Es stellte sich heraus, dass die beiden im hektischen Alltag kaum Zeit füreinander hatten, sich also kaum je wirklich begegneten. Einer der wenigen kurzen Momente sei der Gutenachtkuss. Das Paar war einverstanden, dieses Verhalten näher zu erforschen. Deshalb schlug ich ein Experiment vor. „Können Sie sich vorstellen, einander fünf Minuten lang zu umarmen, ohne sich körperlich anzustrengen; vor dem Gutenachtkuss, sagen wir zweimal pro Woche? Es geht darum, einander Nahe zu sein und sich dabei möglichst zu entspannen. Arme und Hände liegen ruhig auf dem Körper des anderen. Streicheln oder andere sinnlich-erotische Aktivitäten sind nicht vorgesehen. In der nächsten Sitzung sprechen Sie dann miteinander über Ihre Erfahrungen, vorher nicht.“ Es war mir klar, dass eine fünfminütige stille Umarmung eine Herausforderung darstellen kann. Deshalb war ich überrascht, als sich das Paar darauf einigte, den neuen Schritt bis zur nächsten Sitzung ein paar Mal auszuprobieren.
Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. An beide gerichtet hakte ich nach: „Was könnte Sie daran hindern, das Experiment auszuprobieren?“ Nun legten beide ihre Stirn in Falten und schauten mich skeptisch an. „Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihrem inneren Saboteur eine Stimme verleihen. Was müsste diese Stimme Ihnen zuflüstern, damit Sie auf die Umarmung verzichteten.“ Die Frau antwortete umgehend: „Er macht es bloss mir zuliebe! Wenn ich daran denke, dass er mich auf Kommando umarmt, dann löscht es mir ab. Entweder er macht das spontan oder er lässt es.“ Darauf fragte mich der Mann ernst, was er denn tun könnte, sollte seine Frau tatsächlich so reagieren. „Der Anspruch auf Spontaneität kann ein Stolperstein sein“, antwortete ich ihm. „Sagen Sie Ihrer Frau, dass Sie sie der Liebe zuliebe umarmen möchten.“
Etwas provokativ meinte ich zum Schluss noch: „Hat Sie nicht der jahrelange spontane Umgang miteinander in die Beratung geführt? Das hat wohl nicht gereicht. Deshalb wünsche ich Ihnen, dass sich die bewusste Pflege von intimer Nähe entlastend auf Ihre Kommunikation auswirkt.“