Diese Woche ging es ja um unsere Sinne, und wenn Du mich fragst, auf welchen davon ich am wenigsten verzichten möchte, dann entscheide ich mich ganz klar für das Sehen. Es gibt so viel Schönes, an dem ich mich wohl nie satt sehen kann. Mit den Augen kann ich über die Felder streifen, die Berge hinaufklettern, durch die Zeit reisen, durch das Land und den Weltraum fliegen und Körbe voll Informationen sammeln. Viele von den Dingen, die ich am liebsten tue, haben direkt mit dem Sehen zu tun: So gehört zum Beispiel das Lesen seit frühester Kindheit zu meinen größten Freuden und schon immer waren das Zeichnen und Fotografieren meine wichtigsten Ausdrucksmittel. Auch beim Schreiben bemühe ich mich um eine möglichst bildhafte Sprache, denn “ein Bild sagt mehr als tausend Worte”, wie die Chinesen sagen.
Du siehst, ich bin ein Augenmensch und verstehe die Welt hauptsächlich dadurch, dass ich sie sehe. Und vielleicht habe ich gerade deshalb eine interessante Entdeckung gemacht, als ich die Übung durchführte, mit deren Hilfe ich demonstrieren wollte, wie sehr Farben unsere Gefühle und Stimmungen beeinflussen können. Du erinnerst Dich bestimmt an das Video mit den Regenbogenfarben in Schritt 3.
Neben den unterschiedlichen Empfindungen, körperlichen Reaktionen (das Gelb zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht) und Gedanken zu den Farben fiel mir eines besonders auf. Nämlich wie sehr die Wahrnehmung einer Farbe davon beeinflusst wird, welche andere Farbe man vorher gesehen hat. Nun ist es natürlich schwierig, das eigene Farbempfinden zu beschreiben. Solche Eindrücke sind immer subjektiv. Doch vielleicht kannst Du das Folgende bestätigen.
Nehmen wir die Farbe Gelb. Am Anfang des Videos, an dem Rot und Orange vor dem Gelb erschienen und sich dem Auge eingeprägt hatten, wirkte das Gelb auf mich grünlich, also mehr wie eine noch nicht ganz reife Zitrone. Ganz anders dagegen zum Ende hin, als das Gelb nach Hellblau und Grün kam. Da strahlte es so richtig sonnengelb vom Bildschirm. Jedenfalls habe ich das so gesehen.
Nun bin ich jemand, der gerne die Wichtigkeit des Hier und Jetzt betont. Und das tue ich gerade jetzt in den ersten Kurswochen ganz besonders, wo es um Achtsamkeit in allen Bereichen geht. Die Vergangenheit ist vorbei und das Morgen noch ungewiss. Alles, was wirklich greifbar ist, ist der gegenwärtige Augenblick. Nur in ihm können wir etwas tun. Nur in ihm sind wir wirklich lebendig.
So weit, so richtig. Doch die soeben beschriebene Erfahrung zeigt auch deutlich, dass alles, was vorher war, diesen Moment beeinflusst, den ich gerade erlebe. Und ich bin davon überzeugt, dass das nicht nur für Farben gilt. Wir können dieses Prinzip auf alles im Leben anwenden. Wenn ich mich gerade über etwas geärgert habe und “Rot sehe”, dann werde ich alles, was im Moment geschieht anders erleben, als wenn ich den “Blues” habe oder auf der rosaroten Wolke Sieben schwebe. Wenn ich vor kurzem einen Katastrophenbericht im Fernsehen verflolgt habe, werde ich die Welt anders betrachten, als wenn ich gerade vom Tanzen komme.
Es gibt diesen schönen Satz von Marc Aurel: “Die Seele hat die Farbe deiner Gedanken.” Und da ist wirklich viel dran. Doch sie hat eben nicht nur die Farbe unserer derzeitigen Gedanken, sondern ist abhängig von der Farbe früherer Überzeugungen und Glaubenssätze, die noch in uns schlummern, und die wir uns morgen und in der kommenden Woche genauer ansehen werden. Denn im nächsten Schritt geht es um unsere Gedanken.
Bis dahin noch eine farbenfrohe Zeit,
Dein Jürgen
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