Bundestrainerin Silvia Neid mit ihrer Kollektiv-Ideologie eine ziemliche Bruchlandung hingelegt hat – trotz Heimvorteil, einer vergleichsweise hohen Massen-Begeisterung und einer vorzüglichen Ausstattung mit spielerischer Qualität. Es wäre schade (und angesichts des „Dritte Plätze sind etwas für Männer“-Hochmuts auch eine Ironie der Geschichte), wenn die notwendigen Lehren aus dieser Pleite nicht gezogen würden, weil sie von der Begeisterung für die derzeitigen Leistungen der Männer-Nationalmannschaft überstrahlt wird.
Die von Herrn Herrmann gezeigte Geisteshaltung ist genau der Grund dafür, dass jedem Sieg und jedem Erfolg auch der Keim kommender Niederlagen und Misserfolge innewohnt. Zum Einen motiviert die Aussicht, zum zweiten Mal Weltmeister zu werden, einen Spieler nicht so sehr wie die Aussicht auf den ersten Titel. Zum anderen sonnt man sich gerne im Erfolg und auch der Selbstzufriedenheit, die Herr Herrmann in der deutschen Fußballwelt zur Zeit vermisst. Die Selbstzufriedenheit führt dazu, dass man das eigene Erfolgsmodell für das Ende der Geschichte hält. In Deutschland gab es diese fußballbezogene Selbstzufriedenheit zuletzt nach dem WM-Sieg 1990, als ein Herr Beckenbauer sich zu der Aussage verstieg, Deutschland werde „auf Jahre hinaus nicht zu schlagen“ sein. Bis zur ersten Pflichtspiel-Niederlage gegen Wales (!) dauerte es nicht ganz Jahr. Genau zwei Jahre nach dem Titelgewinn traf man bei der EM auf Dänemark, das eigentlich nicht für das Turnier qualifiziert war und nur durch die kriegsbedingte Verbannung Jugoslawiens nachgerückt war. Die Dänen, die kurzfristig aus dem Urlaub angereist waren und kaum Vorbereitungszeit hatten, besiegten den vermeintlich unbesiegbaren Weltmeister. Es war der Beginn eines langen Abstiegs, der (nach einem Zwischenhoch 1996) seinen Tiefpunkt erst bei den Europameisterschaften 2000 und 2004 erreichte. So viel zur Freude an sich selbst und ihren langfristigen Gefahren.
Den wirklichen Knaller, einen argumentationslogischen Offenbarungseid und eine Pointe auf den gesamten Artikel, liefert uns Herr Herrmann am Ende seines Textes: „Und der Leitwolf Kahn hat im WM-Finale 2002, als es wirklich ernst wurde, ... daneben gegriffen. Daran muss man vielleicht auch mal erinnern.“ Abgesehen davon, dass Deutschland ohne Kahn und Ballack, die „Leitwölfe“, (und natürlich ein unfassbares Losglück) wohl nie ins Finale gekommen und es somit auch nie „wirklich ernst“ geworden wäre: Widerlegt ein individueller Fehler die „Leitwolf-Theorie“ oder den, der sie äußert? Wohl kaum. Der Autor stellt hier implizit eine schräge Verbindung zwischen Führungsqualität und individueller Perfektion (sowie auch zwischen Wahrheitsgehalt der Leitwolf-Theorie und der Leitwolf-Eignung ihres Verfechters) her und insinuiert in wiederum lupenreiner ad-hominem-Manier: wer nicht fehlerfrei Fußball spielen kann, hat Unrecht. Nach dem gleichen Muster könnte man sagen: Oliver Kahn ist ein viel besserer Torwart als Boris Herrmann, und deshalb hat Kahn Recht mit seiner These. Ob Herrn Herrmann klar ist, auf welchem Niveau er sich bewegt?
Vielleicht haben aber auch einfach beide Seiten, sowohl Sammer und Kahn als auch ihre Kritiker, Unrecht, und die ersehnten bzw. verwünschten Führungsfiguren gibt es auch in Deutschland längst.
Gleich zu Beginn eine Warnung: der folgende Beitrag hat mit der eigentlichen Ausrichtung dieses Blogs nichts zu tun. Es geht um ... Fußball! Der Text handelt nicht von Politik (und ist vielleicht trotzdem schief). Vielleicht verschafft er aber dem einen oder anderen trotzdem etwas Zerstreuung. Also los.
