Hin und wieder werde ich gefragt, ob ich das, was ich meinen Leserinnen und Lesern hier in diesem Kurs empfehle, auch selbst praktiziere. Und in einer Zeit, in der Glaubwürdigkeit immer wichtiger wird, ist das eine durchaus berechtigte Frage. Meine ehrliche Antwort darauf: Nicht immer, aber immer öfter.
Ja, ich bin auch nur ein Mensch, und manchmal kann ich den Kerl, den ich da im Spiegel sehe, einfach nicht ausstehen. Immer mal wieder ertappe ich mich dabei, dass ich mich ganz anders verhalte, als ich es mir eigentlich vorgenommen hatte. Und es kommt auch vor, dass ich vergesse, auf mich selbst, mein Umfeld, meine Gedanken, Worte, Gefühle und Handlungen zu achten. Inzwischen bin ich aber wach genug, um an der Wirkung sehr schnell erkennen zu können, dass ich mich wieder auf meinen Weg besinnen sollte. Dafür übernehme ich dann bewusst die Verantwortung, und in fast allen Fällen ist eine Berichtigung leicht möglich.
Du siehst, ich kann in Sachen Selbstwertgefühl und Achtsamkeit auch noch viel lernen und vor allem tun. Und deshalb habe ich mich entschlossen, mich immer mehr vom Wegweiser – der ja immer an einem Fleck stehen bleibt und deshalb eigentlich gar keine Ahnung hat, was zwischen ihm und dem Ziel, das er anzeigt, wirklich los ist – zum Wegbegleiter zu entwickeln. Ich werde alle Übungen mitmachen und hier im Blog dann über meine Erfahrungen berichten. Und heute mache ich den Anfang.
Der Weg ist das Ziel
Während Ulrike es vorzieht, noch ein wenig im warmen Bett zu bleiben, mache ich mich auf, um die herrlichen Morgenstunden zu genießen. Im Haus ist noch alles ruhig und ich gehe auf leisen Sohlen die Treppe hinunter in den Keller. Draußen dämmert es gerade, als ich vorsichtig das Garagentor öffne, um niemanden zu wecken. Dann öffne ich die Wagentür und steige ein. Kaum habe ich es mir im Sitz gemütlich gemacht, erinnere ich mich an die Übung aus Schritt 1. Sitze ich wirklich bequem? Oder könnte ich daran noch etwas verbessern? Während ich so in meinen Körper hineinspüre, merke ich, dass die Sitzeinstellung wirklich nicht 100-prozentig passt. Und da fällt mir ein, dass ich ihn vor einiger Zeit ein wenig nach vorne gerückt hatte, um einem Mitfahrer auf der Rückbank mehr Beinfreiheit zu verschaffen. Nur ein winziges Stück zurückgesetzt und schon verbessert sich das Gefühl enorm. Ich habe die ideale Sitzposition gefunden. Meine Beine lassen sich nun wieder gut ausstrecken und auch das Lenkrad und die Instrumente kann ich nun viel entspannter erreichen und bedienen. Dann noch die Spiegel neu justiert und es kann losgehen.
Bevor ich den Motor starte mache ich mir meine Absicht bewusst: Ich beabsichtige konzentriert unterwegs zu sein und entspannt und sicher an meinem Ziel anzukommen. Dabei lasse ich das Gefühl der Geborgenheit und die Vorfreude in mir aufsteigen. Kupplung, Bremse, Zündung, Rückwärtsgang, Gas. Langsam fahre ich auf den Hof, steige noch einmal aus, um das Tor zu schließen. Einsteigen, Anschnallen, Starten. Ich bin auf dem Weg.
Eine Nachbarin kratzt eine dünne Reifschicht von ihren Autoscheiben und ich bin einmal mehr unendlich dankbar dafür, dass unser Wagen sicher und geschützt in seiner Garage stehen kann. Im Autoradio läuft das Sonntagskonzert. Im Moment spielen die London Mozart Players eine Sinfonie von Carl Stamitz. Die beschwingten Töne der Streicher begleiten mich auf meiner Fahrt durch die ruhigen Straßen von Ringsheim. Als ich den Ort Richtung Norden verlasse erscheint die Sonne über den Schwarzwaldvorbergen, taucht die erwachende Landschaft in goldenes Licht und verzaubert die frisch gepflügten Äcker und sanften Wiesen links und rechts der B3. Unzählige Reifkristalle verleihen diesem Morgen einen ganz besonderen Glanz und ich nehme die Schönheit ganz tief in mich auf.
Nur gut 10 Minuten dauert die Fahrt, die mich auch durch die Orte Grafenhausen und Kappel führt, wo der Narrenverein „Rhinschnooge“ schon alles für seinen großen Umzug zum 55-jährigen Jubiläum vorbereitet hat. Von Straßenseite zu Straßenseite wurden an den Giebeln der Häuser Seile gespannt und mit bunten Stofffetzen und dreieckigen Wimpeln verziert. Jetzt im Morgenlicht leuchten die Farben besonders kräftig und zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich fühle mich rundum wohl und glücklich, während ich die ruhige Fahrt genieße.
Du siehst, zu einer achtsamen Autofahrt gehört für mich weit mehr als Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer – vor allem Radfahrer und Fußgänger – zu nehmen, genügend Abstand zu halten, den Schilderwald im Blick zu behalten und Regeln zu befolgen. Das ist für mich selbstverständlich. Wovon ich spreche, ist vielmehr die Möglichkeit, das Fahren selbst und die Strecke mit allen Sinnen zu erleben, die Schönheit jedes einzelnen Augenblicks zu erfassen und dabei vollkommen entspannt im Hier und Jetzt zu bleiben und das eigene Auto und die Umgebung sogar einmal ganz anders zu erleben. Und nebenbei erhöht das auch die eigene Sicherheit und die der anderen enorm.
Hinter Kappel biege ich in einen Waldweg ein, den fleißige Arbeiter erst vor Kurzem ausgebessert haben, wie ich erfreut bemerke. Nach wenigen Metern erreiche ich einen Parkplatz. Ich bin am Ziel – und gleichzeitig am Start. Denn hier beginne ich meinen achtsamen Spaziergang, über den ich Dir in den nächsten Tagen berichten werde. Dann allerdings mit weniger Worten, dafür aber mit ein paar schönen Bildern.
Bis dahin wünsche ich Dir eine schöne Zeit,
Dein Jürgen