Erdenberger/Preger: Geheimakte Leonardo da Vinci

Erdenberger/Preger: Geheimakte Leonardo da Vinci

“In Verrocchios Werkstatt” – Klassengestaltung der 2A.

Habent sua fata libelli (1) – so sagte man über die Schicksale der Bücher. Und manchmal hat man das Gefühl, ein Buch spiele seinerseits Schicksal. So in diesem Fall:
Im Sommer stieß ich zufällig in der Ramschkiste vor der Thalia-Filiale in Wien Landstraße auf das Buch „Geheimakte Leonardo da Vinci“, das nun plötzlich statt 20 nur noch 5 Euro kostete. Sofort schoss es mir durch den Kopf: Das wäre die ideale Klassenlektüre für die zweite Klasse des Musischen Gymnasiums (das sind SchülerInnen im Altern von elf bis zwölf Jahren). Ich kaufte ein Exemplar und las es, um festzustellen, ob es wirklich geeignet wäre. Es war.
Also bestellte ich einfach 20 Exemplare, obwohl noch Sommerferien waren und ich überhaupt nicht sicher wusste, ob ich die erste Klasse im nächsten Jahr als zweite weiterführen oder ob ich sie einer angekündigten Probelehrerin überlassen musste, der ich diese Klassenlektüre nicht aufzwingen wollte. Notfalls müsste ich eben in Kunsterziehung ein Buch lesen…
Doch gleich kam die Enttäuschung: Bei Thalia gab es keine 20 Exemplare mehr.
Ein, zwei Wochen später schickte Jokers einen Katalog, und was sehe ich? Das Leonardo-Buch, ebenfalls um 5 Euro. Und bei Jokers kann man anfragen, ob es noch genug Exemplare gibt. Es gab.
So konnte ich schon am ersten Schultag die 2A mit der neuen Klassenlektüre überraschen. Die Probelehrerin hatte sich Gott sei Dank in Luft aufgelöst, sodass wir ungehindert in die Welt der Renaissance eintauchen konnten. Die Schülerinnen und Schüler der Klasse waren nicht weniger begeistert als ich.

Während der ersten Schulwochen arbeitete sich die Klasse also mit diesem Kinder-Sachbuch durch Leben und Werk Leonardo da Vincis. Die Handlungsidee dieses zum Teil erzählenden Sachbuchs ist folgende: Ein Schüler, zufällig namens Leo, dessen etwas ungelenken Brief man zu Anfang liest, ersucht einen Detektiv um Hilfe, weil er in Geschichte eine Präsentation über Leonardo machen soll. Und der Detektiv XY liefert nun im Rest des Buches eine Fülle an Informationen. Manchmal erzählt er einfach von seinen Recherchen, bei denen ihm immer wieder ein chimärenhafter älterer Herr begegnet, der erstaunlich detailliert über Leonardo Bescheid weiß und ihm auch überraschend ähnlich sieht – und der dann im Handumdrehen wieder spurlos verschwindet… Herr XY stellt aber auch viel Sachinformation zusammen: einen Steckbrief des Meisters, viele, viele Abbildungen der Werke Leonardos, sodass der Leser am Schluss einen guten Gesamteindruck von Leonardos Schaffen hat; Informationen über die damalige Zeit, über die Arbeitsweise der Künstler, über die Werkstatt von Andrea Verrocchio, bei dem Leonardo in die Lehre ging, über Leonardos naturwissenschaftlichen Studien und technischen Erfindungen, und besonders genau behandelt er das „Rätsel“ der „Mona Lisa“, die „Felsengrottenmadonna“ und das „Letzte Abendmahl“. Durchs ganze Buch ziehen sich Rätselaufgaben, die am Schluss zu Auflösung eines „Da-Vinci-Codes“ führen.
Stilistisch war das Buch für meine Elf- bis Zwölfjährigen eine ziemliche Herausforderung, was aber Gelegenheit gab, über manche unbekannten Wörter erklärende Informationen einfließen zu lassen.
Beim abschließenden Feedback kam jedenfalls klar heraus: Allen hat das Buch gut gefallen, sowohl inhaltlich wie auch von der Gestaltung her. Das Buch ist eine hervorragende Hinführung für 12 – 14jährige zu einem der größten Künstler.

In Kunsterziehung malten wir als Klassendekoration das Wandbild „Die Werkstatt Andrea Verrocchios“, in der jede Schülerin und jeder Schüler sich selbst bei einer künstlerischen Tätigkeit abbilden konnte.
Höhepunkt unserer Beschäftigung mit Leonardo war dann ein von mir geschriebenes 15-Minuten-Theaterstück über die Entstehung von Leonardos „Abendmahl“, das die Klasse bei einem Klassenabend mit großem Können und voller Begeisterung aufführte – und dafür viel Applaus und Lob erntete. Die Anregung dazu gab ein anderes Buch-Schicksal, über das ich bereits berichtet habe: Goethes Aufsatz über Bossis „Abendmahl“.
All das nur, weil das Schicksal den Prestel-Verlag dazu bestimmte, sein Leonardo-Kinderbuch in den Ramsch zu geben…

Ralph Erdenberger, Sven Preger: Geheimakte Leonardo da Vinci. Prestel-Verlag, Mänchen u. a. 2010. 111 Seiten.

1) „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“ – „Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Büchlein ihre Schicksale“.
Gewöhnlich wird der Satz in diesem Sinne gebraucht: Ein Text kann nur so viel Sinn oder Aussage vermitteln, wie der jeweilige Leser überhaupt zu erfassen bereit oder in der Lage ist. Denkbar ist aber genauso: Je nach Zeit und Umständen werden Bücher unterschiedlich ‘gelesen’, das heißt verstanden und instrumentiert.
Das Dictum lässt sich auch so verstehen: Das Buch selbst (nicht nur sein gedeuteter Inhalt) hat ein bewegtes Schicksal – je nach dem, in wessen Händen es sich befindet. – So die Wikipedia über das lateinische Sprichwort des Terentianus Maurus. Allen drei Deutungen könnte ich im Lichte meiner Erfahrungen mit dem Leonardo-Buch einiges abgewinnen.



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