Boris Herrmann, offenbar Sportredakteur bei sueddeutsche.de, ist ein Zeitgeist-Surfer. Eigentlich benutze ich dieses Wort nicht, denn es ist besudelt durch den Versuch von (vermeintlichen) Konservativen, es zur Diskreditierung eines nachhaltigen Wertewandels zu missbrauchen. Aber für Herrn Herrmann mache ich eine Ausnahme, einfach weil es genau ins Schwarze trifft. Mit seinem Artikel „Leitwölfe im modernen Fußball – So zeitgemäß wie ein Stummfilm“ hat er ein besonders schlechtes (und daher auch wieder gutes, weil lehrreiches) Beispiel für einen Debatten-Beitrag abgeliefert.
Der Artikel beginnt mit einem Lobgesang auf den deutschen (Männer-)Fußball und seine derzeitigen Erfolge. Als Kronzeuge wird der spanische Weltmeister-Trainer Vicente del Bosque angeführt. Dass dessen Lobhudelei Methode haben könnte, weil Spanien als amtierender Welt- und Europameister ganz unweigerlich als Favorit in die nächsten Turniere geht und von diesem schwarzen Peter gerne etwas abgeben würde, kommt dem Autor anscheinend nicht in den Sinn. Es darf daran erinnert werden, dass vor dem letztjährigen WM-Halbfinale (nach zwei deutschen Kanter-Siegen) spanische Zeitungen martialisch-düstere Titel wie „Deutschland macht Angst“ oder „Deutschland ist eine perfekte Maschine“ ersannen, bevor diese „Maschine“ dann von Spanien stillgelegt wurde.
Im Folgenden wundert sich der Autor darüber, warum die deutsche Fußballwelt über die Rolle von Führungsspielern und „längst widerlegte Autoritätsmuster“ diskutiert, anstatt sich „ausgiebig über sich selbst [zu] freuen“. Das wirft zwei Fragen auf: Was ist passiert? Und: Gibt es wirklich Grund zur Freude?
Beginnen wir mit der Freude: Es ist unbestreitbar, dass es in den letzten Jahren eine Flut von jungen Talenten, also einen Zugewinn von spielerischer Qualität gegeben hat. Deutschland ist amtierender Vize-Europameister und WM-Dritter und bei den letzten drei Weltmeisterschaften erst gegen den späteren Titelträger ausgeschieden. Die Nationalmannschaft hat viele junge Spieler, die bereits internationale Turnier-Erfahrung haben und denen ein immer noch großes Entwicklungspotenzial bescheinigt wird. Kaum ein Land hat eine so homogen besetzte und spannende nationale Liga, wie sie die Bundesliga ist. Der Fußball hat sich überall weiter entwickelt, und wenn Deutschland in manchen Bereichen Defizite hatte, konnte es die Lücke zumeist schließen. Das weckt Erwartungen, ja, es schürt Titel-Hoffnungen.
Andererseits: von welchem Land sollte man das erwarten können, wenn nicht von Deutschland? Natürlich läuft es zur Zeit besser als noch vor zehn Jahren, aber das sollte mehr Anlass zur Erleichterung denn zur Freude sein, denn das kann doch wohl nicht der Maßstab sein. Der DFB ist der größte nationale Fußball-Verband der Welt und schöpft daher aus dem größten Talente-Fundus, und nur in wenigen Ländern wird ähnlich viel Aufwand für den Fußball betrieben wie hier, sei es an medizinischer Betreuung, Spieler-Ausbildung oder Wissens-Erwerb über kommende Gegner oder System und Taktik im Allgemeinen. Gemessen an der Ausstattung mit Ressourcen, ja, mit Produktionsfaktoren muss man sagen: wenn es auch nur ein Land gibt, dass angesichts seiner Möglichkeiten dauerhaft in die Weltspitze des Fußballs gehört, dann ist es Deutschland. Dass es da über viele Jahre nicht war, deutet auf einen relativen Defekt im Kombinationsprozess hin, den zu erforschen und abzustellen nun auch Zeit genug war. Zur Selbstzufriedenheit besteht angesichts des noch vorhandenen Rückstands auf Spanien (aber auch die Niederlande) überhaupt kein Anlass.
Zur anderen Frage: Was ist passiert? Oliver Kahn hat jetzt ein Blog und in einem Eintrag einen Mangel an Führungsspielern, an Leitwölfen beklagt, und zwar insbesondere beim FC Bayern. Damit scheint er einen Nerv getroffen zu haben, denn alle deutsche Fußballprominenz sah sich zu Stellungnahmen veranlasst, zu ablehnenden aber auch zustimmenden. Was wir von Herrn Herrmann leider nicht erfahren: vor einigen Wochen hat sich Matthias Sammer in einem Rundumschlag in ähnlicher Weise, nur etwas grundsätzlicher dazu geäußert, dass man bei aller Modernitäts-Euphorie nicht die traditionellen eigenen Stärken aus dem Blick verlieren sollte. Tenor: irgendwann werden wir Spanien schlagen, aber wir werden sie nie und nimmer an die Wand spielen.
Für Boris Herrmann ist dagegen die Sache klar: es gibt nur noch Kollektiv- und System-Fußball mit flachen Hierarchien und „ganz unabhängig von der historisch belasteten Wortwahl“ (!?) sei der Ruf nach einer Führungsfigur so zeitgemäß wie ein Stummfilm. Im Übrigen handele es sich um einen Generationenkonflikt – Kahn und seine Mitstreiter seien alle ehemalige Leitwölfe, die den eigenen Bedeutungsverlust fürchteten. Aaaha. Das ist natürlich hanebüchener Unsinn, denn ihren Platz in der Hall of Fame haben die ehemaligen Leitwölfe sicher, ganz egal wohin sich der Fußball entwickelt; im Gegenteil, wenn er keine neuen Leitwölfe mehr hervorbringt, haben die alten ihren herausgehobenen Platz in der Geschichte noch exklusiver. Zudem ist die Selbstsucht-These eine unverschämte Unterstellung und ein klassisches argumentum ad hominem, ein logischer Fehlschluss – könnten die ehemaligen Leitwölfe doch trotz der vermuteten Selbstsucht richtig liegen. Und überhaupt sei, so Herrmann, die ganze Debatte typisch deutsch (läuft es erstmal rund, fängt einer Streit an, kennt man ja...). Nun, typisch für die deutsche Presseberichterstattung in Fußballfragen ist jedenfalls sein Standpunkt, nämlich in seiner kritik- und distanzlosen Glorifizierung und Überhöhung des momentan erfolgreichen Modells.
Als Beweis für die Überlegenheit des „antiautoritären Jugendstils“ werden uns neben der Nationalelf noch der FC Barcelona und das „Gesamtkunstwerk Borussia Dortmund“ präsentiert, dass „an guten Tagen“ ähnlich wie Barcelona funktioniere. Nun gibt es aber nicht nur gute Tage. Es ist wohl unverzichtbar, ein System zu haben, aber was, wenn es mal nicht funktioniert? In einer Liga ist das kein Problem, da kann man sieben schlechte Spiele mit 27 guten ausgleichen. Aber wenn es insgesamt nur sechs Spiele gibt (wie in der Europa League) oder gar nur eines (wie im DFB-Pokal), muss schneller eine Lösung her. Dass das Gesamtkunstwerk unter solchen Umständen Probleme bekommen kann, haben wir letztes Jahr gesehen. Wenn mal das System nicht greift, kann es nicht schaden, einen Spieler dabei zu haben, der eine Idee zur Verbesserung hat und diese Kraft seiner Autorität schnell kommunizieren und durchsetzen kann. Barcelona hat so jemanden, nämlich Xavi, den Herr Herrmann als Anti-Leitwolf darstellt. Dabei dürfte der Unterschied zu den Führungsspielern vergangener Tage eher ein stilistischer sein, nicht einer der Autorität. Es kann für Mannschaften sinnvoll sein, ihre hierarchische Struktur zu verbergen (als Geschäftsgeheimnis) und aus dem gleichen Grund, nämlich dem Gegner wettbewerbsrelevante Informationen vorzuenthalten, auch Führungssignale auf dem Platz möglichst unauffällig zu äußern. Ob und wen Xavi (oder jemand anders) in der Kabine oder im Mannschaftsbus instruiert, ist von außen eben kaum zu beurteilen.
Nicht eingegangen wird leider auf die Tatsache, dass bei der diesjährigen Fußball-WM Bundestrainerin Silvia Neid mit ihrer Kollektiv-Ideologie eine ziemliche Bruchlandung hingelegt hat – trotz Heimvorteil, einer vergleichsweise hohen Massen-Begeisterung und einer vorzüglichen Ausstattung mit spielerischer Qualität. Es wäre schade (und angesichts des „Dritte Plätze sind etwas für Männer“-Hochmuts auch eine Ironie der Geschichte), wenn die notwendigen Lehren aus dieser Pleite nicht gezogen würden, weil sie von der Begeisterung für die derzeitigen Leistungen der Männer-Nationalmannschaft überstrahlt wird.
Die von Herrn Herrmann gezeigte Geisteshaltung ist genau der Grund dafür, dass jedem Sieg und jedem Erfolg auch der Keim kommender Niederlagen und Misserfolge innewohnt. Zum Einen motiviert die Aussicht, zum zweiten Mal Weltmeister zu werden, einen Spieler nicht so sehr wie die Aussicht auf den ersten Titel. Zum anderen sonnt man sich gerne im Erfolg und auch der Selbstzufriedenheit, die Herr Herrmann in der deutschen Fußballwelt zur Zeit vermisst. Die Selbstzufriedenheit führt dazu, dass man das eigene Erfolgsmodell für das Ende der Geschichte hält. In Deutschland gab es diese fußballbezogene Selbstzufriedenheit zuletzt nach dem WM-Sieg 1990, als ein Herr Beckenbauer sich zu der Aussage verstieg, Deutschland werde „auf Jahre hinaus nicht zu schlagen“ sein. Bis zur ersten Pflichtspiel-Niederlage gegen Wales (!) dauerte es nicht ganz Jahr. Genau zwei Jahre nach dem Titelgewinn traf man bei der EM auf Dänemark, das eigentlich nicht für das Turnier qualifiziert war und nur durch die kriegsbedingte Verbannung Jugoslawiens nachgerückt war. Die Dänen, die kurzfristig aus dem Urlaub angereist waren und kaum Vorbereitungszeit hatten, besiegten den vermeintlich unbesiegbaren Weltmeister. Es war der Beginn eines langen Abstiegs, der (nach einem Zwischenhoch 1996) seinen Tiefpunkt erst bei den Europameisterschaften 2000 und 2004 erreichte. So viel zur Freude an sich selbst und ihren langfristigen Gefahren.
Den wirklichen Knaller, einen argumentationslogischen Offenbarungseid und eine Pointe auf den gesamten Artikel, liefert uns Herr Herrmann am Ende seines Textes: „Und der Leitwolf Kahn hat im WM-Finale 2002, als es wirklich ernst wurde, ... daneben gegriffen. Daran muss man vielleicht auch mal erinnern.“ Abgesehen davon, dass Deutschland ohne Kahn und Ballack, die „Leitwölfe“, (und natürlich ein unfassbares Losglück) wohl nie ins Finale gekommen und es somit auch nie „wirklich ernst“ geworden wäre: Widerlegt ein individueller Fehler die „Leitwolf-Theorie“ oder den, der sie äußert? Wohl kaum. Der Autor stellt hier implizit eine schräge Verbindung zwischen Führungsqualität und individueller Perfektion (sowie auch zwischen Wahrheitsgehalt der Leitwolf-Theorie und der Leitwolf-Eignung ihres Verfechters) her und insinuiert in wiederum lupenreiner ad-hominem-Manier: wer nicht fehlerfrei Fußball spielen kann, hat Unrecht. Nach dem gleichen Muster könnte man sagen: Oliver Kahn ist ein viel besserer Torwart als Boris Herrmann, und deshalb hat Kahn Recht mit seiner These. Ob Herrn Herrmann klar ist, auf welchem Niveau er sich bewegt?
Vielleicht haben aber auch einfach beide Seiten, sowohl Sammer und Kahn als auch ihre Kritiker, Unrecht, und die ersehnten bzw. verwünschten Führungsfiguren gibt es auch in Deutschland längst.